Schlagwort: WTF

SWISS ARMY MAN: Fahren und fahren lassen

2016 war kein schlechter Jahrgang für ausgesprochen weirde Filme, wie unter anderem „Swiss Army Man“ von Daniel Kwan & Daniel Scheinert belegt.


Besser als nix, denkt sich wohl der vereinsamte Gestrandete Hank (Paul Dano) und lässt von seinem Suizidplan ab, als eine Leiche angeschwemmt wird. So ganz tot scheint der junge Mann (Daniel Radcliffe) aber nicht zu sein, wie die seinem blassen Körper immer energischer entweichenden Flatulenzsalven nahelegen. Da hat Hank den genialen Einfall, seinen rückstoßbetriebenen neuen Freund kurzerhand als Jetski zu nutzen, und reitet sodann entsprechend euphorisiert den Filmcredits entgegen – ein erhabener Anblick. Nicht weniger genial ist das transgressive Konzept einer „Schweizer Multifunktionstaschenleiche“, die im Laufe der munter zwischen selt- und empfindsam wechselnden Geschichte auch als Trinkwasserspender, Nussknacker, Schießbüchse und Peniskompass fungiert.

Einige der progressivsten Filme der letzten zwanzig Jahre stammen von Filmkünstlern, die mit Musikclips erste Berühmtheit erlangten: Spike Jonze / „Being John Malkovich“, Michel Gondry / „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“, Jonathan Glazer / „Under the Skin“. Nun haben die beiden Daniels Kwan & Scheinert („Turn Down For What“) es geschafft, die 2016er Weirdness-Schraube massiv an- bzw. abzudrehen und sich ganz in die Tradition von Bizarro-Perlen der Vorjahre wie „The Forbidden Room“, „Upstream Color“, „Holy Motors“ oder „Rubber“ einzureihen. Man muss „Swiss Army Man“ im Speziellen oder albern-groteskes Schrägzeug im Allgemeinen nicht mögen, um trotzdem zuzugeben, dass dieser Film bemerkens- und daher sehenswert ist, nicht zuletzt auch angesichts extrem lauer Kinosommerabende mit „Independence Day: Resurgence“ und dergleichen.

Andererseits sind offenbar selbst solch abseitige Kinofilme vor Pathos, Sentimentalität und einem überraschend ­(wenn nicht gar enttäuschend) geradlinigen „Suche nach der Liebe und sich selbst“-Plot nicht gefeit. Gewiss funktioniert die bittersüße Bromance, erfüllt sie doch nebenbei die Funktion, Pupshumor-Kritikern den entsprechenden Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn hier werden Meteorismen nach dem Motto „Was stille Wässer können, das können laute Gase ebenso“ allegorisch überhöht. So lernt Hank von seinem universalbegabten „Supermanny“ schlussendlich, dass man sich nicht verstecken oder verstellen, nichts in sich aufstauen sollte, und entsprechend ist denn auch das „Free Willy“-artige Ende zu verstehen, das Rührseligkeit mit einer ordentlichen Portion WTF versetzt. Neben der Erkenntnis, dass hier ein besonderes Indie-Kino fernab vom üblichen Mumblecore geboten wird, bleibt einem aber auch der Nachgeschmack eines nicht gänzlich kompromisslosen Werks in Erinnerung. Dennoch: Auf das Filmdebüt von Video-Legende Chris Cunningham sollte man unbedingt gespannt sein.


Beitragsbild: nofilmschool.com

Tridiversales InteReview mit Mat²hias Hockmann

Hockmann Tridiversum Cover 1200px

Matthias/Bowls Hockmann/Götzke studierte Jura bis zur Scheinfreiheit und arbeitet, ähnlich wie sein Kollegah, freiberuflich als Musikprojektleiter an verschiedenen Privatschulen in Köln, wo er zurzeit auch residiert, komponiert, musiziert und schriftstellisiert. Sein im Folgenden präsentiertes Romandebüt „Tridiversum“ ist der erste Teil einer geplanten Trilogie.


Daniel Ableev
Zunächst zum Äußeren: Tridiversum ist ein wirklich schickes Buch geworden. Das Cover ist schick, der grafisch kreativ aufbereitete Barcode auf der Rückseite ist schick, das Blau des Einbandes ist schick. Wenn man reinblättert, findet man zahlreiche (schicke) Abbildungen, die den Roman fast zu einer Art Graphic Novel machen. Das Papier ist hochwertig, ebenso die allgemeine Haptik.

Matthias Hockmann
Was ist ein Tridiversum?

DA
Dein Roman beginnt mit der ausgefuchsten Widmung: „Dieses Buch war schon immer der Mutter meiner zukünftigen Kinder gewidmet.“

MH
Das Buch ist mein Soulmate-Detektor. Telefonnummer steht auch drin. Sobald sie es gelesen hat, kann sie mich anrufen und mit mir übers Kinderkriegen sprechen. Momentan tappe ich da selbst noch im Dunkeln. Die Zukunft kennt die Adressatin.

DA
Die coolen enzyklopädischen Infomatrix-Einschübe in allen Ehren, aber was ist nun mit Herrn Tonello – heißt er mit Vornamen „Zetrick“ oder „Zetrik“?

MH
Diese Frage kommt eventuell zu früh, denn auf den Erfinder der Zeitmaschine wird erst im letzten Viertel des Tridiversums genauer eingegangen. Hier ein Anagramm, das zwischen den Zeilen steht:
Zetrik Tonello = Zeitkontrolle
Schon allein deshalb sollte der Terrakinetiker vom Sonnensystem t<hera (= <earth) den Buchstaben „C“ nicht unbedingt benötigen. Weder für seinen Vor- noch für seinen Zurücknamen.

DA
„Er […] stampfte die Unbeholfenheit des verschüchterten 12-Jährigen in die Fußmatte und gab seinen verletzten Stolz an der Garderobe ab“ – so ein Satz kann sich sehen (und lesen) lassen!

MH
Wenn das der einzige Satz sein sollte, der sich sehen (und lesen) lassen kann, ist das Buch schlecht. Ist er natürlich nicht. Das Buch ist gut.

