Schlagwort: Theater

Peers Penis oder Eidingers Finger?

Peer Gynt an der Schaubühne in Berlin ist eine Inszenierung Lars Eidingers – in mehrfachem Sinn. Mit diesem Satz ist schon vieles gesagt, ja, vielleicht alles.


Oder man geht hin und beschreibt das Bühnenbild des Aktionskünstlers John Bock, thematisiert das große Stoffgebilde mitten auf der Bühne – verziert mit unzähligen Stoffwürsten, vielleicht Zitzen, vielleicht Penisse, schwer zu sagen. Das Gebilde, das von einigen Rezensent٭innen als ruhender Elefant erkannt wurde, von anderen als undefinierbares Plüschtier, sich am Schluss aber doch eindeutig als übergroßer Kuheuter herausgestellt.

Penis & Porno

Oder man entscheidet sich für eine Rezension, in der man alle Wortwitze einflicht: Peer-fect, Peer-peroni, peer pedes, Peer-rücke. Ja, Perücken gab es einige, und Kostüme auch, aber selten mit richtiger Hose. Immer nur mit Unterhose. Überall Unterhosen. Oder halt nur Penis. Nicht Peers Penis, sondern eher Lars’ Penis. Kennt man. Und dann wären da noch die ganzen Intertextualität: Songfetzen von a-ha, Zitate von Kanye West oder Brecht.

Das zuvor bei der Buchung angekündigte pornografische Material ist dabei kaum provozierend im Gegensatz zum ekelhaften Rumgeschmier: Bier, Tiefkühlpizza, saure Gurken, Cola, Eier in einen Standmixer püriert und dann getrunken, bis einem beim Zugucken die Galle hochkommt. Aber auch nichts Neues an der Schaubühne: Hat sich nicht in Thomas Bernhards „Das Kalkwerk“ Schauspieler Felix Römer in kiloweise Eiern und Mehl selbst paniert?

Profilneurose & Publikum

Und was bleibt? Henrik Ibsens „Peer Gynt“? Ja, wahrscheinlich. Ist die Inszenierung doch ebenso weit weg wie nah dran am dramatischen Gedicht über den lügenden Bauernsohn und seine realitätsfernen Fantasiewelten. Aber ganz zum Schluss steht immer nur eines im Scheinwerferlicht: die Suche nach der eigenen Bedeutung, nach Geltung. Und eben Lars Eidinger, Lars Eidinger, Lars Eidinger und Lars Eidinger.

Lars Eidinger, © Benjakon

Hier soll aber kurz der Blick weg von ihm – sorry! – und das Licht auf jene Menschen geworfen werden, die ihm eine Bühne bauen: sein Publikum. Denn kaum erscheint er (Mist, da ist er ja wieder!) am Anfang auf der übergroßen Leinwand, sorgen einzelne Zuschauer٭innen für Irritationen. Sie zücken die Handys. Bei Konzerten bekannt, aber im Theater? Als er seine ersten Takte zum Besten gibt, filmen einige. Auch nach der Vorstellung machen ein paar Zuschauer٭innen weiter Bilder – ein Foto mit Lars Eidinger an der Bar. Eidinger, der Popstar der Theaterwelt. Und ja, es ist unmöglich, einen Absatz in einem Review eines Lars-Eidinger-Stücks zu schreiben, ohne ihn zu erwähnen. Aber ein Versuch war es wert.

Peer & Presse

In der Presse gibt es keinen Konsens. Einige loben, andere zerreißen. Viele können sich nicht entscheiden: Ist das „Taten-Drang-Drama“ nun gut oder schlecht? Oder mehr so mittel? Oder hat man selbst sie nur einfach nicht verstanden, die Inszenierung, Nebenverweise und Andeutungen übersehen? Oder war es nicht doch eher eine Performance, eine Peer-formance? Und kann man dem Ganzen mit bloßer Beschreibung des Bühnenbilds oder einzelnen Aktionen gerecht werden?

Vielleicht ist es der Reizüberflutung geschuldet, dass es gar nicht einfach ist, hier zu urteilen. Gut gespielt war es, keine Frage. Fast zurückhaltend für Eidinger-Verhältnisse. Und teilweise wirklich gute Ideen. Aber auch diese Rezension kann sich nicht entscheiden. Und so bleibt am Schluss dieser eine Satz: „Peer Gynt an der Schaubühne in Berlin ist eine Inszenierung Lars Eidingers – in mehrfachem Sinn.“

PS: Eidinger – oder war es Gynt? – hat sich übrigens den Finger abgeschnitten. Aber kein Grund zur Sorge, es ist alles wieder dran. Weiteres ist einschlägigen Medien zu entnehmen.

