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Voltaire und der Islamische Staat

Mohammed-Karikaturen haben in Frankreich eine jahrhundertelange Tradition. Doch nicht immer galten sie, wie eine überraschende Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ zeigt, dem Islam.


Im Jahr 630 eroberte Mohammed Mekka. Alles andere, was darüber hinaus in „Der Fanatismus oder Mohammed geschieht, entstammt der Phantasie Voltaires, der das Stück 1741 veröffentlichte. Das ist wichtig, denn wen das Stück eigentlich diffamiert, muss jede*r für sich selbst entscheiden. So will es die Geschichte. Und Voltaire macht Mohammed immerhin zum listigen Auftrags-Mörder und skrupellosen Machtstrategen. Jüngst erschien das fast vergessene Werk in Neuübersetzung beim ebenfalls jungen Verlag Das Kulturelle Gedächtnis. Nicht nur erweckt Herausgeber und Übersetzer Tobias Roth darin Voltaires aufklärerischen Geist durch detailgetreue Arbeit zu neuem Leben, auch präsentiert er den kulturgeschichtlichen Lauf, den das Stück selbst in den letzten 276 Jahren genommen hat. Und verortet damit auch die Neuausgabe passgenau im Jahr 2017. Denn der Leseeindruck kommt nicht ohne eine Färbung durch aktuelle Ereignisse aus, was sicher kein Zufall ist. Aber worum geht es in dem Stück?

Mohammed tritt darin als Feldherr auf, der Mekka erobern möchte, und Saïd, seinen Sklaven, zur Ermordung des Statthalters anstiftet. Ihm wird eine Hochzeit mit seiner Geliebten Palmire, der Tochter ebendieses Statthalters, in Aussicht gestellt. Voltaires Mohammed tritt ihm dabei nicht nur als Freund und Förderer entgegen, sondern auch als Prophet und Heilsversprecher, und stiftet ihn letztlich zum religiös motivierten Verbrechen an, an dem dieser selbst nichts Schlechtes erkennen kann. Zur Hochzeit kommt es allerdings nicht mehr, da Mohammed ihm schon vor der Tat ein verzögert wirkendes Gift verabreicht. Auch dieser nämlich begehrt Palmire. Vermutlich wäre die Hochzeit Saïds und Palmires aber ohnehin entfallen, da ersterer nach seiner Tat erfährt, dass sein Opfer nicht nur der Vater seiner Geliebten, sondern auch sein eigener war. Seine Geliebte ist seine Schwester. Saïd stirbt und hält sein überraschendes Ableben noch für eine gerechte Strafe Gottes. Palmire indes durchschaut das Verbrechen des vermeintlichen Propheten und töten sich selbst, anstatt sich ihm hinzugeben. Mohammed reagiert pragmatisch, erobert Mekka und widmet sich fortan ganz seinem Plan zu, „mit Gott die Welt zu führen“.

Genauso frei erfunden wie Mohammeds Charakterzüge übrigens ist in Voltaires Erstausgabe auch der damals vorangestellte Briefwechsel mit Papst Benedikt XIV. Zwar standen beide tatsächlich in Korrespondenz, doch Voltaire dichtet den oberflächlichen Wertschätzungen eine leidenschaftliche Fachdiskussion über lateinische Poesie und Versmaße hinzu. Stück wie Präsentation desselben entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Karikaturen. Auch Roths Edition enthält diesen Briefwechsel, der ohne kritische Einführung, die erst im Nachwort geliefert wird, tatsächlich irritiert. Eingeleitet wird die Ausgabe außerdem postmodern mit zwei kommentarlos vorangestellten Fragmenten Voltaires, in denen dieser sich unter historisch-wissenschaftlichen Stichpunkten über die Grundfeste der drei Weltreligionen lustigmachen. Es gibt, so wird festgestellt, nunmal keine sprechenden Schlangen, keine Archen, in die alle Tiere passen und eben auch keinen Sohn Gottes.

