Mit ihrem Debüt Still halten gelingt Jovana Reisinger ein benommenes Drama, das in postmoderner Manier eine morbide Perspektive auf Existenz und Gesellschaft wirft.
„Nur die schwachen Geister lassen sich von der Natur einnehmen.“
Still halten ist erzählt als depressiver Monolog seiner Protagonistin, die damit beschäftigt ist, ihrer Umwelt gefällig zu sein, ohne selbst völlig unterzugehen. Teilweise gelingt es ihr ganz gut, gegenüber den Personen in ihrer Umgebung zu funktionieren oder sie dies zumindest glauben zu lassen. Was ihr hilft, ist, Personen als Rollen wahrzunehmen. Was sie herausfordert, sind Situationen, in denen Rollen von Personen ihr gegenüber sich wandeln oder Personen hinter Rollen sich ändern. Ihr Sparkassenfilialleiter etwa wird einfach ungefragt ausgetauscht. Ihre Mutter wechselt die Funktion in ihrem Leben – und liegt, was Ausgangspunkt der Handlung ist, neuerdings im Sterben.
Da die Mutter sich hierzu in einer Privatklinik eines kleinen Kurorts befindet, die Erzählerin sich jedoch in der Stadt aufhält, in die sie vor ein paar Jahren gezogen ist, beschäftigt sich ein großer Teil des Buchs mit ihrem Aufbruchversuch, der sich weniger einfach gestaltet, als es den Leser*innen lieb ist. Denn die stecken tief in der Gedankenwelt der Protagonistin, die sich ständig darum bemüht, sich in den Personen, denen sie begegnet, zu spiegeln, aus ihrer Perspektive heraus die Welt zu begreifen, verschiedene Perspektiven auf sich selbst zu richten, und gedanklich weite Kreise aufzumachen. Gerade eigene Entscheidungen fallen ihre schwer, weshalb sie ausgiebig darüber grübelt, wie sie ihrer Mutter einen letzten Besuch abstatten kann, der eines letzten Besuchs bei der eigenen Mutter würdig ist. Beziehungsweise der der Mutter eines letzten Besuchs ihrer Tochter als würdig erscheinen würde. Der die Tochter der Mutter gefallen lässt.
„Niemand ist jemals für die Mutter von dieser Wohnung aus über Maria Bitter und Maria Elend nach Maria Schmolln gelaufen, um dann in den Luftkurort zu gehen, ohne dabei nur in einer der Wallfahrtskirchen für sie zu beten.“
Ein spannender Effekt ist, dass sich Gedankenwelt und Erzählstil entspannen, sobald sie etwas mehr Ruhe findet. Die sie dann auch findet, als sie in ihre Heimat zurückkehrt, was den Roman deutlich an Tempo gewinnen lässt und seine Anspannung immer mehr in Spannung auflöst. Was ihr jedoch fehlt, sind Bezugspersonen. Denn auch ihr Mann ist derzeit unterwegs. Dass sie trainiert darin ist, sich fremdbestimmen zu lassen, macht nicht nur die Handlung, sondern auch die Erzählweise deutlich, da sie meisten ihrer Handlungen passiv erlebt. Mit ihr wird geredet, über sie wird entschieden, mit ihr wird geschlafen.
„Dem Richard war mein Körper schon immer wichtiger als mir.“
Immer wieder lässt sie sich leiten und beißt sich in kleine Gedanken fest, bis sie sich in fatale Dimensionen in diese hineingesteigert hat. Anstatt eines aktiven Erzählstils entsteht dadurch ein reaktiver, der sich in starke Abhängigkeit von Einflüssen bringt, die von außen auf die Erzählung treffen.
Still halten erschien im Verbrecher Verlag:
Quelle: Instagram
Worauf könnte ein Buch nun hinauslaufen, das zu Beginn einen depressiven Hauptcharakter mit der Nachricht konfrontiert, dass die Mutter im Sterben liegt? Genau, auf eine Auseinandersetzung mit Leben und Tod. Das wäre weit weniger innovativ, würde Jovana Reisinger dabei nicht so ein interessantes Gegensatzpaar aufmachen. Zwar lässt das Buch konträre Charaktere aufeinandertreffen, aber diese sind sich in gewissen Punkten seltsam einig, vor allem in ihrer Auseinandersetzung mit der Natur. Denn sowohl seine Protagonistin als auch der Förster ihres Heimatdorfs, der sich in der Handlung zum immer größeren Charakter entwickelt, begreifen die Natur als ständige Existenzbedrohung. Für ihn ist die Gefahr strukturell, aber so lang es Leute wie ihn gibt, zähmbar. Für sie ist die Angst persönlich. Die Natur, konkret der Wald, wird sie alle einholen. Sie ist die letzte in der Reihe, er wartet nur auf sie.
„Die Fläche hinter mir ist überschaubar, ich kann mich beim Zurückgehen durch den Garten nicht verirren. Ich kann den Ausgang nicht verfehlen. Ich kann mich hier nicht mehr verlieren. Ich darf nur nicht in den Wald geraten. Und ich bin das letzte Opfer, das es noch zu holen gilt.“
Das Gegensatzpaar Kultur–Natur bildet die Verbindungslinie zwischen den Gedankenwelten des konservativen Dörflers und der feministischen Städterin. Nur könnten die Sphären, die sie davon berührt sehen – hier die dörfliche Gesellschaft mit ihrer Forst- und Landwirtschaft, da die bloße Existenz – unterschiedlicher nicht sein. Zwar beginnen beide von einem bestimmten Punkt im Roman an wie damit, wie besessen Tiere zu erschießen. Aber die Mikroperspektive auf die nichtsdestotrotz unterschiedlichen gedanklichen Sphären, die die Personen haben, gibt Still halten etwas Besonderes.
Damit und mit ihrem assoziativen Schreibstil schafft Jovana Reisingers ein kleines wie feines, depressives Gesellschaftsportrait österreichischen Lebens, das am Ende viele Kreise schließt und bloß eine wichtige Frage offenlässt: Darf man seiner toten Mutter eigentlich die Finger brechen?
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