Titelbild: Peer Gynt, ein Taten-Drang-Drama von John Bock und Lars Eidinger, © Benjakon

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Der widersprüchliche Humorist

Meistens bringen Jubiläen zu Geburtstagen von öffentlichen Personen oder historischen Großereignissen für den Buchmarkt nur die massenweise Aufwärmung biographisch und wissenschaftlich bereits gut aufgearbeiteter Themen. Doch hin und wieder werden dadurch auch großartige neue Standartwerke geschaffen. Zu letzterem gehört Stephan Parkers Biographie Bertolt Brecht anlässlich des 120. Geburtstags des Schriftstellers. Dies ist ein umfangreich recherchierter großer Wurf.


Als britischer Germanist war Parker bislang als Spezialist für die Literaturzeitschrift Sinn und Form bekannt. Mit seinem neuen, über 1.000 Seiten dicken Buch legt er eine vollständige Biographie des großen Bertolt Brecht vor, ohne sich in ideologischen Spielereien zu verlieren. In fünf Teilen geht Parker von Brechts Jugend in Augsburg und ersten Gedichten, über frühe dramatische Versuche im Stile des experimentellen oder epischen Theaters, das auf Vernunft und Kritik statt auf Emotion und Katharsis setzt, über sein marxistisches Engagement, seine Flucht vor den Nazis, über Finnland und die USA und seine späteren Probleme mit einer die Kunst zensierenden DDR. Doch Parker bleibt nicht nur bei Brechts literarischen, theoretischen und politischen Arbeiten stehen: Dazwischen geht es auch immer wieder um gesundheitliche Probleme, Frauengeschichten, Anekdoten und Streitereien mit zahlreichen anderen Intellektuellen.

Parkers Ziel ist es nämlich nicht, den literaturwissenschaftlichen Fokus auf Brecht als (unorthodoxen) Marxisten beizubehalten, sondern diese Einseitigkeit aufzubrechen, und damit die Darstellung einer so vielschichtigen Figur plastisch und kontextualisiert darzustellen – zugegeben, ich habe selbst Brecht vornehmlich als politischen Autor behandelt. Damit gelingt es ihm, dass er weder politische noch literarische Ambitionen und Arbeiten herunterstilisiert, noch Brechts Persönlichkeit als manischer Dichter zwischen Appetit, Lust, Askese und schwacher Gesundheit, zwischen Machotum, Sarkasmus, Aggressivität und Sensibilität zu kurz kommen.

Zwischen Revolution und Humanismus

Dabei zeigt der Biograph, dass er fähig ist, ein ausgewogenes Bild zu zeichnen, das meist affirmativ, aber hin und wieder auch kritisch ist – etwa bezüglich Brechts krassen Reaktionen auf Konkurrenten oder ihn ablehnende Frauen. Dabei stellt Parker Brecht als einen widersprüchlichen Humoristen und Gesellschaftskritiker dar. Und all das passiert in einem flüssigen, verständlichen Stil, der gleichzeitig breite Kenntnisse und wissenschaftliche Integrität beinhaltet.

Bertolt Brecht, widersprüchlicher Humorist.

Als einziges Manko des Buches, abseits weniger Kleinigkeiten, gilt eigentlich nur, wie Parker Brechts literarische Schaffensphasen einteilt. Er geht davon aus, dass mit Brechts Theaterstück Mutter Courage und ihre Kinder eine Wende in seinem Werk stattfinden würde; nämlich weg von einem revolutionären Marxismus, der Gewalt als Notwendigkeit begreift (wie in früheren Werken wie Die Maßnahme) hin zum pazifistischen Humanismus. Zwar stimmt es, dass Brecht stets gegen den Krieg war, aber nicht gegen die Revolution (die zwangsweise Gewalt inkludiert). Denn das nach der Mutter Courage erschienene Stück Der gute Mensch von Sezuan, auf das Parker erstaunlicher Weise kaum eingeht, ist dann doch wieder in einem kritisch-revolutionären Duktus geschrieben.

Bis auf solche Vereinfachungen, hinter der durchaus Parkers Wunsch stehen kann, den von ihm verehrten Brecht zum Humanisten zu machen, ist das Buch doch eine der besten Biographien, die je über den großartigen Schriftsteller geschrieben wurde. Das ist etwas, das viele deutsche Germanisten und Experten stören könnte, kommt dieses Buch doch von einem Briten. Ein großartiges Werk über einen großartigen Dichter.

Bertolt Brecht. Eine Biographie von Stephen Parker erschien in Übersetzung von Ulrich Fries und Irmgard Müller im Suhrkamp Verlag und hat 1.030 Seiten.