DA
„Glassplitter um sie herum, Zeitlupe in ihr drin“ – so ein Satz kann sich sehen (und lesen) lassen!

MH
Siehste? (Lieste?)

DA
Heutzutage kommen ja viele Filme ins Kyno, die man gut und gern als „3D-Nichts“ bezeichnen könnte.

MH
Da sprichst du ein interessantes Drama an, aber hebe auch diesen Gedanken besser mal für später auf!

DA
Clayton Sun („Lover, Fighter, Lighter“) ist der Held eines fiktiven Comics – soll denn daraus vielleicht, etwa in Zusammenarbeit mit Illustrator-Surrogat Jonas Hauss, mal eine reale und abendfüllende Angelegenheit werden?

MH
So ist es. Ist es bereits. Anti-kausal betrachtet.

DA
Ein episches, bildgewaltiges Tableau von sechs Seiten Länge gegen Ende des Buches lässt die Emotionen ins Tridiversal-Erhabene anschwellen.

tridiversum

MH
Das ist der beste Zeitpunkt für eine kurze Pause. Jetzt kommt nämlich ein dicker Plottwist, für den ich Popcorn empfehle.

DA
Die möglicherweise kühne Vermischung der Konzepte Kosmos/Universum, Poesie und Algebra wird durch das Wortspiel „UniVers“ provoziert. Weitere Erfindungen sind der „Chakramulator“, „Teslaportation“ oder „Parabox“.

MH
Ein Fall für die Seltsamkeitsforschung also. „Möglicherweise kühn“ gibt es dort nur als Kompliment und UniVerse zuhauf.

DA
Wie kommt Collin eigentlich darauf, Elke mit „Elkö“ anzusprechen?

MH
Ich schätze, das liegt in der Natur der Sache: Viele Teenager [des Tridiversums] sind krampfhaft um Originalität bemüht. Und scheitern am eigenen Anspruch.

DA
Was macht für dich die Atmo der 90er am stärksten aus? Was ist uns verloren gegangen? Sind die 90er die neuen 80er, wenn man dem sehr guten Film Detention glauben darf?

MH
<> Orthographische Anmerkung: „das Atom“, nicht „die Atmo“ <>
80er Jahre = „Null-Bock-Atom“
90er Jahre = „Lost-But-Active-Atom“
Das 90er Atom ist demnach ein Upgrade des 80er Atoms. Und zugleich ein Millennium-Molekül-Downgrade.

DA
Was bitte ist ein „Atom“?

MH
Adam. Der Typ aus der Bibel.

DA
Dein Roman beginnt mit der ausgefuchsten Widmung: „Dieses Buch war schon immer der Mutter meiner zukünftigen Kinder gewidmet.“

MH
Diese Tatsache scheint es dir angetan zu haben … (siehe zweite „Frage“).

DA
Die coolen enzyklopädischen Infomatrix-Einschübe in allen Ehren, aber was ist nun mit Herrn Tonello – heißt er mit Vornamen „Zetrick“ oder „Zetrik“?

MH
Diese Frage kommt eventuell zu früh, denn auf den Erfinder der Zeitmaschine wird erst im letzten Viertel des Tridiversums genauer eingegangen. Hier ein Anagramm, das zwischen den Zeilen steht:
Zetrik Tonello = Zeitkontrolle
Schon allein deshalb sollte der Terrakinetiker vom Sonnensystem t<hera (= <earth) den Buchstaben „C“ nicht unbedingt benötigen. Weder für seinen Vor- noch für seinen Zurücknamen.

DA
Wie sähen eigentlich Naturgesetze aus, wenn unser Schöpfergott Quantum Terrorino hieße?

MH
Wie zufällig.

DA
Wir säen eigentlich die Naturgesetze aus, wenn unser Schöpfergott Quantum Terrorino ließe.

MH
Wie abgeerntet.

DA
Und wenn Shakespeare Sportlehrer gewesen wäre?

MH
Romeo hätte Julia wegen ihrer Cellulite abserviert. Und faul im Staate Dänemarks wären lediglich die Bio-Eier gewesen. Die Elfen aus dem Mitsommernachtstraum hätten Orthello Proteinshakes serviert.

DA
Orthello klingt nach einer Schützenfest-Vollniete.

MH
Toni Korte auch.

DA
Liegt es da nicht nahe, hospitalistisch Wippende als Stromquellen anzuzapfen?

MH
Da? Wo? Im Prinzip? Im Getreide? In der Infomatrix?

DA
Im Sinnfrei-Komplex natürlich, wo denn sonst.

MH
Dort wird in der Regel überverwaltet. Die Antwort auf die Frage wäre also: positiv.

DA
Welche Organe (außer dem Herzen) sollten aus Teflon sein? Was sind die Vor- und Nachteile von vollständiger Durchteflonisierung à la „Teflon aller Länder, vereinigt euch“?

MH
Vielleicht die Leber. Und Ohren aus Telefon. Von Vor- und Nachteilen kann dabei allerdings keine Rede sein. Die Frau des Sportlehrers dürfte mir zustimmen. Cora heißt die. Cora Nickelmann.

DA
Ist denn Joshua Veenker eigentlich ein verkappter Wanker?

MH
Eher Greenpeacer. Mit einer Vorliebe für die Farbe Rot.

DA
Man kann aus ziemlich allem eine Beleidigung stricken, wenn man „3D-“ davorsetzt. Im Falle von „3D-Pubertät“ (die wir ja im 90er Atom durchlebten) wäre der 3D-Vorsatz mehr als Verstärker einer bereits gegebenen Beleidigung unterwegs.

MH
Korrekt. Selbiges gilt für 4D aus 5D heraus betrachtet. Beleidigungen lassen sich im Grunde bis in alle Dimensionen der Unendlichkeit denken. Folglich ist das Konzept ebenso simpel wie primitiv. Aber durchaus genial.

DA
Gilt dasselbe auch für „2D-“ (vgl. 2D-Hirn)?

MH
Analogisch.