Insgesamt versammelt der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis hier eine literarisch hochwertige Textsammlung und tut dies nicht ohne kulturellen Anspruch. Voltaire entwarf seine religiösen Karikaturen, um konkret den christlichen Klerus vorzuführen und allgemein religiöse Imperative als machtpolitische Instrumente zu entschlüsseln – und gleichzeitig vor ihnen zu warnen. Von seiner Veröffentlichung an war auch das Stück selbst ein Instrument und das sollte sich, so lernen wir in Roths Nachwort, auch in seiner weiteren Editions- und Inszenierungsgeschichte nie ändern.

Es wurde in Teilen Frankreichs unmittelbar verboten, dann als Protestwerkzeug inszeniert, setzte sich im Zuge der Aufklärung als Klassiker durch. In der Terreur-Periode der Französischen Revolution fielen pazifistische Passagen in Inszenierungen heraus, um später unter Jubel wieder aufgenommen zu werden. Bereits über Friedrich II. wird es auch Teil der deutschen Kulturgeschichte, spätestens durch eine Übersetzung Goethes fester Bestandteil davon. Dieser nimmt sich die Freiheit, für eine eigene Inszenierung religionspolitische Komponenten herauszustreichen und seinem Publikum die Tragödie von Saïd und Zapire lieber als komprimierte Shakespearean tragedy zu präsentieren. Den religiösen Konflikt, den Fanatismus, empfindet er für sein Publikum schlichtweg als uninteressant. Einerseits entinstrumentalisiert er das Stück damit tatsächlich ein wenig und feiert es für seinen, wie auch Schiller findet, „bloßen Stoff“, andererseits muss er einer Kritik Voltaires stellen, die dieser im Widmungsbrief des Stücks an Friedrich II. liefert:

„Wer sagt, dass die Zeit solcher Verbrechen vorüber ist […], dass die Flammen der Religionskriege erloschen sind, der tut, wie mir scheint, der menschlichen Natur eine zu große Ehre an.“

So aktuell diese Kritik heute schon wieder klingt, so uninteressant wirkt aus heutiger Sicht Goethes Übersetzung. Und tatsächlich scheint das kurze Zitat die Grundfeste der vorliegenden Neuübersetzung zu bilden. Jeder Zensor des Stücks, so bemerkte Tobias Roth am Rande seines postmondän-Interviews, stelle sich in der von ihm aufgestellten Chronologie sehr präzise bloß. Das stimmt. Doch bei allen metadiskursiven Bemühungen verorten sich Nachwort und gesamte Edition doch ebenfalls recht präzise in dieser Reihe. Vermutlich ließe es sich mit einigen Jahren Abstand von Zeithistorikern auch ohne Impressum noch problemlos auf das Jahr 2017 datieren.

Denn für Voltaire war seine Mohammed-Karikatur eine Metapher auf den genauso mächtigen wie radikalen christlich Klerus, gegen den er zeitlebens ankämpfte. Die Edition im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis lässt den Gedanken zu, was für eine Schlagkraft der Text hätte, wäre er nicht 1741, sondern heute erstveröffentlicht worden – und wäre etwa gegen den IS gerichtet. Das Grundmotiv einer irdischen Gruppierung, die aus einem religiösen Bedürfnis Kapital schlägt, lässt sich allemal übertragen, zumal sich ja auch der IS unmittelbar auf Mohammed beruft. Nicht zuletzt bietet der Band ja eine sehr elegante Weise an, mit kulturgeschichtlichem Hintergrund die Mechanismen des IS-Terrorismus in ihrer banalen Boshaftigkeit zu durchschauen. Nur unterliegt er hierbei auch einem in sich bipolaren Grundgedanken, und will sagen:

„Seht her, hier steht alles, was ihr in eurer Verblendung falsch versteht, in ganz klaren, einfachen Formeln. Ihr braucht im Grunde nur diese neuübersetzte, fast 300 Jahre alte, kritisch editierte und zum besseren Verständnis um zwei frühere Essais des Autoren sowie Widmungsbriefe ergänzte französische Tragödie zu lesen. Gut, ein Restrisiko besteht, dass ihr das ganze Projekt als Provokation auslegt, was ja nun auch keiner will, aber im Grunde ist im sorgfältigen Nachwort, wenn ihr es nochmal genau lest, doch nun wirklich alles gesagt.“

Genau diese Haltung macht die Neuausgabe aber genauso lesenswert wie notwendig. Denn ihre größte Stärke liegt darin, für die begrenzte Perspektive jedes Zeitgeists zu sensibilisieren. Allen voran des eigenen.