Beitragsbild: Berliner Ensemble, © Moritz Haase.

Glaube Liebe Hoffnung. Horváths kleine Denkanregung

Dem Maxim Gorki Theater ist ein beeindruckend unaufgeregter Totentanz gelungen. Oder sollte man sagen bedrückend?

„Ich lebe, ich weiss nicht wie lang,
Ich sterbe, ich weiss nicht wann,
Ich fahre, ich weiss nicht wohin,
Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“

 

Am 13. Januar feierte „Glaube Liebe Hoffnung“ Premiere im Maxim Gorki Theater. Das zugrunde liegende Drama Ödön von Horváths erschien 1932 und im Grunde nimmt dessen Untertitel „Ein Totentanz in fünf Bildern“ bereits einiges der Handlung vorweg, die um Elisabeth, eine junge Frau, kreist. Dabei hat Elisabeth streng genommen bloß ein bürokratisches Problem. Sie ist lebensfroh, und um sich über Wasser halten zu können, möchte sie arbeiten. Um dies zu dürfen, benötigt sie einen Wandergewerbeschein. Der kostet eine Gebühr, die sie aktuell, vor allem bedingt durch den Tod ihres Vaters, nicht aufbringen kann. Es gibt für sie vier Optionen. Sie könnte einen Mann finden, der sie aus Liebe finanziert. Sie könnte einen Arbeitgeber finden, der ihr den Wandergewerbeschein vorfinanziert, bei dem sie diesen abarbeiten kann. Sie könnte ihren Körper nach ihrem Tod zu Forschungszwecken dem Anatomischen Institut vermachen und dafür zu Lebzeiten auszahlen lassen. Sie könnte illegal ohne Wandergewerbeschein arbeiten.

Die Optionen sind unterschiedlich gut und weil sie diese in der falschen Reihenfolge durchgeht, ist sie gezwungen, gleich alle zu verwirklichen – mit mittelmäßigem Erfolg: Da sie zunächst illegal tätig ist, wird sie zu einer Geldstrafe verurteilt. Um diese abzuzahlen, muss sie ehrliche Arbeit aufnehmen, in der sie sich wiederum für einen Wandergewerbeschein verschulden muss. Da ihre Gesamtschulden nun so hoch sind, dass ihr Gehalt nicht zum Überleben ausreicht, sucht sie das Anatomische Institut auf. Hier beginnt das Stück.

Mehmet Ateşçi & Sesede Terziyan in „Glaube Liebe Hoffnung“, Regie: Hakan Savaş Micans, © Ute Langkafel

Anstatt Elisabeths wechselhaftes Leben facettenreich zu erzählen, konzentriert sich die Handlung auf Momente, in denen sie langsam aber sicher aus diesem herausgezogen wird. Sie selbst hält sich zwar tapfer mit Glaube, Liebe und Hoffnung über Wasser, doch einmal in den Schlingen der Bürokratie verfangen, kann einem auch die wohlgesonnene Gesellschaft um einen herum nicht mehr helfen. Immerhin fehlt ihr ja ein Dokument. Und schließlich haben alle dabei etwas zu verlieren – und sei es nur die Karriere. So trifft sie auf Personen, die ihr zwar Mitleid und Wohlwollen entgegenbringen, und ihr wäre ja durchaus zu helfen, doch am Ende verspricht sich eben niemand einen persönlichen Vorteil davon. Was das Drama zu einem Stück über Verantwortung und die Bedingungen von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft macht.

„Ohne Glaube Liebe Hoffnung gibt es logischerweise kein Leben. Das resultiert alles voneinander.“

 

Der Originaltext ist bereits so prägnant, dass die Inszenierung noch nicht einmal in guter Gorki-Manier auf progressive Überspitzungen zurückgreifen muss. Dass das Fehlen des Wandergewerbescheins in diesem persönlichen Drama völlig austauschbar gegen heute begehrtere Dokumente wie eine Arbeitserlaubnis oder Aufenhaltsgenehmigung ist, wird auch so deutlich. Das entzeitlichte Bühnenbild hilft dennoch. Die entfremdeten, zum Publikum gewandten Dialoge erhöhen ebenfalls die Offenheit des Stoffs, musikalische Unterbrechungen dessen Ertragbarkeit. Manchmal fehlt zum Glück bloß ein bestimmter Papierfetzen. Im Gorki und unter der Regie Hakan Savaş Micans wird weder groß moralisiert noch dramatisch aufgeblasen, sondern bloß dahingestellt – was die Inszenierung auf subtilste Weise ins epische Theater verlagert. Irgendwie wird deutlich, dass die Charaktere auf der Bühne sich zwischenmenschlich nicht mit Ruhm bekleckern, und das ungute Gefühl macht sich breit, man müsste sich eigentlich dazustellen. So verbleibt die Inszenierung im Kopf ihres Publikums als kleine Denkanregung. Horváth wird sie damit mehr als gerecht.