DA
Wie (stink-)unnormal muss ein Bauer sein, um an Gy²lle ranzukommen?

MH
Bauern der Infomatrix sind allesamt Ak²erdemiker. Die Gy²lle kommt mit dem Treibtisch, an dem gearbeitet wird.

DA
Penis klopft gegen Unterhose (die Unterhose klopft zurück) ist eines der vielen Nietzsche-Zitate, die im Tridiversum figurieren.

MH
Du meinst wohl Kant. Es ist ein kantiges Tridiversum und keine ökologische Nietzsche für Sprachpuristen.

DA
Ob Nietzsche bei seinen Babys Stoffwindeln benutzte?

MH
Ja. Harter Stoff-Windeln.

DA
Ein Mitglied des WDR Mindfuck-Orchesters hat vor kurzem mit jemandem Schluss gemacht. Das klingt nicht ganz so traurig, wenn man bedenkt, dass „Schluss“ ein Vorname ist.

MH
WDR? Nie gehört.

DA
Zetrik hat also seinen Zeitraspelkubus eigentlich aus Gedichtzeilen hergebaut, wenn ich das richtig verstehe.

MH
Aus einem UniVers einen Tesserabstrakt, um genau zu sein. Aber ja.

DA
Das ist erstaunlich spektakulativ. Von wem oder was ist dieses InteReview eigentlich das Surrogat?

MH
Dany Able²v, progressive Seltsamkeitsforscherin der Infomatrix.


Titel- und Beitragsbild:  © Verlag der Ideen

Interpilz mit Frank Dukowski

Im Folgenden ein pilziges Walkthrough durch die E-Groteske „Vor dem Pilzgericht“ (Verlag Das Beben, 2013) des Berliner Autors und Schauspielers („Amateure“) Frank Dukowski, der nicht nur in Wuppertal geboren wurde, sondern u.a. auch am Staatstheater, in der Nervenklinik, im Baum und im Internet arbeitete.


 

Daniel Ableev
Wie viel Pilz ist nötig, um eine stabile Ich-Struktur auszubilden?

Frank Dukowski
Stabilität, wie wir sie als solche empfinden würden, ist im Reich der Pilze definitiv nicht zu finden. Eine Ich-Struktur, die sich der evolutionären Herausforderung stellt, auch nach dem nächsten Meteoriteneinschlag erfolgreich die Lande zu besiedeln, kann nicht genug von Pilzen lernen.
3 Hüte mittelgroßer Amanita muscaria, getrocknet und entspannt geraucht, wirken erfrischend und erhellend. Ich vermag aber nicht zu sagen, ob da nicht einige Konsumenten schon zu sehr geblendet werden. Dieses Licht misst man nicht in Lumen.

DA
Sind die typischen Waldpilzarten inzwischen internetfähig oder wenigstens aufrüstbar?

FD
Ihre Vernetzung dürfte das binär geschaltete Internet noch einige (digitale) Generationen meiden. Solange die Nullen und Einsen unsere Kommunikation dominieren, werden sie eher versuchen, dekonstruktiv einzuwirken, als sich in derart primitive Strukturen einzuloggen.

DA
Pilzernte durch Kopfschütteln – wie reagiert der bundesdeutsche Mykumpel auf diese neuartige Sammelgeste?

FD
Naturgemäß mit Kopfschütteln. Wo der Mykumpel nicht durch den Wald kriecht, da forscht er mit primitiven Mitteln.

DA
Der letzte Schrei der Humus Couture: smarte Bekleidung für Pilz.

FD
Ein Gewand, eine äußerliche Erscheinung, nutzt der Pilz lediglich für seinen Fruchtkörper, also quasi nur für die Geschlechtsorgane – und das nicht, um sie zu bedecken. Rätselhaft ist, für wen er das tut. Ob das smart ist, kann man nicht sagen. Zu irgendeiner Form von Austausch dient sein Kleid aber mit Sicherheit. Und schön ist es oft!

DA
Pilz : kitzlig = Kitzler : ?

FD
Ja, und:
Pilz : Penis = penetrant : ?
Oder wollte der Interviewer mir hier eine Aussage über Vaginalinfektionen entlocken? Hierzu befinden sich die Pilze zu tief unter der Gürtellinie.

DA
Ist ein am Rande der Waldmatrix positionierter Pilz eher ein Hurenkind oder ein Schusterpilz? Oder gar ein Vlogger?

FD
Am ehesten Letzteres. Wir kennen doch nur den Rand der Waldmatrix, wo „gevloggt” wird, fallen Sporen. Dahinter bleibt es dunkel.

DA
Ist „Pilzfinder“ inzwischen eigentlich ein militärischer Rang?

FD
Ist „Scout“ ein militärischer Rang? – Wir dürfen hier nicht Hierarchie und Einsatzfunktion vermischen.

DA
Was ist das Allerperverseste an einem Pilz?

FD
Dass er das Licht scheut und sich an Dingen ergötzt, die direkt oder indirekt von Licht leben – und dabei liebt er jegliche Feuchtigkeit!

DA
Was (oder wen) würdest du durch Pilze ersetzt wissen wollen, wenn du Zutritt zu den United Mushrooms hättest?

FD
Das Internet.

DA
Durch welche Mundwinkelmanipulation kann ein Pilzlächeln am besten emuliert werden?

FD
Man modifiziere eine Aufwärtsbewegung der Augenbrauen, bis sie die Mundwinkel in Mitleidenschaft ziehen. Lediglich über die Mundwinkel vorzugehen, entbehrt trotz Feuchtigkeit der nötigen Wärme.

DA
Könntest du ein paar Beispiele für Pilzpoesie anführen?

