Ein Jahr geht vorüber. Eines der seltsamen Männer (und Frauen). Eines, in dem zahlreiche belanglose, aber auch wichtige Romane und Sachbücher erschienen. Alte wurden wieder aktuell. Wir haben uns zusammengesetzt und nachgedacht, welche Bücher uns in diesem Jahr besonders beschäftigt haben. Der Weg nach 2018 führt über warmen Schaumwein, Portraits ostdeutscher Provinz, Identitätssuchende, Gaukler, Zauberer und revolutionäre Dichter zu Kryptowährungen und Hundeexperimenten.
von Lennart Colmer, Katharina van Dülmen, Nicholas Babakitis, Martin Kulik, Lukas Lehning, Dirk Sorge, Gregor van Dülmen, Florence Wilken und Dominik Gerwens
Liebesglück im digitalen Zeitalter
Lennart über Heinz Strunks Jürgen
Dieses Jahr war ein Jahr der seltsamen Männer. Die seltsamsten unter ihnen bekleiden hohe Ämter in der Politik oder in der Unterhaltungsindustrie. Aber es gibt auch diese anderen seltsamen Männer, die kleinen Männer des Alltags, diese Typen der letzten Generation urwüchsiger Namen wie Bernd oder Heinz. Letzterer zum Beispiel beglückte Liebhaber der kauzigen Literatur in diesem Jahr passenderweise mit Jürgen.
Die Unbedarftheit dieses Romans matcht sich mit den Herausforderungen des Lebens, die im Alltag manchmal zu kurz kommen. Der gleichnamige Antiheld des Romans besticht den Leser mit einer Mischung aus Geschmacklosigkeit und Sympathie: Wer hat es schon einfach im reifen, mittleren Alter, dazu mit einer pflegebedürftigen Mutter in der Wohnung und einem Job als Parkwächter, während die Liebe des Lebens dort draußen warten könnte?
Jürgen greift die Verquickung von Lovestory und Roadmovie auf, um sie auf ein Level zu bringen, das man von Heinz Strunk durchaus erwarten kann. Trocken und sensibel zugleich nimmt er den Leser mit auf Jürgens Reise nach dem Liebesglück, das im digitalen Zeitalter überall zu finden sein könnte. Zum Beispiel in Polen. Hart an Geschlechterklischees vorbeischrappend, merkt man, dass es sich hier um „arme Willis“ handelt, die eine Schulter zum Anlehnen suchen (die nicht von Mutti stammt). Prickelnd wie ein nicht mehr ganz eisgekühlter Schaumwein und herzerwärmend wie Omas selbstgestrickte Socken!
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Zauberer ist nicht gleich Zauberer
Katharina über Sten Nadolny – Das Glück des Zauberers
„Literarisch belanglos“, „eine große Enttäuschung“, „ermüdend“ – bei den Rezensionen zu Das Glück des Zauberers muss Bestseller-Autor Sten Nadolny einiges einstecken. Zu unrecht? Ja! Denn wenn der Deutschlandfunk den Briefroman mit Harry Potter vergleicht, dann wurde eindeutig die falsche Lesart gewählt und aufgrund falscher Erwartungen kritisiert. Pahroc behauptet zwar ein Zauberer zu sein – ein Meisterzauberer sogar – mit Harry Potter hat er aber wenig gemein. Im Alter von über 100 Jahren schreibt er seiner Enkelin zwölf Briefe über sein ereignisreiches Leben von 1905 bis 2017. In kindgerechter Sprache schildert er das Weltgeschehen und erklärt, wie es von jenen erlebt wird, die durch Wände gehen, einen langen Arm machen oder fliegen können. Die Zauberer besitzen Fähigkeiten, die sich in den Kriegsjahren als Überlebenshilfe erweisen. In die Geschichte eingreifen und so den Schrecken abwenden, können sie aber nicht. Es bleibt also alles, wie es war. Und das wird dem ehemaligen Geschichtslehrer Sten Nadolny vorgeworfen: Er würde nur Altbekanntes erzählen. Natürlich erfindet er das 20. Jahrhundert nicht neu, macht es jedoch aus ungewöhnlicher Perspektive erfahrbar. Denn folgt man den versteckten Hinweisen dorthin, wo Pahroc „nur“ ein warmherziger Außenseiter ist, der nicht mithilfe von Übersinnlichem, sondern durch menschliches Handeln und Flucht in die Phantasie die Kriege verkraftet, bleibt eine Frage: Bis wann können und müssen Einzelne ins Geschehen eingreifen, um Schreckliches rechtzeitig abzuwenden?
