Schlagwort: Weird Fiction

Neun Seltsamkeiten in deutscher Sprache – NIGHTTRAIN: WINDSCHATTEN

Erik R. Andara, Sascha Dinse, Ina Elbracht, Christian Veit Eschenfelder, Alla Leshenko, Michael Perkampus, Tobias Reckermann, Philipp Schaab und Felix Woitkowski: Sie alle sind mit ihren „dunkelfantastischen Genregrenzgängen“ in einem Band versammelt, der nach „Next Weird“ nun das Projekt einer deutschsprachigen Weird Fiction weiter vorantreibt.


Den 6. März 2019 kann man sich getrost als wichtiges Datum für die deutschsprachige Weird Fiction merken. Es ist der Erscheinungstag von „Nighttrain: Windschatten“, einer 120-seitigen Anthologie mit Kurzgeschichten von neun deutschen Autoren und Autorinnen. Sie versammelt alte und neue, etablierte und aufstrebende AutorInnen, die einen spannenden Querschnitt durch das bieten, was weit abseits des Mainstreams in den Schatten wächst und gedeiht.

Kurze Eindrücke der Weird Fiction

Die erste Geschichte, „Nachsehen“ von Ina Elbracht, gibt direkt den Ton vor. Altbekannte Themen von Hoffmanns „Sandmann“ bis zu „Blade Runner“ werden in eine zeitgemäße Form gebracht: Wer ist echt, wer ist künstlich, und wie erkennt man den Unterschied? Das Ende kommt abrupt, für meinen Geschmack hätte die Geschichte ruhig länger sein dürfen – aber das ist vielleicht auch den Beschränkungen einer Anthologie geschuldet.

Christian Veit Eschenfelders „Sagittarius“ ist eine Science-Fiction-Geschichte in einer wirklich sonderbaren, beeindruckend ausgearbeiteten Zukunft. Der Protagonist ist ein Hehler unmöglicher Waren und die Geschichte ein perfektes Beispiel für das, was diese Anthologie ausmacht: eindringliche Atmosphäre und echte Seltsamkeit. Wie bei „Nachsehen“ kommt für mich auch bei Erik R. Andaras Geschichte „Das Zittern der Welt“ das Ende zu plötzlich, viele Fragen bleiben offen – aber der Weg dahin ist wahrhaft lohnend. Andara bedient sich eines hypnotischen Stils, um den Leser tief in die Welt eines Mannes mit hämmernden Kopfschmerzen und zusammengekniffenen Augen zu versetzen. Unmöglich, die Geschichte nicht in einem Rutsch zu lesen!

Surreale Unheimlichkeiten

„Ich sehe was, was Du nicht siehst“ von Alla Leshenko ist die vierte Geschichte des Bandes. Ein Mann sieht Dinge und verliert die Kontrolle über sein Leben. Während er einen Account bei einer Online-Partnerbörse einrichtet, wird er von grausigen Visionen und schließlich einer handfesten Erscheinung heimgesucht. Die Autorin experimentiert mit zwei Perspektiven (Dittrich und Doris) und verleiht damit dem Schluss zusätzliche Wucht. „Die Stadt der Leuchtenden Schmetterlinge“ ist der Beitrag von Philipp Schabe und entführt seine LeserInnen in einen italienischen Friedhof, der für den Protagonisten zu neuem (altem?) Leben und grotesken Proportionen erwacht. Die Geschichte nimmt sich Zeit, bis sie plötzlich ins Grauenhafte abrutscht und der Protagonist verzweifelt versucht, in die normale Welt zurückzukehren.

Sascha Dinses „Mise en abyme“ ist surreal und unheimlich; die Stadt verwandelt sich in etwas Unbekanntes und Unverständliches, in eine von Ratten beherrschte Welt. Ist die Wirklichkeit das, wofür wir sie halten? Dinse erzeugt eine großartige Atmosphäre und treibt seinen Protagonisten mit gruseligen Gesprächen und Szenen voran. „Die Straße ‚Malheur‘“ von Michael Perkampus handelt von der titelgebenden Straße, die wie aus einer anderen Welt unheilvoll ins Herz einer Stadt eindringt. Die Sprache ist lyrisch und verspielt, lenkt jedoch nicht von den Schrecken der Straße ab: Und die Verortung in der Geschichte trägt sehr dazu bei, eine glaubhafte „Suspension of disbelief“ zu ermöglichen.