Zitate: Ödön von Horváth – „Glaube Liebe Hoffnung“
Titelbild: © Esra Rotthoff

Voltaire und der Islamische Staat

Mohammed-Karikaturen haben in Frankreich eine jahrhundertelange Tradition. Doch nicht immer galten sie, wie eine überraschende Neuübersetzung von Voltaires „Der Fanatismus oder Mohammed“ zeigt, dem Islam.


Im Jahr 630 eroberte Mohammed Mekka. Alles andere, was darüber hinaus in „Der Fanatismus oder Mohammed geschieht, entstammt der Phantasie Voltaires, der das Stück 1741 veröffentlichte. Das ist wichtig, denn wen das Stück eigentlich diffamiert, muss jede*r für sich selbst entscheiden. So will es die Geschichte. Und Voltaire macht Mohammed immerhin zum listigen Auftrags-Mörder und skrupellosen Machtstrategen. Jüngst erschien das fast vergessene Werk in Neuübersetzung beim ebenfalls jungen Verlag Das Kulturelle Gedächtnis. Nicht nur erweckt Herausgeber und Übersetzer Tobias Roth darin Voltaires aufklärerischen Geist durch detailgetreue Arbeit zu neuem Leben, auch präsentiert er den kulturgeschichtlichen Lauf, den das Stück selbst in den letzten 276 Jahren genommen hat. Und verortet damit auch die Neuausgabe passgenau im Jahr 2017. Denn der Leseeindruck kommt nicht ohne eine Färbung durch aktuelle Ereignisse aus, was sicher kein Zufall ist. Aber worum geht es in dem Stück?

Mohammed tritt darin als Feldherr auf, der Mekka erobern möchte, und Saïd, seinen Sklaven, zur Ermordung des Statthalters anstiftet. Ihm wird eine Hochzeit mit seiner Geliebten Palmire, der Tochter ebendieses Statthalters, in Aussicht gestellt. Voltaires Mohammed tritt ihm dabei nicht nur als Freund und Förderer entgegen, sondern auch als Prophet und Heilsversprecher, und stiftet ihn letztlich zum religiös motivierten Verbrechen an, an dem dieser selbst nichts Schlechtes erkennen kann. Zur Hochzeit kommt es allerdings nicht mehr, da Mohammed ihm schon vor der Tat ein verzögert wirkendes Gift verabreicht. Auch dieser nämlich begehrt Palmire. Vermutlich wäre die Hochzeit Saïds und Palmires aber ohnehin entfallen, da ersterer nach seiner Tat erfährt, dass sein Opfer nicht nur der Vater seiner Geliebten, sondern auch sein eigener war. Seine Geliebte ist seine Schwester. Saïd stirbt und hält sein überraschendes Ableben noch für eine gerechte Strafe Gottes. Palmire indes durchschaut das Verbrechen des vermeintlichen Propheten und töten sich selbst, anstatt sich ihm hinzugeben. Mohammed reagiert pragmatisch, erobert Mekka und widmet sich fortan ganz seinem Plan zu, „mit Gott die Welt zu führen“.

Genauso frei erfunden wie Mohammeds Charakterzüge übrigens ist in Voltaires Erstausgabe auch der damals vorangestellte Briefwechsel mit Papst Benedikt XIV. Zwar standen beide tatsächlich in Korrespondenz, doch Voltaire dichtet den oberflächlichen Wertschätzungen eine leidenschaftliche Fachdiskussion über lateinische Poesie und Versmaße hinzu. Stück wie Präsentation desselben entpuppen sich bei näherer Betrachtung als Karikaturen. Auch Roths Edition enthält diesen Briefwechsel, der ohne kritische Einführung, die erst im Nachwort geliefert wird, tatsächlich irritiert. Eingeleitet wird die Ausgabe außerdem postmodern mit zwei kommentarlos vorangestellten Fragmenten Voltaires, in denen dieser sich unter historisch-wissenschaftlichen Stichpunkten über die Grundfeste der drei Weltreligionen lustigmachen. Es gibt, so wird festgestellt, nunmal keine sprechenden Schlangen, keine Archen, in die alle Tiere passen und eben auch keinen Sohn Gottes.