Blockchain und Bitcoin unkryptisch erklärt
Nicholas über David Golumbia – The Politics of Bitcoin. Software as Right-Wing Extremism
Bitcoin, eines der „Buzzwords“ des Jahres 2017, ist eine Kryptowährung, die im letzten Jahr vielfach diskutiert wurde, aber trotzdem für einen Großteil der Menschen eine rätselhafte Entwicklung der digitalen Wirtschaft bleibt. Während ich diese kurze Rezension schreibe, stürzt der Bitcoin-Kurs und seine loyalen Anhänger und Investoren werden nicht müde in einer verzweifelten Panik ihre Thesen und Obsessionen mit einer Währung zu verteidigen, die bereits aufgrund ihrer Konstruktion deflationäre Tendenzen zeigt, entgegen des Glaubens ihrer Anhänger Fiatgeld entspricht und sich gerade mehr wie eine Handelsware als reines tauschbares Geld verhält.
In seiner kurzen Auseinandersetzung analysiert David Golumbia Bitcoin, ohne sich utopischen Illusionen und kontroversen Wirtschaftstheorien hinzugeben, und stellt klar verständlich dar, wie Bitcoin und „Blockchain“-Technologie funktionieren. Neben dieser Darstellung von Bitcoin behandelt Golumbia die Beziehung der Kryptowährung zur rechtsradikalen Politik und den damit ideologisch zusammenhängenden Ideen zur Marktwirtschaft, Zentralbank, Inflation, zu verschiedenen Verschwörungstheorien und dem Mythos des Goldstandards der Österreichischen Schule.
Auf 80 Seiten liefert Golumbia ein Grundverständnis der Technologie, Politik und Wirtschaftstheorie des Bitcoins, und verschafft einen Einblick in die Probleme, die mit seinem Hype einhergehen und den Bitcoin aktuell betreffen. Um eine kritische Perspektive auf Bitcoins oder Kryptowährungen allgemein zu erfahren, ohne sich dem übereifrigen Fetischismus der Tech-Industrie hinzugeben, gilt Golumbias The Politics of Bitcoin als meine Empfehlung des Jahres 2017.
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Aussergewöhnliches Debüt
Martin zu Ausser sich von Sasha Marianna Salzmann
„Wer bin ich?“, das ist eine Frage, die in der Literatur öfter mal gestellt wird. Das große Thema der Identitätssuche wurde mit Sasha Marianna Salzmanns Debütroman nicht neu erfunden. Ausser sich erzählt von der Sehnsucht nach Grenzüberschreitung, dem Bruch mit Konventionen und der Suche nach den eigenen Wurzeln. Doch am Ende fasziniert das Buch vor allem sprachlich. Die Prosa des Romans ist verschachtelt, lebendig und wild – verworrene Sinneseindrücke durchbrechen immer wieder Wahrnehmungen der Hauptfigur, die Zeitwahrnehmung wird verzerrt, Halluzinationen vermischen sich mit Realität, Erinnerungen mit Wahnvorstellungen. Eine fordernde Lektüre, die sich lohnt.
Gesellschaft unterm Brennglas
Lukas über Unterleuten von Juli Zeh
In Ihrem über sechshundert Seiten starken Gesellschaftsroman Unterleuten erschafft Juli Zeh eine beeindruckend detailreiche kleine Welt. In einem fiktiven Dorf in der Nähe von Berlin lässt sie verschiedenste Charaktere miteinander agieren. Alteingesessene Dorfbewohner treffen auf zugezogene Großstädter. In der Vergangenheit verhaftete Ostdeutsche auf junge Weltverbesserer aus dem Westen und über allem schwebt die übermäßige Vergangenheit, eine alte nur teilweise beigelegte Dorffede.
Am Beispiel des Dorfes, in dem jeder mit jedem verknüpft zu sein scheint, entwickelt Juli Zeh eine kluge Analyse verschiedener gesellschaftlicher Konflikte. Tradition gegen Moderne, Unternehmertum gegen Naturschutz, Ost- gegen Westdeutschland und Stadt- gegen Landleben. Derdie Leserin wird zur Beobachterin verschiedener Personen die jeder mit ihrer eigenen Biografie dazu beitragen eine krimihaft spannende Geschichte zu entfalten, die es ermöglicht, sich fast beiläufig mit den unüberwindbaren Gegensätzen, die hier aufeinander prallen, zu beschäftigen.