Indiezukunft: Tobias Roth – Verlag “Das Kulturelle Gedächtnis”

Verlag Das Kulturelle Gedächtnis

Wie sieht die Zukunft der unabhängigen Verlagsbranche aus? Zwischen Digitalisierung, dem ewig zitierten Niedergang des Printgeschäfts und chronischer Finanzierungsnot gibt es immer noch zahlreiche junge Independent-Verlage, die unsere literarische Landschaft mit ihren Programmen aufwerten. Wir möchten diesem besonderen Bereich zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen und suchen gemeinsam mit unseren Interviewpartnern nach Wegen in die Zukunft.

Als Auftakt haben wir mit dem Autor, Lyriker und Übersetzer Tobias Roth gesprochen, der neuerdings auch im neugegründeten Verlag Das Kulturelle Gedächtnis zeitlose Texte mitverlegt.


Tobias, wie ist es zur Gründung des Verlags “Das Kulturelle Gedächtnis” gekommen?

Die Idee entstand durch private Bekanntschaften und klassische Küchentischgespräche nach dem Abendessen. Dort wurde uns sehr schnell klar, dass alle Beteiligten die Leidenschaft für Bücher und besonders für ältere Texte verbindet. Eines unserer meistdiskutierten Themen war, dass viele dieser Texte oft keinen verlegerischen Ort finden, da sie vermeintlich zu entlegen sind, zu schräg, zu heiß, oder eben nicht die Leserschaft des Kanons hinter sich haben, wie das beispielsweise der Fall wäre, wenn man Schilleraphorismen herausbringen würde. Diese Küchentischgespräche erweiterten sich immer mehr und verselbstständigten sich. Bevor wir uns versahen, entwickelten wir erste Skizzen für ein Verlagsprogramm und auf einmal standen wir dann auch schon beim Notar, mit dem Vorhaben einen neuen Verlag als GmbH eintragen zu lassen. Wir sind also vom Grundsatz her ein klassischer Independent-Verlag, der eigenes Kapital einsetzt, aber auch durch stille Unterstützer gefördert wird. Wichtig ist auch, dass wir alle Gewinne, die wir erwirtschaften, im Verlag belassen und uns selbst keine Honorare für unsere Arbeit zahlen. Es geht um Unabhängigkeit und Konituität des Programms. Wenn es also gut läuft, werden nicht wir reich, sondern die durchgängig vielfarbigen Folianten kommen aufs Programm. Gleichzeitig gibt es intern keine typischen Verlagshierarchien, wir machen alle gemeinsam Programm, wir sitzen immer noch am Küchentisch.

Dann stell euer Team doch bitte kurz vor! Wer arbeitet an dem Projekt mit?

Im Endeffekt sind wir zu viert.

Als erstes Peter Graf, bekannt als Verleger bei WALDE+GRAF, der mit seinem geballten verlegerischen Know-How Herzschlag des Ganzen ist und dafür nicht selten seinen eigenen Ruhepuls riskiert.

Dann der Carsten Pfeiffer, ein Vertriebler und wundervoller Bibliomane, der sich vor allem im Fundament der Zahlen auskennt, wo naturgemäß wichtige Mechanik der Maschine Verlag beheimatet ist.

Und der Thomas Böhm, dessen Stimme man aus dem Radio und von allerhand Bühnen kennt. Thomas ist ein absolutes Veranstaltungs- und Moderationstalent, Quatsch: Veranstaltungs- und Moderationsmeister! Er hat lange das Literaturhaus Köln geleitet und beispielsweise den berüchtigten Gastauftritt Islands auf der Frankfurter Buchmesse auf dem Kerbholz.