Insgesamt versammelt der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis hier eine literarisch hochwertige Textsammlung und tut dies nicht ohne kulturellen Anspruch. Voltaire entwarf seine religiösen Karikaturen, um konkret den christlichen Klerus vorzuführen und allgemein religiöse Imperative als machtpolitische Instrumente zu entschlüsseln – und gleichzeitig vor ihnen zu warnen. Von seiner Veröffentlichung an war auch das Stück selbst ein Instrument und das sollte sich, so lernen wir in Roths Nachwort, auch in seiner weiteren Editions- und Inszenierungsgeschichte nie ändern.

Es wurde in Teilen Frankreichs unmittelbar verboten, dann als Protestwerkzeug inszeniert, setzte sich im Zuge der Aufklärung als Klassiker durch. In der Terreur-Periode der Französischen Revolution fielen pazifistische Passagen in Inszenierungen heraus, um später unter Jubel wieder aufgenommen zu werden. Bereits über Friedrich II. wird es auch Teil der deutschen Kulturgeschichte, spätestens durch eine Übersetzung Goethes fester Bestandteil davon. Dieser nimmt sich die Freiheit, für eine eigene Inszenierung religionspolitische Komponenten herauszustreichen und seinem Publikum die Tragödie von Saïd und Zapire lieber als komprimierte Shakespearean tragedy zu präsentieren. Den religiösen Konflikt, den Fanatismus, empfindet er für sein Publikum schlichtweg als uninteressant. Einerseits entinstrumentalisiert er das Stück damit tatsächlich ein wenig und feiert es für seinen, wie auch Schiller findet, „bloßen Stoff“, andererseits muss er einer Kritik Voltaires stellen, die dieser im Widmungsbrief des Stücks an Friedrich II. liefert:

„Wer sagt, dass die Zeit solcher Verbrechen vorüber ist […], dass die Flammen der Religionskriege erloschen sind, der tut, wie mir scheint, der menschlichen Natur eine zu große Ehre an.“

So aktuell diese Kritik heute schon wieder klingt, so uninteressant wirkt aus heutiger Sicht Goethes Übersetzung. Und tatsächlich scheint das kurze Zitat die Grundfeste der vorliegenden Neuübersetzung zu bilden. Jeder Zensor des Stücks, so bemerkte Tobias Roth am Rande seines postmondän-Interviews, stelle sich in der von ihm aufgestellten Chronologie sehr präzise bloß. Das stimmt. Doch bei allen metadiskursiven Bemühungen verorten sich Nachwort und gesamte Edition doch ebenfalls recht präzise in dieser Reihe. Vermutlich ließe es sich mit einigen Jahren Abstand von Zeithistorikern auch ohne Impressum noch problemlos auf das Jahr 2017 datieren.

Denn für Voltaire war seine Mohammed-Karikatur eine Metapher auf den genauso mächtigen wie radikalen christlich Klerus, gegen den er zeitlebens ankämpfte. Die Edition im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis lässt den Gedanken zu, was für eine Schlagkraft der Text hätte, wäre er nicht 1741, sondern heute erstveröffentlicht worden – und wäre etwa gegen den IS gerichtet. Das Grundmotiv einer irdischen Gruppierung, die aus einem religiösen Bedürfnis Kapital schlägt, lässt sich allemal übertragen, zumal sich ja auch der IS unmittelbar auf Mohammed beruft. Nicht zuletzt bietet der Band ja eine sehr elegante Weise an, mit kulturgeschichtlichem Hintergrund die Mechanismen des IS-Terrorismus in ihrer banalen Boshaftigkeit zu durchschauen. Nur unterliegt er hierbei auch einem in sich bipolaren Grundgedanken, und will sagen:

„Seht her, hier steht alles, was ihr in eurer Verblendung falsch versteht, in ganz klaren, einfachen Formeln. Ihr braucht im Grunde nur diese neuübersetzte, fast 300 Jahre alte, kritisch editierte und zum besseren Verständnis um zwei frühere Essais des Autoren sowie Widmungsbriefe ergänzte französische Tragödie zu lesen. Gut, ein Restrisiko besteht, dass ihr das ganze Projekt als Provokation auslegt, was ja nun auch keiner will, aber im Grunde ist im sorgfältigen Nachwort, wenn ihr es nochmal genau lest, doch nun wirklich alles gesagt.“

Genau diese Haltung macht die Neuausgabe aber genauso lesenswert wie notwendig. Denn ihre größte Stärke liegt darin, für die begrenzte Perspektive jedes Zeitgeists zu sensibilisieren. Allen voran des eigenen.