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Die ewige Übergangsgesellschaft
Dirk über Simple Storys von Ingo Schulze
Seit der Erstveröffentlichung von Ingo Schulzes Roman Simple Storys sind knapp 20 Jahre ins wiedervereinigte Land gegangen. Der Roman wurde 2015 bereits zum zehnten Mal neu aufgelegt und er ist heute noch lesenswert, denn er handelt von einer „Übergangsgesellschaft“, die noch immer nicht ganz übergegangen ist.
Schulze erzählt in 29 kurzen Geschichten von der Unruhe nach der Wende Anfang der 1990er Jahre in der „ostdeutschen Provinz“, in der thüringischen Kleinstadt Altenburg. Ohne Sentimentalität und Ostalgie beschreibt Schulze sehr kühl, welche Risse in Biografien entstehen, wenn ein politisches System abrupt endet und mit einem anderen vereinigt werden soll. Die Protagonistinnen in Schulzes Geschichten sind müde Taxifahrerinnen, frustrierte Journalisteninnen, ehemalige parteitreue Lehrerinnen und hasenfüßige Politiker*innen. Sie werden angetrieben von Erwartungen und Ängsten, wurschteln sich irgendwie durch, müssen sich neu orientieren oder resignieren. Drohende Arbeitslosigkeit, schlechte Infrastruktur und eine unaufgearbeitete Vergangenheit prägen ihren Alltag.
Altenburgs Einwohnerzahl ist seit der Wende von 50.000 auf 32.000 gesunken. Die absolute Zahl der über 65-Jährigen hat im gleichen Zeitraum zugenommen. Wer es kann, sucht sein Glück woanders. Es handelt sich um eine abgehängte Region. Viele Phänomene, die Schulze beschreibt, betreffen jedoch nicht nur die ostdeutsche Provinz. Es gibt westdeutsche Provinzen, in denen es ebenso trostlos aussieht. Und auch sogenannte Metropolen haben immer mehr Mühe, ihren provinziellen Charakter zu verstecken. Dadurch ist das Buch heute noch aktuell.
Kehlmanns Krieg und Frieden
Gregor zu Tyll von Daniel Kehlmann
Während zahlreiche Neuerscheinungen des Jahres sich noch mit dem 500. Jahrestag der Reformation aufhalten, betrachtet Daniel Kehlmanns jüngster Roman schon deren Spätfolgen: den Dreißigjährigen Krieg. Kehlmanns Erzählung richtet ungewöhnliche Perspektiven auf das Leben dieser Zeit, die die Konflikte und Dimensionen des Kriegs ausleuchten und einem recht eleganten roten Faden folgen. Der Autor bedient sich des Kunstgriffs, die folkloristische Figur Till Eulenspiegel, bzw. Tyll Ulenspiegel, wiederzuerwecken – ein Kunstgriff insofern, alsdass der historische Tyll Ulenspiegel, wenn überhaupt, einige Jahrhunderte früher gelebt haben muss. Der Schriftstellertrick des verbindenden Elements ist jedoch glücklich. Kehlmanns Tyll kommt aus einer Müllerfamilie, lernt das Dorfleben mit allen Verspanntheiten kennen, nutzt seine Erfahrungen des ständischen Lebens als fahrender Gaukler, gewinnt einen Überblick über die Lande, dient als Soldat, lebt als Mönch, leistet seiner Berufung als Hofnarr Folge. Seine Späße entblößen und erforschen die mutmaßlichen Horizonte der Personen, denen er begegnet, was das Buch eben auch so reizvoll macht.
Daniel Kehlmann hält sich nicht mit detailgetreuen Rekonstruktionen der Lebensweisen auf, umkreist auch Tyll Ulenspiegels Kunstbiographie nur grob und holt zu einer breiten Gesellschaftskritik aus. Immer wieder nimmt er mit den Perspektiven verschiedenster Protagonisten auch ihre Weltbilder ein: Menschen, die ihr Dorf als den Umfang der relevanten Welt erleben, Adlige, die Konfessionen und Kronen aus Opportunismus wechseln, Philosophen, die als Hexer hingerichtet und Drachenforscher, die als Gelehrte verehrt werden – und ein Krieg, der mitten hindurch tobt. Schlicht: eine nicht allzu ferne Gesellschaft, von der wir nur ein paar Generationen und Ideen entfernt sind.
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Was macht den Menschen zum Hund?