Vertrautheit, Unvertrautheit

Tobias Reckermann ist Herausgeber der Anthologie und hat selbst auch eine Geschichte beigetragen: „Weg hinauf“. Die Geschichte ist die kürzeste des Bandes und lebt vor allem von ihren plastischen Beschreibungen. Der Protagonist klettert in eine Höhle, in der sich insbesondere die Felszeichnungen einer Jagd dauerhaft ins Gedächtnis einbrennen. Die letzte Geschichte der Anthologie ist schließlich Felix Woitkowskis „Membran“, in der die nächtliche Erforschung eines Hauses schnell ins Bizarre abgleitet und sich zum Ende hin dramatisch zuspitzt. Sie mischt Kafka mit Urban Exploration und erzeugt dabei etwas ganz Eigenes, das ich in dieser Form vorher noch nicht gelesen hatte.

Zusammenfassend kann man sagen, dass alle Geschichten in „Nighttrain: Windschatten“ mehr oder weniger kurze Ausschnitte darstellen, sie sind streifende Schlaglichter in der großen Dunkelheit der deutschsprachigen Weird Fiction. Sie sind im Alltag angesiedelt, in den plötzlich das Unvertraute eindringt: entweder als Seltsamkeit in die gewöhnliche Welt oder als unerwartete Seltsamkeit in eine ohnehin seltsame Welt.

Viele Erzählungen haben ein offenes Ende ohne definitive Antworten, nur selten erfährt man das Wie, Was oder Warum. Die Schauplätze sind liebevoll ausgearbeitet und mit Details für alle Sinne zum Leben erweckt; sie erzeugen eine starke, greifbare Atmosphäre, die den Leser oder die Leserin regelrecht einsaugen kann. Die ProtagonistInnen sind oft verschrobene EinzelgängerInnen, die bereits zu Beginn von der Gesellschaft isoliert und somit anfälliger für die Sonderbarkeiten jenseits ihrer Sperrzäune sind. Es geht also um Grenzgänge, um die Seiten der Welt, die normalerweise in ihren Ecken und Falten verborgen sind: Und es geht um die Entfremdung, die oft unter der Last des Alltags verschüttet wird. Von mir eine klare Leseempfehlung.

„Windschatten“ erschien am 6. März 2019 bei Nighttrain und hat 120 Seiten.

Coverbild: © Nighttrain

Kunst und kosmisches Grauen – HINAUS DURCH DIE ZWEITE TÜR

Eine Vernissage im Wald. Ein heruntergekommener Wohnwagen. Zwei Freunde, zwei Künstler: einer, dessen echtes Talent verkümmert ist, und einer, dessen Teufelspakt mit den Musen sein verkümmertes Talent echt werden lässt. In einer nur hundertseitigen Novelle erweckt Erik R. Andara die alten Meister des kosmischen Grauens zu neuem Leben und geht gleichzeitig über sie hinaus, um mit seiner Geschichte über Kunst und deren Preis auf eigenen Füßen zu stehen.


Am 29. September 2018 erschien im Nighttrain (einem Imprint des Whitetrain) die auf 100 Exemplare und 100 Seiten limitierte Novelle „Hinaus durch die zweite Tür“ von Erik R. Andara. Wer bislang noch nie von Andara gehört hat, sollte sich den Namen nun merken: sein Roman-Debüt „Im Garten Numen“ wird in Kürze erscheinen und könnte eine Renaissance der deutschsprachigen Weird Fiction befördern.

„Hinaus durch die zweite Tür“ ist rasch zu lesen und auf der Erzählebene nicht allzu kompliziert. Alles beginnt auf einer Lichtung im Wald. Alfred hat sein unbestreitbares Talent und seine gleißende Zukunft als Maler für ein geregeltes Einkommen und eine ereignislose Ehe begraben. Sein weit weniger talentierter Ex-Kommilitone Claus Patera hat zu einer Freiluft-Vernissage in der Wildnis geladen: und alles, was in der Kunstwelt Rang und Namen hat, ist gekommen.

Doch die Dinge sind nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen: Claus Patera hat sich verändert, und die Lichtung ist nun Teil seiner fremdartigen und verstörenden Welt. Die Novelle lässt sich im Wesentlichen in drei Teile gliedern: Sie beginnt mit Alfreds Ankunft auf der Lichtung, geht dann in die von Claus (der nicht nur wortwörtlich sein Gesicht verloren hat) erzählte Hintergrundgeschichte über, und kulminiert in einem letzten Akt, über den ich hier nicht zu viel verraten möchte.