FD
Von mir:

Die Pilz-Uhr

Das weiße Haar, es schwindet rasch, verdirbt,
wird schwarz, zerfällt, zerfließt. Es bleibt das Wort.
BOLETUS EDULIS
Im Dunkel steht dort dreist ein fetter Herr,
Ein rechter Freund ist er; Er lädt uns ein:

Willkommen im Reich der Ständerpilze
Dunkel und feucht ist Mutters Hort
Es riecht spermatisch, faulig süß
Du löst Dich auf, wirst flüssig wie das Aas

MORCHELLA CONICA
Es ragen Türme gotisch aus dem Most
mit schwarzen Namen, wie morbid und Mord.
PHALLUS IMPUDICUS
Die Leichenfinger stoßen steil empor,
es schmiert aus ihren Hexeneiern Schleim.
AGARICUS SILVATICUS
Der Wald ist voller Männer, grau, im Kreis
versammelt. Sie opfern Blut und Milch.

Der unlichte Wald ist voll von Ständern
Modrig und warm ist Mutters Schoß
Es riecht nach Leben, riecht nach Tod
was eines ist, so man die Zeit vergisst

AMANITA PHALLOIDES
Drei Nächte hält er dich, der Todesengel,
sein Odem honigsüß, sein Kuss fatal.
RAMARIA FORMOSA
SPARASSIS KRISPA
POLYPORUS RAMOSISSIMUS

Es hocken Wesen reglos auf dem Stumpf,
die sind halb and‘res und halb sind sie Tier.
Wie Wächter sind sie ferner Welt und Zeit,
AMANITA MUSCARIA
von weißen Sternen eines roten Alls
so tief, als Du in wilden Träumen fliegst.

Wir fallen ins Reich der Ständerpilze
in Mutters tiefen, dunklen Schlund
Es riecht spermatisch, faulig süß
Hab Acht! In ihrer Tiefe ist kein Licht

MACROLEPIOTA PROCERA
Wir sind jetzt klein, und riesig das Gewächs.
Wir suchen Schutz im Schatten seines Schirms.
CALVATIA GIGANTEA
Ein bleicher Riesenschädel liegt im Weg,
der birgt mehr Leben als die ganze Welt,
HIRNEOLA AURICULA-JUDAE
und dort hängt am Holunderbusch ein Ohr,
der Wegzoll dessen, der den Gott verriet.

Die Mutter ist feucht und fett und willig
In ihren Tiefen wächst Geflecht
Befruchten lässt sie sich, empfängt
Am Ende wirst zu Erde Du, zu Leben

BOLETUS SATANAS
Zum letzten Gruß erscheint der feiste Herr,
nur ist er linkisch bunt nun, riecht nach Tod.
COPRINUS COMATUS

Die meiste Pilzpoesie kommt eher antiquiert parodistisch daher. Eugen Roth hat sich hier versucht („Der Waldgänger“), auch finden sich im „Tintling“ (einer anspruchsvollen Zeitschrift für Pilzkundige, deren langjähriger Abonnent ich bin) ab und zu Texte wie „We are the Champignons“ (frei nach Queen). Da gäbe es vieles zu nennen, wenig Erwähnenswertes …
Besonders hervorheben möchte ich allerdings Ulrich Roski („Liedermacher“) mit „Des Pudels Kern“ (1975). Hier finden sich interessanterweise neben Goethe- und Militärbezug auch jede Menge toller (erdachter) Pilznamen.

UND: (in anderen Dimensionen natürlich) „Fungi from Yuggoth“, ein Sonettzyklus von H. P. Lovecraft.

DA
Alles, was wir vergessen oder verdrängt haben, wird mittels einfacher Pilzschaltkreise in einem einzigen monströsen Cloudpilz akkumuliert.

FD
So kann es gehen. Pilzgeflechte und Synapsenverbindungen haben viel gemein.

DA
Was ist ein Pilz auf 450-Euro-Basis?

FD
Dosenchampignons, denn selbst Pilzwissen muss man sich leisten können.

DA
Gibt es eigentlich unter den Pilzen so etwas wie den „Schlimmen Finger“? Oder wenigstens einen Schimmelfinger? Reichlich.

FD
– Ophiocordyceps unilateralis z. B. tötet Ameisen in Windeseile.
(Wikipedia: Im PlayStation-3-/Playstation-4-Spiel „The Last of Us“ infiziert ein Pilz die Gehirne von Menschen und verwandelt sie so in äußerst aggressive, zombieähnliche Lebewesen, die andere Menschen attackieren, um den Pilz zu verbreiten. Die Produzenten gaben an, von Ophiocordyceps unilateralis inspiriert worden zu sein. Der Autor M. R. Carey veröffentlichte 2014 seinen postapokalyptischen Roman The Girl with All the Gifts, in dem ebenfalls zombieähnliche Mutanten (Hungries) von einer Variante von Ophiocordyceps unilateralis befallen sind.)

  • Phallus impudicus heißt volkstümlich auch Leichenfinger.
    Schlimm, schlimm, schimmelig schlimm …
    Oder aber:

  • Die Frühjahrslorchel, Helvella esculenta, die als tödlich giftig gilt („esculata“ steht in der Regel für essbar), in Lappland aber sogar als Pilzkonserve erhältlich ist.

DA
Was ist der erbärmlichste Pilz aller Zeiten?

FD
Auch hier: Der Dosenchampignon. Ockerfarben und geschmacklos, domestiziert und ökonomisiert, berechnet, untergejocht, entstellt, entfremdet und ekel.

DA
Tier, Mensch, Pilz, Schleim – welche Evolutionsstufe erwartet uns deiner Meinung nach als Nächstes?

FD
Ich befürchte, zunächst werden wir nicht vor dem „Homo sapiens sapiens digitalensis“ verschont bleiben. Die Entfremdung des Menschen von seinen biologischen Ursprüngen schreitet fort und wird sich vom vermeintlich „primitiven“ Menschen abspalten. Die Mauern, mit denen der „Mensch der Künstlichkeit“ sich abschirmt, werden bald höher gezogen werden. Wer impulsiv ist, wird dumm genannt werden und unter Obhut gestellt. Reflexion und Manipulation werden gleichgeschaltet werden, um die mangelnde Moralität der Natur zu kompensieren – natürlich nur meine persönliche Theorie. (Wer wird die heilige Kuh „Mensch“ schon schlachten.)
Mit der Ozeanerwärmung sind aber auch einige Mollusken hoch im Evolutionskurs.
Viele Oktopoden sind hochintelligent. Die Luftatmung machte den Gastropoden keine Probleme, als sie sich an Land schneckten. Oktopoden können laufen, im Prinzip auch an Land. Nur an ihrem Sonnenschutz müssen sie noch arbeiten.