Der altbekannte Fremde in neuem Licht

Lebendig, wortgewaltig und erschreckend nah steht uns der Mörder Meursaults im Studio der Schaubühne gegenüber. Wir sehen den Fremden von Albert Camus. Oder sind es die Fremden von Philipp Preuss? Gespielt von von Bernardo Arias Porras, Iris Becher und Felix Römer.


Meursaults hat einen Mord begangen. Unter der brennenden Mittagssonne am Strand von Algier stehend erschoss er einen Mann. Fünf Schüsse hat er abgegeben, dabei war sein Opfer bereits nach dem Ersten tot. Doch warum hat er geschossen? Und warum fünf Mal? Nun ist er angeklagt. Für diesen Mord?

In seinem Buch „Der Fremde“ zeichnet Camus das Bild eines Menschen, der sein eigenes Leben als teilnahmsloser Beobachter beschreibt. Aber nicht nur diese Beobachtung ist frei von Emotionen, auch der Mann, der hier beobachtet wird, ist es. Er besteht darauf, das Recht zu haben, keine Emotionen zu haben, da das, was er empfände, doch ohnehin nichts an der Situation ändere. Aus diesem Grund kann er zur Rechtfertigung seines Mordes auch nicht mehr hervorbringen, als dass er geschossen habe, weil die Sonne so heiß geschienen hätte.

Doch ist es nicht der Mord, für den er verurteilt wird, es ist seine Teilnahmslosigkeit an allem. Diese völlige Losgelöstheit von jeder menschlichen Emotion gipfelt darin, dass er nicht einmal zum Tod seiner eigenen Mutter die erwarteten Gefühlsregungen zeigt. Ist es erlaubt, keine Emotionen zu haben, oder wird ein solcher Mensch in der Gesellschaft immer ein Fremder bleiben? Der einzige Spiegel in einem Raum, in dem sich niemand spiegeln kann?

Philipp Preuss führt dem Publikum diese Fremdheit vor Augen. Mit Blick auf ein minimalistisches Bühnenbild erlebt das Publikum auf mitreisende Weise die Teilnahmslosigkeit und die Absurdität in den Taten von Meursaults. Gespielt wird dieser sowie die wenigen Personen, mit denen er agiert, von Bernardo Arias Porras, Iris Becher und Felix Römer. Indem diese drei sich fortwehend in der Darstellung der Rollen abwechseln, gelingt es ihnen nicht nur, das sehr nah am Originaltext aufgeführte Theaterstück lebendig zu machen, sie schaffen es auf diese Weise auch, dem Publikum sowohl die Perspektive des Beobachters als auch die des Beobachteten zur Verfügung zu stellen. Die hieraus entstehende Dynamik auf der Bühne lässt die Fremdheit Meursaults gegenüber jeder menschlichen Regung nur noch deutlicher hervortreten. Unterstützt wird das Geschehen dadurch, dass die Lichtinstallation an den Rändern der Bühne es erlaubt, das Publikum sowohl ins Dunkel der Gefängniszelle des Angeklagten Meursaults als auch an den Strand unter die erbarmungslos scheinende Sonne an die Seite des Mörders Meursaults zu befördern.

Aber ist das alles wirklich so absurd oder ist uns einfach jede Person fremd, deren Regungen wir nicht verstehen können? Diese Frage ist es, die Camus’ Fremder stellt. Und aus der Beschäftigung mit dieser Frage, zieht die Aufführung „Der Fremde“ ihre Aktualität. Unberührt bleiben allerdings die Fragen, welchen Wert dieses Buch für die Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Frankreichs hat und warum es immer noch niemanden interessiert, wer eigentlich das Opfer von Meursaults war. Dieser unbequemen Frage geht die Schaubühne aus dem Weg.

Titelbild: © Thomas Aurin

Doris der Bohris mit Joël dem László

joel laszlo

Joël László, geboren 1982 in Zürich, studierte Islamwissenschaft und Geschichte. Er lebt als Theaterautor und Übersetzer in Basel. Zuletzt: Neuübersetzung und Bearbeitung von Ferenc Molnárs „Liliom“ für das Theater Marie sowie Einladung zum Retzhofer Dramapreis mit dem Stück „Die Vorzüge der georgischen Unterhose“. Im folgenden Gespräch liegt der Fokus aber ganz klar auf Doris, der ca. 0-dimensionalen Protagonistin seines beim Marburger Kurzdramenfestival 2014 uraufgeführten Absurdöners „Doris, Sekretariat, Straußenei“.


Daniel Ableev
Deine Doris ist ja jemand, der menschliche, tierische und tapetrige Eigenschaften aufweist. Sie ist ein schwer zugängliches Faszinosum, Becketts Watt nicht unähnlich. Und wahrscheinlich eine perfekte Einleitung zum Thema: BÜROWAHNSINN. Wollen wir darüber reden?