Erik R. Andaras Sprache ist ganz leicht schwerfällig, manchmal etwas umständlich und altmodisch, aber sie hat einen Rhythmus, einen Sog, eine geradezu magnetische Anziehungskraft. Andara versteht es meisterhaft, eine Stimmung zu erzeugen und seine LeserInnen in die Bilder (man könnte sagen: Gemälde) seiner Geschichte hineinzuversetzen. Es ist hart, das Buch zur Seite zu legen, und es verfolgt seine LeserInnen auch nach dem letzten Wort noch weiter.

Wie in Alfred Kubins „Die andere Seite“, von dem die Novelle mehr als nur einige Namen übernommen hat, geht es hier um Inspiration und um die Opfer, die Künstler für ihre Kunst zu bringen bereit sind. Sowohl der Protagonist Alfred als auch sein ehemaliger Freund Claus durchleben eine Schaffenskrise, und beide sind am Ende bereit, einen erschreckenden Preis für deren Überwindung zu zahlen. Es geht um Ambition und um Scheitern, um Talent und um den Rausch, den nur der Schaffensakt gewähren kann.

Thematisch mag die Novelle in der Tradition von „Faust“ oder „Das Bildnis von Dorian Gray“ stehen: verwandt ist sie jedoch enger mit Lovecraft und dessen besten Nachfolgern. Der zentrale Teufelspakt ist „klassischer“ kosmischer Horror, und die dichte Stimmung erinnert an die weitgehend totgesagte österreichische Phantastik.

Das Grauen der Geschichte bleibt in weiten Teilen mehrdeutig, und oft ist nicht klar zu sagen, was der Protagonist wirklich erlebt und was ein Traum ist. Die Musen und ihre Surrealität sind nur aus dem Augenwinkel zu erahnen, sie leben in der Welt zwischen zwei Lidschlägen und sind nicht wirklich fassbar: im Nebel, in den Wolken, hinter der zweiten Tür.

Die Grundidee um den Künstler und seinen Teufelspakt mit der Kreativität mag nicht komplett neu sein, aber sie wird kraftvoll und leidenschaftlich vorgetragen. Andara bleibt in manchem vage und lässt vieles offen, aber er findet gekonnt den logischen Schlusspunkt seiner Geschichte und das Ende einer Reise, die mit dem ersten Satz (in dem Alfreds größte Sorge noch der Lack seines Autos ist) beginnt.

„Hinaus durch die zweite Tür“ erschien bei Nighttrain und hat 100 Seiten.

Coverbild: © Nighttrain/Whitetrain

Von Fleischfalten und Schraubenknochen – Dempow Torishima: SISYPHEAN

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Cronenberg trifft Kafka trifft Ligotti trifft H. R. Giger in Dempow Torishimas Roman „Sisyphean“, einem japanischen New-Weird-Roman, der nun in englischer Übersetzung erhältlich ist und eine Zukunft voller Biotechnologie und Genmanipulation schildert, in der Fleisch, Haut und Körperflüssigkeiten das Baumaterial der Wahl zu sein scheinen.

Ein Gastbeitrag von Dennis Mombauer.


Der Haikasoru-Verlag hat sich zum Ziel gesetzt, ausgewählte japanische Literatur einem englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen – den jüngsten Beitrag dazu leistet nun „Sisyphean“ (Kaikin no to) von Dempow Torishima. Der Roman ist etwa 300 Seiten lang und erschien ursprünglich 2011 in Japan. Er ist nun seit März 2018 in der englischen Übersetzung von Daniel Huddleston sowohl gedruckt als auch als eBook erhältlich.

Es ist schwer, der einzigartigen, exquisiten Fremdartigkeit des Romans und seines Universums in einer Rezension gerecht zu werden: er ist ein Vorstoß in unerforschte Regionen, ein unglaublich dichtes und komplexes Experiment in Sprache und Inhalt, das in der mir bekannten Literatur seinesgleichen sucht. Auf nur 300 Seiten entfaltet Torishima ein (von ihm selbst auch wunderbar illustriertes) Universum aus Raumfahrt und Bio-Horror, japanischer Mythologie und alptraumhaften Arbeitsabläufen, Genmanipulation und Sinnsuche, das viel Zeit zum Lesen und noch mehr zum Verstehen benötigt.

In vier Teilen werden die Geschichten eines Arbeiters in einer Organfabrik, eines jungen Taxonomisten in einer Welt von Mutanten, eines unsichtbaren „Dodgejobbers“ und einer Karawane von Yeti-Kreaturen erzählt, die jeweils eine andere Facette des Universums beleuchten.