DA
Ist „Mykoplast-Pilzentsender“ mittlerweile eigentlich ein militärischer Rang?

FD
Eher ein militärisches Desaster.

DA
Wenn Pilze das Fleisch des Waldes sind, was ist dann das Fleisch des Kosmos?

FD
Alles, was lebt, was strebt. Energielieferanten jenseits des Lichtes.

DA
Pilzdebilität, Pilzhorror, Pilzhure, Pilzkrampf, Pilzmaut, Pilzmotor, Pilznazi, Pilzneid, Pilzplasma, Pilzquanten, Pilztheater, Pilzwitwe, Pilzzeit – welche Stichwörter fallen dir noch für ein dringend benötigtes Pilzlexikon ein?

FD
Pilzbewusstsein, Pilz-Descartes, Pilzschmerz, Pilztrieb, Pilzmoral, Pilzsexualität, Pilzbefreiung (nicht als die Befreiung VON Pilzen gemeint!), Myconomie, Mycolarisierung, Mycofizierung, Fungizion, Umfungizierung, Mycorrhizaschutz!

 

Titelbild: © Commons Wikimedia

Interviewtf mit Monika Rinck

Monika Rinck (* 1969) ist eine der führenden Experimentatorinnen deutscher Sprache. Für ihr essayistisch-lyrisches Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kleist-Preis und dem Hotlist-Preis für „Risiko und Idiotie“ (KOOKbooks 2015). Im Folgenden ein kurzes Gespräch über die wesentlichen Dinge des Lebens (Displays und dergleichen). www.begriffsstudio.de



Daniel Ableev
Was ist für Sie der aktuell am meisten überschätzte / unterschätzte Schriftsteller / Musiker / Filmemacher / Künstler?

Monika Rinck
DIE MEINUNG.

DA
Welche wirtschaftlichen Auswirkungen hätte Ihrer Meinung nach das Auftauchen eines bisher völlig unbekannten Elektronikherstellers, nennen wir ihn der Einfachheit halber „Sstomozk L“, wenn er Displays auf den Markt brächte, deren Auflösung stets exakt die Summe aus den Auflösungen der aktuellen Display-Modelle von Apple und Samsung bilden würde?

MR
DIESELBEN WIRTSCHAFTLICHEN AUSWIRKUNGEN.

DA
Es gibt auf der Welt verschiedene Sachen wie Züge, Spiegel, Weird usw. Warum gibt es stattdessen nicht nur ein einziges großes, homogenes Ding? Inwiefern ist diese Frage laut möglicherweise unausgesprochenen Philosophieregeln verboten?

MR
Das weiß nur der Igel, der „Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache“. Sie ist nicht verboten, sie ist vollkommen legitim, sagt der Igel.

DA
Was ist das Besondere am Wesen des Sprachungetüms Deutsch?

MR
ICH WERDE DAS PROBLEM MITHILFE EINER VORSILBE LÖSEN.
(Das scheue nacheilende Verb, das alles in der Schwebe hält, bis zum Ende.)

DA
Was halten Sie von der Verwendung realpolitischer Konstellationen wie „Aldi-Tüten“ (S. 181) in Belletristik? Worauf müsste man alles verzichten, wollte man ein Buch mit maximaler Zeitlosigkeit ausstatten?

MR
AUF GEFÜHLE.

DA
Die durchschnittliche Hirndichte eines Europäers beträgt 14 mg/s. Wie hoch ist seine Hirndichte nach Anwendung von Immodium Cahuc (5 μg)?

MR
FRAGEN SIE DEN FUCHS. DER WEISS DAS.

DA
Wie lange wird es dauern, bis Videospiele genauso wohlwollend und hochachtungsvoll etwa in der SZ besprochen werden wie die Heimwerker-Oper „Breaking Bad“ oder Latina Babes?

MR
Warum denn in der SZ?

DA
Was war die verstoerendste Frage, die man Ihnen jemals gestollt hat?

MR
Was ist?

Titelbild: © wikimedia commons

Ein Unterlungwitz mit Mehdi Moradpour

Mehdi Moradpour, geboren 1979 in Teheran, lebt seit 2001 in Deutschland. Er ist freier Autor und Übersetzer/Dolmetscher für Persisch und Spanisch. Vor kurzem wurde sein 2015 beim Autorenwettbewerb der Theater St. Gallen und Konstanz prämiertes Stück mumien. ein heimspiel am Theater Konstanz uraufgeführt.

Ein experimentell-exploratives Interview von und mit Daniel Ableev (DA) und Mehdi Moradpour (MM).


MM
Ist der Bus nach Unterlungwitz schon abgefahren?

DA
Nicht, dass ich wüsste. Wohin wollen Sie?

MM
Nach Oberlungenwitz.

DA
Hmm. Ich würde da an Ihrer Stelle nicht hinfahren … Erzählen Sie mir lieber über Ihr Leben – in drei Worten.

MM
Kreiseln stehen fließen.

DA
Und könntest du jeden dieser drei Begriffe mit je 5 Worten konkretisieren?

MM
Kreiseln: immer wieder neue räume suchen.
Stehen: wahrnehmungsfähigkeiten oszillieren. jemand ist verunsichert.
Fließen: die musik, die wir sind/werden.

DA
Das sind 16 Wörter, Mehdi, 16!!! So geht das nicht!!! Jetzt müssen wir die ganze Chose noch mal machen.

MM
Hab schon wieder schei… gebaut. Schei

DA
Gut, ich merke, wir kommen hier nicht weiter. Wie würdest die moderne Wurmlochtechnologie auf das Theater anwenden wollen?

MM
Wenn ich die Frage richtig verstehe, dann durch einen Tunnel. Wir fressen uns ins düstere Theater hinein und kommen dann vielleicht weiter und landen auf irgendeinem gelben Zwerg. Wo es wärmer und gemütlicher ist. Wenn nicht, dann bleiben wir lieber im Tunnel.