Florence über Michail Bulgakows neuübersetzten Roman Das hündische Herz. Eine fürchterliche Geschichte
Ende jeden Jahres erzählen wir uns die Geschichte einer heiligen Geburt. Eine Jungfrau bringt einen kleinen Menschen zur Welt, der später Begründer einer Religion wird. Auch in Bulgakows Frühwerk Das hündische Herz (dritte Fassung 1929-1940) wird etwas geboren, gibt es einen Schöpfungsakt. Auch hier passiert ein Wunder, dessen Konsequenzen für die Beteiligten nicht abzusehen sind. Allerdings endet alles doch ganz anders. Der Stall ist ein Operationssaal in einer Moskauer Wohnung der 1920er Jahre. Die Zeugen des Spektakels sind nicht Schafe und Hirten, sondern das Hausmädchen und zwei Ärzte. Der Professor Filipp Filippowitsch Preobraschenski ist Spezialist für Eugenik. Am 23.12.1924 transplantiert er zusammen mit seinem Assistenzarzt dem Straßenhund Lumpi menschliche Hoden und eine menschliche Hypophyse. Der Hund verwandelt sich allmählich in einen Menschen, der jedoch im ständigen Konflikt mit seinen Schöpfern steht. „Hundeglückspilz“ kann sich Lumpi schon bald nicht mehr nennen. Als dieser auch noch mit den Bolschewiki sympathisiert, muss der Professor einsehen, dass er sein Experiment nicht mehr unter Kontrolle hat.
Bulgakow gesellt sich mit seiner fantastisch skurrilen Erzählung zu Autoren wie Mary Shelley oder Nikolai Gogol. Kurzweilig, aber nicht schwarz oder weiß, alle Charaktere erzeugen mal Mitleid mal Ablehnung beim Leser. Die Spannung zwischen der ungezügelten Neugier des Wissenschaftlers und dem gesunden Menschenverstand und die dokumentarischen Anspielungen auf Personen zu dieser Zeit machen aus dieser Geschichte nicht nur eine bissige und blutige Gesellschaftskritik, sondern richtet auch einen philosophischen Blick auf die Frage, was den Menschen zum Menschen bzw. den Menschen zum Hund macht – oder war es umgekehrt?
Die Traumwelt des sozialistischen Märchenfürsten
Dominik zu Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen von Volker Weidermann
Deutschland im November 1918: In München bricht die Revolution aus. Ausgerechnet ein Dichter und Theaterkritiker setzt sich an ihre Spitze – und wird später selbst zum Opfer der Wirren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Woher rührt die aktuelle Begeisterung für geschichtliche Stoffe und vor allem historische Biographien? Es reicht ein Blick auf die Spiegel-Bestsellerliste Belletristik: Auch im zurückliegenden Jahr hatte der historische Roman Hochkonjunktur. Bereits der Vorgängerroman Weidermanns, Ostende, hatte sich mit dem Spannungsfeld von Zeitgeschehen und Literatur beschäftigt und die „Geschichte einer Freundschaft“ zwischen Stefan Zweig und Joseph Roth rekonstruiert.
Auch Weidermanns neues Buch ist hauptsächlich von Dichtern bevölkert, und so prallen die Wahrnehmungswelten von Thomas Mann, Oskar Maria Graf und Rilke mit auf die harte Realität der Revolutionswirren. Träumer offenbart die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit oft sehr präzise, wenn schlaglichthaft die Gedankenwelten der Protagonisten und ihrer Irrungen – dies gilt insbesondere für Thomas Mann – beleuchtet werden. Hierbei erzählt der Roman dermaßen souverän und elegant, dass der Übergang zwischen collagierten Primärquellen und Fiktionalisierung geradezu fließend erscheint. Die Erzählinstanz unterlässt es bewusst, die Aussagen zu kommentieren oder zu ausführlich in den historisch-ereignisgeschichtlichen Rahmen der Nachkriegszeit einzuordnen.
So sucht das Buch auch keine eindeutige Antwort zu finden, etwa auf die Frage, ob die Münchener Räterepublik von vorneherein zum Scheitern verurteilt gewesen ist – es fühlt sich eher in die Stimmungen und Haltungen ein, als die vielen subjektiven Wahrheiten zu beurteilen. Und vielleicht liegt hierin auch die Faszination, die historische Stoffe ausüben. So fraglich es ist, ob man wirklich aus der Geschichte für die Gegenwart lernen kann, so unzweifelhaft ist doch das Bedürfnis, sich in der Vergangenheit zu spiegeln und die Erfahrungen der Zeitgenossen mit den Problemen der Gegenwart zu parallelisieren.
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