Wuchern und Wachsen

Dabei zieht sich eine cronenbergsche Groteskheit durch den Roman, tropft und sickert von jeder Seite in einer Flut organischer Apparaturen und symbiotischer Biotechnologie. Allein in den ersten Abschnitten finden sich stringbeasts und coffin eels, bloodtide wayfarers, skinboad-panelled walls, fabric knitted with muscle fiber, corpuscytes, synthorganic digestive tracks, winedregs, meatpleats, slimecakes und skingloves, stillveins cords, guidejuices, neurofungi und vieles mehr.

Reizüberflutung und Abnutzungseffekte

Der Einfallsreichtum und das schiere Ausmaß von Torishimas Vorstellungskraft überwältigen zu Beginn des Romans vollständig, und die erste Hälfte verlässt sich auf die Neugier der Leser, in eine andere Welt einzutauchen. Dabei stellen sich jedoch auch Probleme ein: Die ausführliche Beschreibung von Räumen, Lebewesen und Gerätschaften erzeugt einen Abnutzungseffekt und erzielt manchmal paradoxerweise das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung. Das Fremdartige wird durch die Flut bizarrer Details nicht fremdartiger, sondern gewöhnlicher – und damit langweiliger. Was beispielsweise Thomas Ligotti mit wenigen wohlplatzierten Sätzen erzielt und was den Leser bis ins Mark erschüttert, stellt sich hier nicht im selben Maße ein.

Weniger Beschreibung hätte dem Roman an vielen Stellen gut getan: der Präsident in der ersten Geschichte erinnert beispielsweise an Ligottis „Our Temporary Supervisor“ oder auch „The Town Manager“, ist aber so sehr im (zugegebenermaßen höchst fremdartigen) Detail beschrieben, dass wenig Geheimnisvolles übrig bleibt. Und doch: Sätze wie „He showed the worker their still-beating hearts—about the size of sesame seeds—as they floated clear of the puffy cloads of red now spreading out in his fingers.” oder “The President did perceive sounds by way of a different sort of system, but it tended to interpret the worker’s voice as static.” sind brillant.

An manchen Stellen kommt es zum Fremdwort-Overload, so dass Sätze aus dem Zusammenhang gegriffen völlig unverständlich wirken: “He could see the groundship’s coaxer holding an emerald-hued magatama that it had extracted from the corpse of a canvasser.” An anderen Stellen wirken die Benennungen irritierend und (unfreiwillig?) komisch, beispielsweise wenn von Marrowpens mit Marrowink, Landsoup, Cobbleshell Roads, Exoshelletons oder Bonemeal Bread die Rede ist, oder driften gar ins Alberne ab (der Bonedriver löst die Screwbones).

Im Bio-Büro

Bemerkenswert ist, dass der Roman trotz aller Fremdartigkeit in weiten Teilen überraschend wiedererkennbare Probleme und Arbeitserfahrungen schildert, vor allem im ersten Viertel teilweise beinah enttäuschend banal ist – verärgerte Chefs und Schlafmangel, lange Schichten, die in der Erinnerung zusammenlaufen und sich vermischen; strikte Hierarchien, mechanische Abläufe und die Aufsicht übermächtiger Vorgesetzter; ein zu kaltes Büro, Arbeitszwang trotz Krankheit, alternativloses Kantinenessen, ungeliebte Kollegen und übermächtige Bosse, die in einer anderen Welt zu leben scheinen. Es ist dabei vielleicht kein Wunder, dass dieser Roman aus der japanischen Kultur geboren wurde: die komplette Aufopferung für die Firma („should the product not be ready on time, he would be the one literally cutting his own stomach open”) erinnern stark an das Klischee japanischer Firmenloyalität und an Karōshi, Todesfälle durch Überarbeitung.

Fazit

Die Handlung ist geschickt zusammengefügt und enthüllt die Mechanismen der Welt aus verschiedenen Perspektiven. Nach und nach erschließen sich die Vorgeschichte und die Hintergründe des Universums, was zwar unweigerlich eine gewisse Entzauberung mit sich bringt, aber auch für zahlreiche Aha-Effekte sorgt. Die verschiedenen Elemente sind nicht willkürlich eingestreut, sondern gehören mit System zusammen, und Torishima bedient sich einer Formensprache und Ideenwelt, die zumindest für mich sehr unverbraucht wirkt und einen frischen Hauch in die doch immer noch überwiegend westlich zentrierte Fantasy und Science Fiction bringt.

Von mir trotz gewisser Längen und hoher Anforderungen eine klare Kaufempfehlung: es gibt nichts Vergleichbares.