DA
Tunnel ist ein gutes Stichwort. Es gibt ja das Licht am Ende des Tunnels. Kriegst du es denn manchmal zu sehen?

MM
Oft winkt und zwinkert es von draußen. Da stellt man sich vor den Spiegel, macht sich fertig und raus. Nur, manchmal ist es zu hell. Man kommt lieber zurück, als ins Schlingern zu geraten. An der Schwelle des Tunnels, wo man das Draußen beobachten kann, ist es am angenehmsten, bilde ich mir ein. Da lebt man von der Lichtausbeute. Wenn es zu dun-kerl wird, macht dann der Letzte dann das Licht an. Vorübergehend. Jedenfalls ist der Tunnel auch ein schicker Ort voller Eigentümlichkeiten und Stimmen, langweilig ist es nicht. Bist du noch da? Im Tunnel?

DA
Ja, bin von Geburt an Tunnelmensch. Es gibt die Licht- und die Tunneltypen, ich bin eher Letzteres. Ich interessiere mich aber auch sehr für Klümpchen und Klümpchendynamik.

MM
Po-rös. Und goldene Haare wie die entrückten Weiden (persisch). Ensimismado. En ella. Was sind Klümpchen?

DA
Klümpchen, vor allem Quantenklumpen, sind fulminante Zustände des Seins? Aber reden wir doch über Musik: Du magst Pink Floyd. Was noch? Und wie siehts aus mit Wusik?

MM
Eh(e) ich eine List(e) namedrop-ping-ponge, Wusik: die mich an die Grenze bringt, und manchmal zurück. Die mich heimsucht. Die namenlos und riskant ist. Mich enteignet, er- und überfährt. (Er)schöpft. In Bewegung und Stillstand setzt. Und Augen blickt. Gute Musik. Guter Akt. Wüchsige Musik. Wächst du mit Musik oder darunter?

DA
In Köln steht ein russischer Wusiker auf der Straße und spielt ziemlich wirtuos XylopHon, wenn er nicht gerade dabei ist, alle Passanten auf Russisch mit ordentlich Derbheitsschmackes zu verfluchen, wahrscheinlich ihres Banausentums wegen. Ich muss zugeben, dass ich auch zu diesen Banausen gehöre, denn seine verdammt schrillen Töne lass ich mir nur ungern bieten, wenn ich in die wohlverdiente Mittagsjause gehe. Er gehört definitiv nicht auf die Straße, sondern in einen Konzertsaal.

MM
Straßenmusiker gehören eingesperrt, in Konzersälen. Da mach ich mit. In Berlin sehe ich manchmal einen Wut-schicker, der auf drei Sprachen die Straßen unsicher macht, verunsichert. Er gehört auch im Bundestag eingesperrt.
Pink eben. You brought a guitar to punish your ma? Welcome my son, welcome to the machine. Where have you been? What did you dream? Forget it, come to me.

DA
Und was wäre der prätentiöseste Interview-Move, den ich jetzt vom Stapel lassen könnte? Oder ist er das schon?

MM
Dass das Sprechen nicht prätentiös wäre. Du behauptest, du wärest keine Maschine, das wäre was.
Erzähl was von der Zukunft.

DA
Über die Zukunft gibt es nicht viel zu sagen. Die Menschen t/l/flöten munter weiter. Die Tiere sind weiterhin saulieb. Die Pflanzen bleiben bodenständig. Die Matrikelnummern werden an hippe Studenten vergeben, die schräge Mützen in geschlossenen Räumen tragen usw. Neidisch machende Stuhlgänge und stuhlgängige Quanteneffekte im Makro-Alltag werden immer sichtbarer werden, Konsequenz daraus: Aus der Kugelgasse 7 werden sich Geierflügel schälen, um so zu einer raschen Friedhofsänderung zu gelangen, was vor allem die munter durch den Wald tobenden Krabben enorm begünstigen dürfte. Und Maschine wird unendlich heißen & Unendliches verheißen (wollen).
Wie ist deine Prognose für die kommenden 100(00000)0 Jahre?

MM
Erst deine Zukunft. Ich versuche eine Anti-Deckung mit Fräsen und bitte um ein Zertifikat deinerseits: Es gibt eine kugelige Stenipflanze Nr. 7, sie lebt von der Atmosphäre oder von einem Teil von ihr, der vorher gestorben ist. Und es gibt sauliebe Affen, die eine Skulptur untersuchen, die aus Krabbenextremitäten besteht. Die Skulptur ist maschinell von menschlicher Hand geschaffen. Ein Mensch besteht aus etwa zehn Billionen Zellen. Auf und in ihm befinden sich etwa zehnmal so viele Bakterien, die vor ihm da waren. Bekomme ich ein Zukunft-Zertifik-art? Kann ich bitte überleben? Hörst siehst du mich?
#
du möchtest aufhören?
kann ich noch mal nach ganz oben?
korrigieren?
milliarden von menschen warten darauf Daniel
auf messias zukunft.
wo ist dein ohr?
die trächtige stille ist deine antwort?
kann ich noch eine frage?
stromausfall? gut.
auf mehr stimmen für die zukunft.

DA
Was hat dich dazu bewogen, „Daniel“ trotz Kleinschreibung groß zu schreiben? Daniel ist doch nicht wichtiger als zukunft, messias oder ohr?

MM
Das war ein gran-dioser Tipp(topp)fehler, nur das und mehr vielleicht.

DA
Bitte ergänze das folgende Ged8:

Magenkind Premium
macht ein #-Geräusch
und verändert auf diese Weise
___________________.

MM
die Zitrusmarmelade.
Oder muss sich das reimen? Hm …
die Zimmerpreise.

DA
Einverstanden. Dann ergänze doch bitte auch den folgenden Satz:

KICK ASS ist superblutig und superderb – ziemlich gut. Auch hier gilt: Schade, dass wir _____________________________________.