Joël László
Gut. Kurze Modalitätenfrage aber noch: Ich müsste mir ausbedingen, auf Fragen mit größeren Retardierungen von bis zu fünf Arbeitstagen antworten zu dürfen. Nicht immer, aber manchmal. Bürowahnsinn und Arbeitswelt und Familienglück im Verbund beschneiden im Guten wie Schlechten meine Zeit- und Denk- und möglichen Antworträume. Du kannst dir mich in der Zwischenzeit aber immer als zufriedenen Menschen mit einer dreimonatigen Tochter im Arm und einem zweijährigen Bengel am Hosenbein (der einen Laptop auf der Nasenspitze balanciert) vorstellen.

DAb
Ich hatte ganz vergessen zu erwähnen: Zeitdruck gibt es überhaupt keinen. Und vor Laptop-Balancieren bitte unbedingt wichtige Daten sichern, etwa unter Zuhilfenahme von Klümpfchen.

JoëL
Was du gesagt hast zum Verschwimmen der (fiktiven) Grenzen zwischen Menschlichem und Tierischem ist sehr wichtig. Eine weitere Geschichte zu Doris, etwas, wobei man sie lange beobachten könnte, ist zum Beispiel das Flehmen. Doris ist eine ganz herausragende Flehmerin. Viel wichtiger noch als das Flehmen ist aber ihr Platysma. Doris verfügt über ein außerordentlich ausgebildetes Platysma. Es erlaubt ihr, Fliegen von ihren Oberarmen zu verscheuchen, ohne dass sie sich dazu bewegen muss. Sie kontrahiert ihren Oberarmhautmuskel, der Boden, auf dem die Fliege steht, wird gerüttelt – und weg ist sie. Dasselbe gilt übrigens für ihre Oberschenkel.
Dass Watt ein Tier ist, hatte ich mir noch gar nie überlegt. Was für ein Tier ist er genau?

DAb
Watt ist am ehesten wohl ein Gemischtwarenköter. Falls überhaupt. Doch zurück zum Doris. Was für ein Phänomen dieses Frau(m) doch ist! Ich will mehr über seine (gerne auch geistigen) Fähigkeiten wissen. Von Tennessee Williams gibt es das Stück „Sprich zu mir wie der Regen, und ich hör zu …“ – hat denn Doris auch Wasserfall-Gene in sich?

JoëL
Ich musste einige Tage darüber nachdenken … Wasserfall-Gene, Gene also, wo die Doppelhelix sich an beiden Enden auflöst und in den freien Fall übergeht? Ganz ehrlich: Ich bin der Erste, der es Doris wünscht. Da uns bei Doris ein Querschnitt jedoch versagt bleibt und sie nur sehr wenige Menschen näher als auf fünf Meter an sich heranlässt, sind wir darauf angewiesen, Außenstrukturen und Oberflächenveränderungen zu erforschen, Gerüche und andere sinnliche Spuren nachzuverfolgen und zu analysieren, um wenigstens ein fragmentarisches Bild ihres Innenlebens zu erhalten. Man geht grundsätzlich davon aus, dass sie über eine gewöhnliche Anzahl Organe gebietet. Es gibt jedoch Meinungen, die ihr ein zusätzliches Organ bescheinigen. Am besten, man wartet weitere Messresultate ab und urteilt in einigen Jahren erneut. An ihr Genom würde ich mich persönlich aber nicht wagen.

DAb
Welche Musik hört Doris? Kann sie lesen? Ist DORIS ein Akronym? Ich habe früher sehr viel Tödliche Doris abgekriegt.

