Wiener Straße. Ekstase im Herr-Lehmann-Spin-Off

Sven Regeners Romane leben durch das Prädikat „beruhend auf wahren Begebenheiten“ und sind im halbbiographischen, im von der Erinnerung (und fürs Storytelling) verzerrten Raum angesiedelt. Und lassen alte Menschen für ein paar hundert Seiten wieder jung und naiv durch die ihnen zugeteilte Phase von Welt- und Kulturgeschichte stolpern. In Wiener Straße trifft dies nun Extremkünstler im ebenfalls extremen Kreuzberg Anfang der 80er Jahre. Heraus kommt vielleicht keine große Geschichte, doch eine geschichtliche Vergrößerung, die bleiben wird.


Bei Sven Regener läuft es grad richtig gut. Mit Element of Crime hat er ja eh schon alles erreicht, was man sich vorgenommen hatte, aber auch seine Schriftstellerkarriere entwickelt ein immer bemerkenswerteres Eigenleben. Gerade erst erschien die Verfilmung seines 2013 veröffentlichten Romans Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt, die nicht zufällig kongenial ausfiel. Zum einen schafft es Regisseur Arne Feldhusen, einen grandiosen Schauspielerstab um Charly Hübner, Annika Meier und Bjarne Mädel zu versammeln. Zum anderen schrieb Sven Regener ja selbst das Drehbuch – das erste nach Hai-Alarm am Müggelsee. Und während noch alle im Kino saßen, erschien fast unbemerkt eine Woche später auch noch sein neuer Roman: Wiener Straße.

Wem gehört die Wiener Straße?

Worum geht’s? Wir befinden uns im Jahr 1981. Ganz Osteuropa wird in Abhängigkeit von der Sowjetunion sozialistisch regiert und unterdrückt systematisch nicht zuletzt seine Kulturlandschaften. Ganz Osteuropa? Nein, eine kleine Exklave aus Demokratie, Punk, freier Kunst und freiem Markt hält sich wacker hinter bunten Berliner Betonmauern. Genau dorthin hatte es ja Frank Lehmann, Regeners mehrfachen Romanhelden, in Der kleine Bruder verschlagen. Wiener Straße setzt nur wenige Tage später ein, als Erwin, Besitzer des Cafés Einfall, Frank Lehmann, Karl Schmidt sowie Erwins Cousine Chrissie eine Zwangs-WG über der Kneipe in der Wiener Straße gründen lässt – vor allem, damit sie nicht mehr bei ihm wohnen. Da die drei auch mit Jobs im Einfall versorgt werden, können sie sich eigentlich auf ein ruhiges, gesichertes Westberliner Leben einstellen, das bis Ende der 80er, bis Herr Lehmann, anhält. Ende der Geschichte.

Doch der Buchtitel birgt einen Doppelsinn, denn die Wiener Straße heißt nicht nur so, sondern wird, einschließlich ihrer Läden und Bewohner, von ein paar österreichischen Aktionskünstlern vereinnahmt. Diese heißen etwa P. Immel und H. R. Ledigt, und versuchen, mit Aktion und Provokation Aufmerksamkeit zu erzielen, die Grenzen der Kunst auszuloten. Der Roman begleitet sie dabei, macht unsere üblichen Verdächtigen bloß zu Rand- und Rahmenfiguren und fokussiert auf die Verquickung von Kunst- und Punkszene. Die frühen 80er greift Regener als eine Phase auf, in der zahlreiche Kunstschaffende aus dem Gefühl nach Berlin kommen, hier keinen Abschluss einer Kunsthochschule zu benötigen, um sich als Künstler zu etablieren, sondern mit ihrer Kunst selbst in der selbstverwalteten Szene Anerkennung finden können. Die Anlaufstellen dafür waren Kreuz- und Schöneberg, und wo könnte es österreichische Avantgarde-Künstler eher hinziehen als in die Wiener Straße?

Kreuzberger Kulturen im Hier und Damals

Und so diskutierte man eben nicht mehr in der Hochschule der Künste, sondern am physischen Objekt in der Kneipe, ob nun ein verbrannter Kuchen Kunst sei, wenn ein Künstler ihn dazu erhebt und in einer Vitrine ausstellt. Und ob dem Künstler nicht die Hälfte des Gewinns zusteht, wenn die Kneipenbedienung, die ihn immerhin ja auch gebacken hat, ihn in seiner Abwesenheit Stück für Stück verkauft. Aber als Kuchen, nicht als Kunst. Oder man tut so, als sei das Haus, in dem lebt besetzt, um das Fernsehen anzulocken, und verkleidet sich dann als Punks, damit sie überhaupt über einen berichten. Und die Grenzen der Kunst definiert man am besten direkt vor der Polizei mit einer Kettensäge.

Spannend an der Lektüre ist auch, zu betrachten, was aus dem Viertel wurde. Denn ein paar dieser Kneipen gibt es noch in der Wiener Straße und um sie herum – immerhin ist das Café Einfall, Angelpunkt der Story, nach Angaben Regeners recht konkret der Madonna Bar nachempfunden. Doch Konkurrenz machen ihm heute weniger die Avantgarde-Galerien in besetzten Häusern, sondern vegetarische Burgerläden, Unverpackt-Supermärkte oder Spätzle-Expresse. Und am Ende des kleinen Straßenblocks zwischen Görlitzer Park und Landwehrkanal, wo man heute so wunderbar in Farbrikloftetagen investieren kann, endete damals eben noch die westliche Welt.