MM
unbefistet gekündigt wurden, nicht unbefristet

DA
Einverstanden. Dann ergänze doch bitte noch die folgende Interviewfrage:
Interessieren Sie sich eigentlich für digitale ________?

MM
Verstopfung

DA
Sorry, das ist leider falsch. Richtig wäre gewesen: Bildbearbeitung.


Beitragsbild: Mehdi Moradpour

Gion Mathias Cavelty! Der Autor im Interview

Gion Mathias Cavelty (geb. 1974) ist ein in Zürich lebender Autor und Kolumnist, dessen erste Veröffentlichung „Quifezit oder Eine Reise im Geigenkoffer“ (Suhrkamp, 1997) den Auftakt zu einer komisch-grotesken Romantrilogie mit den Nachfolgebänden „Ad absurdum oder Eine Reise ins Buchlabyrinth“ (1997) und „Tabula rasa oder Eine Reise ins Reich des Irrsinns“ (1998) bildet. In der 2000 ebenfalls bei Suhrkamp erschienenen Satire „Endlich Nichtleser“ rechnet Cavelty knallhart und präzise mit dem Buchmarkt ab, der von banalen Einfallslosern und Stumpfsinn aller Art und Abart zugekrustet ist. 2009 kam sein fünftes Buch „Die Andouillette oder Etwas Ähnliches wie die Göttliche Komödie“ heraus, um das es im folgenden Gespräch geht:


Daniel Ableev

Die erste Frage, lieber Gion, ist allgemeiner Natur: Wie viel Nichtleser steckt heute in dir, was nichtliest du am liebsten? Lässt sich eine Analogie zu Nichthören und Nichtsehen bilden?

Gion Mathias Cavelty

Vielen Dank, Daniel, für diese wichtige Frage. Da du sie mir schriftlich vorgelegt hast, weiss ich leider nicht, worum es geht, denn ich bin Nichtleser, falls dir das noch nicht bekannt war. Ich lese alle Bücher, die ich nicht geschrieben habe, nicht. Die Bücher, die ich geschrieben habe – bislang sechs an der Zahl, darunter eben „Endlich Nichtleser“ – lese ich auch nicht. Niemand soll sie lesen. Kaufen allerdings schon. Ich bin kein Leser, und auch kein Seher, ich bin ganz eindeutig ein Hörer. Ich höre alles, was sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann.

Dein Buch „Andouillette“, um das es hier geht, ist Myriam gewidmet. Darf man erfahren, wer das ist?

Durchaus.

Und wie kamst du auf die Idee, in diesem Buch Wurst und Dante unter einen Hut zu zaubern?

Ich bin in einem Pariser Bistro fast an einer Andouillette erstickt. Ich wusste nicht, was eine Andouillette ist, habe aufs Geratwohl eine bestellt, weil mir das Wort auf der Speisekarte aufgefallen und sympathisch war. Ich dachte, das sei vielleicht eine Art Wachtelchen oder so. Nun: Das Ding entpuppte sich als üble Höllenwurst. Beim ersten Bissen bin ich fast gestorben. Das stinkende Fleisch ist mir im Hals steckengeblieben, und ich hatte eine Vision, wohl wegen des daraus resultierenden Sauerstoffmangels: Ich war von hellem Licht umgeben, und Gott erschien mir als gigantische Seife. Das war total einleuchtend. Ich suchte dann nach einem Weg, diese Nahtoderfahrung literarisch zu verarbeiten, und da Dante für mich sowieso schon immer der Grösste war, schrieb ich dann meine eigene „Göttliche Komödie“. Die allerdings im Himmel anfängt und in der Hölle endet, also Dante auf den Kopf stellt. Genau das sollte man tun, wenn einem was im Hals stecken bleibt (also sich auf den Kopf stellen. Sich – oder die Welt um einen herum, man kann es sich aussuchen). Hallo? Sind Sie noch da?

Sorry, war kurz verschieden. Aber jetzt bin ich wieder voll existenzbereit und frage ganz unverblümt: Was genau ist eine „pseudostellare Nullstelle“, die zu Beginn dieses offenbar autobiographischen Romans auftaucht?

Das ist etwas sehr, sehr Wichtiges. Du weisst ja, dass sich am 21. Dezember 2012 laut Mayakalender die 33 kosmischen Portale öffnen, damit sich das göttliche Licht des letzten Kristallschädels von Atlantis über das Stirnchakra der Erde ergiessen kann. Da spielen die pseudostellaren Nullstellen eben auch eine gewisse Rolle. Hast du denn in der Primarschule gar kein bisschen aufgepasst?

Ich gebe zu, dass ich sowohl die Grund- als auch Hauptschule durchgepopelt habe. Du hingegen bist, wie mir scheint, in zahlreichen Themen dies- und jenseits der knallharten Naturwissenschaften gut bewandert. Könntest du vielleicht erläutern, warum die Engel und Himmelskardinäle japanische Namen wie „Mimutimaru“ oder „Kardinal Prof. Dr. Akahoshi Akimura“ haben. Oder was die bei 19 Millionen Gigahertz liegende Schwingungsfrequenz der Delphin-Fütterungs-Engel Sakassimaru und die durchschnittliche Kardinalshöhe von 88 Meter zu bedeuten haben? Könnte es sein, dass du ein begeisterter Wissenschaftsparodist bist?

Na ja, da ich von Wissenschaft keine Ahnung habe, bleibt mir gar nichts anderes übrig, als sie zu parodieren. Man sollte generell nur Dinge parodieren, die man nicht kennt. Die Parodien kommen am Schluss echter als das Original heraus (das wurde mir mehrfach bestätigt). Ich habe zum Beispiel einmal eine „Zauberberg“-Parodie geschrieben, ohne das Werk von Thomas Mann gelesen zu haben. Ein Mann-Kenner hat mir dann gesagt, das ich quasi 1:1 den Original-„Zauberberg“ verfasst habe, er sei sogar noch ein bisschen zauberbergiger als der „Zauberberg“. Irgendein griechischer Philosoph hat ja mal gesagt: „Ich weiss, dass ich nichts weiss“. Ich würde das umdrehen: „Ich weiss nicht, dass ich weiss.“ Im Prinzip weiss man alles, nur weiss man das nicht. Was die von dir angesprochenen Jenseits-Vision betrifft: Da ich noch nie im Jenseits war, gehe ich also davon aus, dass sich dort alles genau so abspielt wie von mir geschildert. Dass es dort also nur japanische Kardinäle gibt, die auf Motorrollern herumfahren, die mit Delfin-Urin betrieben werden. Ja, ich fürchte: genau so wird es sein.