Ich selbst bin Autor, Philologe, Übersetzer, der von der ganzen verlegerischen Seite noch am wenigsten Ahnung hatte und jetzt natürlich das Glück hat, mitten in der geballten Erfahrung zu sitzen. Ich bekomme einen Crashkurs in Sachen Verlagswesen.

Außerdem sind wir durch die Verbindungen Peters an die grandiosen Gestalter von 2xGoldstein aus Karlsruhe und studio stg aus Berlin gekommen, die für die Optik unseres Verlags und unserer Bücher verantwortlich sind.

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Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis in der Kulturbrauerei. V.l.n.r.: Thomas Böhm, Tobias Roth, der Schauspieler Frederic Böhle. Photo: Insa Langhorst.

Wie seid ihr zu dem Namen „Das Kulturelle Gedächtnis“ gekommen?

Die Prägung des Begriffs „kulturelles Gedächtnis“ stammt natürlich nicht von uns, sondern wurde vom Ehepaar Assmann genial aus der Taufe gehoben. Es beschreibt schlichtweg das, was menschliche Kultur schon hervorgebracht hat und was noch zur Verfügung steht. Teile dieses Gedächtnisses sind in den Hintergrund geschoben worden, aber sie sind trotzdem noch vorhanden. Genau an diesem Punkt wollen wir ansetzen, denn wir sind der Meinung, dass viele dieser Bestände gerade in unserer Zeit höchst nützlich sind. Wir wollen also eine Art Goldgräberrolle einnehmen, indem wir uns fragen: „Was gibt es gerade für aktuelle Diskurse und Probleme? Welche Analysen und Lösungsvorschläge gab es dazu schon, die aber nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen?“ Anhand dieser Fragen wählen wir Titel aus, die meist vergriffen, nicht (brauchbar) übersetzt, schwer zugänglich oder durch Fraktur distanziert sind. Diese verlegen wir in moderner Aufmachung, kommentieren sie, schreiben Nachworte, bereiten das Material auf. Wir sind also in diesem Sinne nicht nur Goldgräber, sondern auch Staubwegpuster.

„Astu non vi. – Mit List, nicht mit Kraft.“

Motto des Verlags „Das Kulturelle Gedächtnis“

Wir wollen eine Stimme in den Diskurs einbringen, die allein schon durch ihre historische Distanz einen besonderen, angeschrägten Winkel hat, aber trotzdem in die Diskussion eingespeist werden kann. Natürlich können wir diese historischen Ansätze nicht als servierfertige Lösungen aktueller Probleme ansetzen, aber wir können uns an den Standards und dem Niveau der Reflektion dieser Gedanken orientieren und dadurch unsere eigenen Standpunkte hinterfragen.

Wie siehst du diesen Ansatz mit der gegenwärtigen Art des Diskurses vereinbar?

Ich denke, dass wir uns momentan in einer Art Umbruchphase befinden – vielleicht vergleichbar mit der Zeit um 1500, als der Buchdruck die Art der Meinungsbildung radikal verändert hat. Ähnlich sehe ich den Einfluss des Internets, das ganz neue Informationsströme und dementsprechend auch eine neue Medienkompetenz erfordert. Diese Kanäle können und wollen wir uns natürlich auch zunutze machen. Aber klar, veränderte Fließgeschwindigkeit von Information verändert den ganzen Zeitbezug.

Natürlich könnte man die Einspeisung eines 200 Jahre alten Kommentars in den Diskurs als radikalen Gegenentwurf zur „News-Bubble“, in der man sich beispielsweise im Facebook-Feed befindet, interpretieren. Da wird auch ein zeitlicher Horizont hereingebracht, der – wie es scheint – in unserer heutigen Fortschrittskultur nicht vorgesehen ist. Die Gegenwart und die Projektion auf die Zukunft scheinen heute die entscheidenden gedanklichen Richtungen zu sein, weniger die Besinnung auf eine qualitätvolle Vergangenheit. Diese Verkürzung des Horizonts führt dazu, dass wir einige Imperative unserer Zeit, die aus dieser unbeachteten Vergangenheit stammen, gar nicht mehr in ihrer Genese und Absicht verstehen. Gerade solche Distanzen kann man, denke ich, mit dem Vehikel unseres Verlags gut überbrücken. Denn wir wollen ja nicht auf kontra mit einer gegenwärtigen Denk- oder Informationskultur gehen.