Autorenfoto MombauerDennis Mombauer, Jahrgang 1984, wuchs »am Rhein« auf und zog studienbedingt nach Köln, wo er heute lebt und arbeitet. Er schreibt Kurzgeschichten, Romane und Flash Fiction und ist Mitherausgeber von »Die Novelle – Zeitschrift für Experimentelles« (http://novelle.wtf/de/). Dort Beiträge zu experimenteller Genre-Literatur und eigene experimentelle Texte. Diverse Veröffentlichungen in englisch- und deutschsprachigen Zeitschriften und Anthologien.

 

Wildes vom Wuppertaler Seltsamann mit dem Sondermann

Eugen Egner Totlachen im Schlaf Cover

Eugen Egner schafft es, in Totlachen im Schlaf das Groteske des bürgerlichen Lebens abzubilden, und geht dabei rabiate Wege – übrigens auch orthographisch.


Ohne Egner, der von sich sagt, das Groteske sei schon immer Teil seines Lebens und Strebens gewesen, wäre viel wertvolles Seltsamkraut à la „Eines Abends beim Fernsehen erfand mein Vater die Kleinfamilie“ nie gesät und geerntet worden. Klar, für die meisten sind solche Albernheiten eher Unkraut, das gejätet gehört. Aber Egners Bücher – so auch sein Erzählungsband Totlachen im Schlaf – sind zum Glück nicht für die meisten gedacht.

Die Leitmotive in den 13 Kurzgeschichten und der titelgebenden Erzählung am Schluss sind: Mond, Mädchen, Paviane. Wie schon in seinen letzten Veröffentlichungen „Schmutz“ oder „Nach Hause“ gibt es hier eine bürgerlich-realistische Prosa, die von wirrtuosem Wahnwitzismus umweirdet wird. Während die Ausgangssituationen tendenziell wenig Aufsehen erregen und die Protagonisten unphantastische Namen wie „ich“, „Arland“ oder „Schumann“ tragen, lauert hinter der nächsten Buchseite mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit eine knallharte Egnereske. Thematisiert werden unter anderem die obskure Zeitschrift „Der Monddoktor“, eine krasse Krankheit, deren Opfer, durch ein Sekret begünstigt, zum Festkleben in möglichst hohen Baumkronen neigen, ein bizarres Pseudomädchen auf Staub- und Strahlenbasis, das Klarkommen eines erwachsenen Mannes mit seinem „inneren Mädchen“, ein seelengetriebener Anrufbeantworter … und der absurd schlechte/gute (bzw. so schlechte, dass schon wieder gute, also schluchte (und vice versa)) Komiker mit dem derbe reinknackenden Familiennamen Müller-Pavian, der nicht nur seinen guten Draht zum Mond, sondern auch seine Opfer im Schlaf mit unsagbar komischen Killerwitzen ins Jenseits zu amüsieren pflegt. Am Ende mündet jedenfalls alles, Robert Aickmans Strange Stories nicht unähnlich, ins traum-/paralogische Abseits, worin sich herrliche Hinweise auf das Unaussprechliche zu einer Abstrusitätssingularität sublimieren.

Intermeßßo: Was Orthographie angeht, setzt Egner voll auf Old School. Und man kanns ihm nicht verdenken – zwar mag „dass“ oder „müsste“ phonetisch logischer sein, doch ein „daß“ oder „müßte“ strahlt einfach eine besondere Wärme aus, die der neuen Rechtschreibung nicht länger eigen zu sein scheint. Man versinkt plötzlich in den unendlichen Sommern der 90er, als Kurt Cobain noch lebte, DJ Bobo noch bobote und Tablet-PCs nur einigen wenigen Auserwählten (Jean-Luc Picard, Data usw.) vorbehalten waren …

Was in Egners Geschichten ein wenig stört, ist das Stilmittel der rhetorischen Nachfrage, welche die aus ihrem mehr oder weniger bequemen Alltag herausgerissenen Protagonisten allzu gerne an sich selbst oder den Leser stellen: „Wie hatte sie auf den Mond geraten können?“, „Wie kann ich in dieser Zeit so gealtert sein?“, „Wenn die vier keine ‚Mädchen’ waren, was waren sie dann?“ usw. Der vom Autor immer wieder aufgedrängte Abgleich mit der (extradiegetischen) Normalität, in der Paviane keine Schallplatten abspielen (von Aufnehmen ganz zu schweigen), schwächt die Phantastik – imho – tendenziell ab. Aber nicht das Fazit: Egners gar schröckliche Kühnae sind ganz schön besonderbarer Kult made in Germanland.