Ob „Ableev“ auf Ukrainisch wirklich „Auflauf“ bedeutet oder wie der von dir erwähnte griechische Philosoph heißt, das weiß ich leider nicht (ich weiß ja nicht einmal, was ich alles nicht weiß), aber deine Erklärungen scheinen plausibel. Im sechsten Kapitel – dem Purgatorium – hast du plötzlich die Form einer Monstrosität mit Fischkopf und Tentakeln angenommen. War das Motion-Capturing-Verfahren anstrengend?

Nicht ich selbst verwandle mich in dieses Fischmonster, sondern der Ich-Erzähler, das ist ein gewisser Unterschied. Ganz am Anfang des Buches stirbt der Ich-Erzähler, als Seele durchstreift er den Himmel (der Gott und somit eine gigantische Seife ist) und dann fällt er durch ein Loch im Himmel zurück auf die Erde, wo er in die Holzstatue von Tattuschili – eben diesem Fischungeheuer – fährt. Im Fortsetzungsroman zu „Die Andouillette“ nimmt das Fischmonster dann übrigens die Gestalt des österreichischen Sängers und Entertainers Peter Alexander an. Ganz schön esoterisch, finde ich. Peter Alexander ist übrigens just einen Monat nach Erscheinen der Fortsetzung (Titel: „Die letztesten Dinge“) gestorben. Da besteht ganz eindeutig ein metaphysischer Zusammenhang.

Hmm, eine beachtliche Verknüpfung. Ebenfalls beachtlich sind die stylishen und originellen Illustrationen, die in der Buchmitte ihr äußerst bizarres Unwesen präsentieren. Wie bist du mit den beiden Künstlern Beni Bischof und Yves Netzhammer in Kontakt gekommen und was kannst du über sie und ihre bildnerische Leistung erzählen? Und nebenbei gesagt: Vielleicht kannst bzw. solltest du eines Tages als Run-G.M.C. ein Rap-Album herausbringen.

Das ist eine gute Idee. Ich könnte auch die General Motors Company gründen. Oder dem Gambia Muslim Congress beitreten. – Beni Bischof und Yves Netzhammer sind zwei Schweizer Künstler ungefähr in meinem Alter, beide bewundere ich schon lange, und es war eine Riesenfreude für mich, dass sie ihre crazy Illustrationen zum Buch beigesteuert haben. Check out their work! Auf einem Rap-Album habe ich übrigens schon mal mitgemacht (Gimma: „Unmensch“).

Das zwölfte Kapitel, die Hölle, ist ganz großes Fleischtennis. Es gibt dort Dämonen des Eiters, einen blinden, verrückten Tintenfisch und überhaupt ganz viel Schwarzen Quatsch. Welche (fleischlichen) Inspirationen aus Film, TV, Radio etc. haben dich bei diesem „Höllen“ geritten?

Ich habe viel – real existierenden – okkulten Nonsens gelesen, Dutzende von spätmittelalterlichen Grimoires, Dämonenbeschwörungen von und à la Aleister Crowley, kiloweise gnostischen Kram etc. Nicht speziell für die „Andouillette“, sondern schon früher. Auf die Idee, dass die Hölle ganz aus Fleisch besteht und der Leibhaftige (genauer gesagt: DIE Leibhaftige) eine Wurst ist, bin ich allerdings selbst gekommen. Fleisch fasziniert mich sehr, wenn auch nur theoretisch. Ich weigere mich zum Beispiel standhaft, kochen zu lernen, weil mir Fleisch Angst macht. „Das Wort ist Fleisch geworden“ ist trotzdem mein Lieblingszitat aus der Bibel. Eines Tages wird mir das gelingen – aus Buchstaben so einen Homunkulus herzustellen, der mir dann zum Beispiel den Fernseher reparieren kann. Oder meine Texte schreiben. ’nen kleinen Wurstgolem. Ich werde ihn „Andi“ taufen.

Ach, ich weiß, das ganze un- bzw. abartige Fleisch. Aber Wurstgolem – genial! Apropos Happen: Irgendwann stolpert man in deinem Roman über den „Phallus Dei“– es gibt ja ein tolles Krautbum von Amon Düül II mit diesem Titel. Und das führt mich direkt zu der Frage, ob und inwieweit Musik, speziell Heavy „Fucking“ Metal, dich beim Schreiben antreibt. Ist es für dich zum Beispiel schwer, dem Schwermetall im Rahmen eines Buches keine Reverenz zu erweisen und dein Metalfan-Sein zeitweise zurückzuhalten? Wie viel Prozent Metal stecken denn wirklich in der Hölle, und ist Luzifer wahrhaftig ein wüst shreddender Saitenhexer?

Luzifer stelle ich mir eher wie Andi Borg vom Musikantenstadl vor. Hoppla, da ist der Name Andi ja schon wieder! Wobei sich Andi Borg mit Doppel-y schreibt, also Andyy oder AndDoppel-y. Zum Thema Metal nur so viel: „Endlich Nichtleser“ habe ich in sieben Tagen geschrieben, und dazu lief nonstop (!) der Song „Start the Fire“ von Metal Church, geschätzte 7000 Mal. Metal macht dich zur Maschine. Zur Schreibmaschine.

Lieber Gion – ich danke dir in der Tat für dieses sehr interessante Gespräch und wünsche dir alles Gute.

Lieber Dave, ich möchte dir auch noch einmal ausdrücklich für dieses sehr interessante Gespräch danken und dir alles Gute wünschen. Und einen herzlichen Gruss an die Frau Mutter.

Titelbild: Andri Pol