Die Idee „alte Gedanken in neuem Gewand“ zu verlegen spiegelt sich auch in eurem Programm wieder. Kannst du uns einen Titel exemplarisch vorstellen?

Sehr gerne! Die Idee der Diskurs- und Denkanregung wird in unserer Reihe GEGENSCHUSS wohl am besten deutlich. In den Büchern dieser Reihe ist schon im Format eine Mehrstimmigkeit angelegt, denn man kann sie von zwei Seiten lesen. Es sind also zwei Texte zu einem Thema, die sich konfrontativ ergänzen und dadurch eine kompetetive Symbiose bilden.

Der erste Band unseres Formats GEGENSCHUSS stellt den Text „Der Diplomat“ von Jules Cambon den „Die Regel des Duells“ von Franz von Bolgár gegenüber.

Cambon beschreibt sehr feinsinnig, wie durch die Kunst der Diplomatie Konfliktlösungen ohne Anwendung von Gewalt gefunden werden können. Wenn man das Buch dann um 180° dreht, gelangt man zu schnellsten Art der Konfliktlösung – nämlich dem Duell mit tödlichen Waffen, dessen Regeln im Text von Franz von Bolgár ausgeführt sind. Diese Vorgehensweise zielt auf eine unmittelbare Lösung des Konflikts ab, die aber trotzdem noch in einer zivilisierten Art von statten gehen soll. Innerhalb des Buches wird durch die ständige Rotation der Konfliktlösungen eine Reflektion unserer eigenen Konfrontationen angeregt.

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Ihr nutzt also die Art der Aufmachung und des Designs eurer Bücher als diskursives Instrument?

Zunächst sind wir sehr darum bemüht, dass bei dem Design unserer Bücher unmittelbar klar wird, dass es uns nicht darum geht, eine weitere „Klassikerbibliothek“ zu machen. Wir setzen da in Zusammenarbeit mit unseren kreativen Designstudios auf innovative gestalterische Mittel. Unsere Titel sind beispielsweise sehr bunt geprägt und wir scheuen uns auch nicht vor Seiten mit schwarz-weiß-Inversionen oder ähnlichem, auf den Umschlägen steht viel Text. Einige unserer Doppelseiten erinnern vielleicht eher an die Aufmachung einer hippen Literaturzeitschrift, als an Klassiker. Andererseits gibt es viele Elemente klassischer Buchkunst: etwa, dass alle Bände einen farbigen Kopfschnitt haben und es keine Schutzumschläge gibt. Auch die Materialität soll unseren Spagat kommunizieren: „Voilà alte Texte, aber diese Texte sind für heute.“

Das drückt auch unseren Anspruch an die Texte aus, die wir verlegen. Nur „alt“ reicht eben nicht, sondern sie müssen eine gewisse Qualität und eine zeitgenössische Relevanz besitzen. Die Art unseres Designs ist auch eine Einladung an unsere Leser. Wir wollen zeigen, dass diese Texte lesbar und nützlich sind, brauchbar. Und, das soll nicht zu kurz kommen: dass man mit ihnen großen Lesegenuss haben kann, Freude und neue Erfahrungen.

Abschließend noch ein großes Thema, das gerade für Independent-Verlage relevant ist: Ein Buch ist heute mindestens zu gleichen Teilen Konsumprodukt und künstlerische Ausdrucksform. Wie siehst du dieses Spannungsverhältnis?

Ich denke, dass man zwischen diesen beiden Polen, die sich scheinbar gegeneinander abstoßen vermitteln und differenzieren muss. Ganz klar ist einerseits: Vollkommen brotlose Kunst kann nicht funktionieren, denn dann hast du kein Brot zum Essen. Andererseits ist ein Buch kein Produkt, sondern eine Verlängerung des Gedächtnisses, wie Luis Borges schon gesagt hat.