Wiener Straße erschien im Galiani Verlag Berlin

Quelle: Instagram

Erzählerisch lebt der Roman vor allem durch seine Dialoge, die einerseits von glaubhaft abgebildeter jugendlicher Naivität profitieren, andererseits das Clash-Potenzial aus Wiener Schmäh und Berliner Schnauze ausnutzen. Dabei hat der Roman dramaturgisch durchaus Schwachstellen, denn dazu, wirklich Großes zu erleben, stehen sich die Charaktere selbst viel zu sehr im Weg. Sven Regeners Storytelling erinnert in dieser Hinsicht ein bisschen an Woody Allen, der ja manchmal auch einen ganzen Film für eine allzu kleine künstlerische Aussage benötigt und die Aufmerksamkeit seines Publikums ausreizt, dabei aber so wach erzählt, dass es wieder kurzweilig wird. Same here, denn Regener legt durch seine unruhigen Charaktere und raschen Perspektivwechsel Tempo und einen wachen Geist in die Geschichte, erzählt sie ruhelos und spannt einen Bogen, der, wenn er auch nicht übermäßig durchgebogen, doch immer noch sehr schön geschnitzt ist.

Wozu brauchen wir Sven Regener?

Was macht die Faszination dieser Settings aus? Kann man Sven Regener nun eigentlich vorwerfen, sich mit seinen halbbiographischen Settings und Plots einzugrenzen? Denn beispielsweise beim Debütroman Über uns der Schaum des Messer-Sängers Hendrik Otremba hoben ja zahlreiche Kritiker positiv hervor, dass jener debütromanuntypischerweise ohne autobiographische Elemente auskommt. Und objektiv betrachtet ist an der grundsätzlichen Kritik halbbiographischer Werke ja auch etwas dran: Immerhin klingt im Prädikat „beruht auf wahren Begebenheiten“ unterschwellig an, dass die Phantasie des Autors nicht für ein komplett fiktionales Werk gereicht hat, seine privaten Erlebnisse aber auch nicht spannend genug waren, um ein ganzes Buch zu füllen. Also fiktionalisiert man eben Zeit und Raum, in denen man gelebt hat und nutzt die Gelegenheit, sich und seine Perspektive auf die Welt vorzustellen. Und gleichzeitig abzubilden. Offenbar scheint es sich, wie in der Rezeption Otrembas deutlich wird, zum üblichen Karriereweg entwickelt zu haben, zunächst mit einem zumindest halbbiographischen Buch aufzufahren, bevor man seiner Phantasie mehr Raum gewährt.

Sven Regener nun geht einen dritten Weg und verortet gleich all seine Romane nicht nur im halb- bis viertelbiographischen, sondern sogar in ein und demselben Kosmos. Immerhin lässt er Frank Lehmann erst eine Jugend in Bremen Neue Vahr Süd, dann eine westdeutsche Wehrdienstzeit, seinen Umzug nach Berlin, die Akklimatisierung mit dem dortigen Lebensgefühl und dann einiges später die im Niedergang befindliche und ums Überleben ringende Kunst- und Freigeistszene Berlins kurz vor der Wende nachvollziehen, also seine eigenen biografischen Eckdaten abklappern. Für den etwas erwachseneren und nüchterneren Blick auf die Technoszene der 90er wählt er dann geschickt anhand der bisherigen Charakterentwicklung als Protagonisten, den gescheiterten und am Leben verzweifelten Künstler Karl Schmidt. Kann man Regener dies vorwerfen?

Für immer Sven Regener

Nein. Mit seinen Romanen verfolgt er ein anderes Anliegen als sich die großen Geschichten dieser Welt auszudenken. Viel lieber baut er seiner Zeit in der Welt Denkmäler und stellt sicher, dass etwas bleibt vom Lebensgefühl junger Künstler Anfang der 80er, vom den Überlebenskünstlern im Hoch- und Niedergang der Berliner Subkulturen von Neuer Deutscher Welle bis Techno. Und gibt sich demütig, denn er weiß genau, dass er nicht der erfolgreiche Musiker hätte werden müssen, der er wurde, sondern auch heute noch selbst im Café Einfall kellnern könnte.

Im Prinzip stellt Regener wieder und wieder eine Sache klar: Die Figuren in seinen Romanen oder seinem persönlichen Umfeld mögen verrückt sein – vermutlich nimmt er sich selbst da auch nicht heraus –, doch die Welt, die ihnen begegnet, ist noch viel verrückter. Man kann diesseits der Mauer ungeschadet Aussichtsplattformen in Stücke sägen, um seine neue Kettensäge auszuprobieren, jenseits derselben jedoch auch mit einem westdeutschen Reisepass ernsthafte Probleme bekommen, wenn dieser seit ein paar Tagen abgelaufen ist. Die Bitterkeit des Romans wird noch deutlicher, liest man ihn zum Beispiel parallel zu Thomas Brussigs Am kürzeren Ende der Sonnenallee, der fast zur selben Zeit ein paar im Grunde ähnliche Charaktere die Ostseite der Mauer betrachten lässt. Was passiert ist, können wir zum Glück in vielen Büchern nachlesen. Wie es sich angefühlt hat, dafür brauchen wir Autoren wie Thomas Brussig oder Sven Regener.

Nicht nur diesem großen Bedürfnis wird Regener mit Wiener Straße gerecht, auch den kleineren seines Stammpublikums: Denn äußerst subtil findet am Rande der Handlung eine vielleicht nur für Liebhaber der Reihe wahrnehmbare (und relevante) Wandlung statt: Der kleine Bruder, den in seiner Anfangszeit in Berlin noch niemand als Individuum wahrnahm, wird für sein Umfeld still und heimlich zum respektierten, eigenständigen Subjekt mit Job und Wohnung. Herr Lehmann fasst Fuß in Berlin.

Titelbild: Gregor van Dülmen

5 Kommentare

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