“Das Buch ist eine Verlängerung des Gedächtnisses und der Vorstellung.”

Luis Borges

Wir als Verlag haben uns dann dazu entschieden, vor allem schöne  und wertige Bücher zu machen. Denn wir glauben, dass das materielle Produkt Buch auf ganz besondere Weise Bezauberungspotential hat und für seinen Inhalt wirbt.

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Der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis im Roten Salon der Volksbühne. V.l.n.r.: Die Schauspielerin Kathie Angerer, Peter Graf und Thomas Böhm. Photo: Insa Langhorst.

Ihr als junger Independent-Verlag habt euch also bewusst dazu entschieden, euch klassisch in den sich diversifizierenden Buchmärkten zu positionieren? Da gibt es heute ja auch viele Stimmen, die etwa den digitalen Weg predigen.

Natürlich kann man sagen, dass wir durch unsere Ausrichtung auf Klassiker im Printformat heute eine bibliophile Nische des Buchmarktes bedienen. Aber man muss gleichzeitig bedenken, dass das eine verdammt große Nische ist. Kaum ein anderes Produkt hält sich so widerstandsfähig im Markt, wie das gedruckte Buch. Seit Jahrhunderten ist das System des gedruckten Buches eine funktionierende Maschine, die funktioniert und in ihrer Schönheit wertgeschätzt wird. Das gilt sogar für das einzelne Teil: Du schlägst ein Buch von 1517 auf und das Ding als Objekt und Maschine funktioniert einwandfrei, ohne Abstriche. Aus diesem Grunde bin ich sehr zuversichtlich, dass gerade junge Independent-Verlage in der Zukunft noch Zutrauen in dieses Format setzen werden. Ist doch auch verdammt schön, so ein Buch!

Wie steht ihr denn perspektivisch zu einer digitalen Umsetzung eurer Titel?

Wir schließen das nicht kategorisch aus. Allerdings haben wir festgestellt, dass viele unserer Darstellungs- und Gestaltungsformen digital nur schwer umsetzbar wären. Wir wollen uns für die Zukunft aber offenhalten, dass wir zu einzelnen Titeln auch neue Darreichungsformen, etwa als E-Book, wählen. Allerdings sind wir der Überzeugung, dass man immer am einzelnen Titel ansetzen muss, um die Vor- und Nachteile zu beurteilen und dann dementsprechend umzusetzen.

Wir haben uns zunächst dagegen entschieden, neben unseren Printtiteln als Nebenprodukt pauschal auch E-Books auszuspucken. Denn wenn man das so nebeneinander laufen lässt, wächst die Gattung des E-Books als Darreichungsform nicht mit und emanzipiert sich nicht in einer sinnvollen und schönen Weise vom Printbuch. Wir wollen das Buch als Textträger, das eine sinnliche Erfahrung bietet, respektieren.


Tobias RothTobias Roth (*1985) lebt in Berlin und München als Autor, Philologe und Übersetzer aus dem Italienischen, Französischen und Lateinischen. 2013 erschien im Verlagshaus Berlin sein Debut „Aus Waben“, das mit dem Wolfgang-Weyrauch-Förderpreis (2013) und dem Bayerischen Kunstförderpreis (2015) ausgezeichnet wurde. 2016 förderte das Bezirksamt Mitte von Berlin einen Text Roths auf den Straßen von Moabit (1600m Schlämmkreide, Koproduktion mit Sophia Pompéry) und produzierte der Homunculus Verlag Erlangen einen anderen als Tischdecke (100% Baumwolle, Koproduktion mit Julius Walther). 2017 erschienen bisher seine Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ (Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin), sowie die von Roth herausgegebene Anthologie „Lob der mechanischen Ente“ (SuKuLTuR Verlag, Berlin).


Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Wir empfehlen das Stöbern im Herbstprogramm des Verlags “Das Kulturelle Gedächtnis”