JoëL
Vor einiger Zeit ließ ich einen Stapel Skizzen mit Mustern, die ich von Doris’ Oberflächen abgezeichnet habe, offen auf meinem Schreibtisch liegen. Ein Spezialist für Barockmusik, der bei uns zu Besuch war, hat sie unglücklicherweise zu Gesicht bekommen. Er war davon nicht mehr loszukriegen. Es ging so weit, dass er meine Frau tief kränkte. Er sprach am ganzen Abend kein Wort mit ihr und hatte auch für unseren kleinen Jungen keinen Blick übrig. Als wir nach ihm riefen, um gemeinsam zu Abend zu essen, fanden wir ihn unter meinem Schreibtisch versteckt, tief versunken in die Betrachtung der skizzierten Oberflächenvariationen. Als wir ihn eine Stunde später holen wollten, um gemeinsam Karten zu spielen, war er nicht bereit, unter dem Tisch hervorzukriechen. Meine Frau kochte vor Wut. Wenn es ums Jassen geht, versteht sie keinen Spaß. Der Barockspezialist war an diesem Abend nicht mehr zum Jassen zu bewegen. Ab einem gewissen Punkt hörten wir ihn seltsame Pfeifgeräusche von sich geben. Er erklärte mir einige Tage später, das Pfeifen sei eine Gedächtnisstütze gewesen. Er habe mit dem Medium der menschlichen Stimme das Spektrum der Barocklaute imitiert. Meine Frau, ich und die Frau des Barockmusikspezialisten hörten nur die Pfeifgeräusche und dachten keine Sekunde an eine Barocklaute. Schließlich spielten wir eine Partie Canasta. Wie immer beim Canasta gewann ich, was der Grund dafür ist, dass meine Frau Canasta grundsätzlich verabscheut. Die Stimmung war im Eimer. Ich und die Frau des Barockspezialisten begannen, teuren Whiskey zu trinken, den mir meine Frau zu meinem dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Meine Frau, die momentan nicht trinkt, weil sie wieder guter Hoffnung ist, meinte irgendwann, es sei die reine Verschwendung, so guten und teuren Whiskey dermaßen achtlos in sich reinzuschütten. Was unterdessen unter meinem Schreibtisch hervortönte, war immer wilder und exaltierter. Wir hatten Angst, dass er unseren Buben aufweckt. Vor allem, als der Barockspezialist damit begann, wilde und für das Ohr nicht immer leicht verständliche Rhythmen seinem Pfeifen hinzuzuschlagen. Einige Tage später erklärte er mir, das Klatschen sei eine Gedächtnisstütze gewesen und habe dazu gedient, den Kontrapunkt zu den gepfiffenen Stimmen zu markieren. Wie dieses Klatschen dazu geeignet gewesen sein soll, irgendetwas Kohärentes zu markieren, blieb mir an jenem Abend verborgen. Alles endete damit, dass wir die Frau des Barockspezialisten betrunken in ein Taxi setzen, während ich auf einer Matratze in der Küche schlief. Den Barockspezialisten fand ich am nächsten Morgen über den Skizzen zu Doris’ Oberflächenstrukturen glücklich schlummernd. Einige Tage später erklärte er mir, dass das, was ich da gezeichnet hätte und was er kraft seiner Expertise dechiffriert habe (und was also eingewoben sei in die unergründlichen Oberflächen von Doris), nichts anderes sei als die verlorenen Stimmen und Partituren für die Begleitinstrumente mehrerer Suiten von Silvius Leopold Weiß. Ein Ton, einmal gespielt, könne nie mehr ganz verschwinden, unweigerlich hinterlasse er in den Strukturen der Dinge eine Spur, woraus folge, dass einige der Fäden in Doris am Hof der Kurfürsten von Sachsen zugegen gewesen sein müssen, als Silvius Leopold aufspielte, und eine Erregung und eine Erinnerung schwinge noch heute in diesen Fäden nach und sei vermittels meiner Skizzen auf ihn, den Spezialisten, und sein Gehirn und seine Musikalität übergesprungen. Es ist wohl wahr: Damit haben wir wieder nichts Genaueres über das Innenleben von Doris erfahren. Aber immerhin sind wir mit dem Ohr ganz ganz nah an ihr dran.
Im Büroalltag ist Doris vergleichbar mit der kontinuierlichen Einnahme von Schneckengift, diesen blauen Kügelchen, die du zwischen die Salate und die Gemüsesetzlinge streust, und die in zu hoher Dosierung Magenschmerzen, Schwindel, Hautabschuppungen und Nahtoderlebnisse provozieren. Ich unseliger Bruder habe es einmal an meiner kleinen Schwester ausprobiert. Der Anblick, wie sie drei Tage gelitten und unter ständiger Beobachtung mehrerer Doktoren gestanden hat, hat sich meiner kindlichen Seele tief eingeprägt. Jeder Tag, den ich in einer von Doris kontrollierten Bürowelt verbracht habe, hat mich näher an die Schneckengiftvergiftung meiner Schwester herangerückt. Man sollte manchmal von Anfang an ein Salat sein und nicht erst zu einem gemacht werden. Wenn man einmal drinsteckt, bleiben nur noch die Schnecken oder die Schneckenkörner. Es ist schlimm, jeden Tag aufzuwachen und diese blauen Kügelchen um den Kopf herum liegen zu haben.

DAb
Das ist alles reichlich schlimm. Jetzt stell dir doch mal vor, ich bin Doris: Was würdest du mir sagen wollen? Mit welchen Blicken würdest du mich strafen wollen? Mit welchem Humor würdest du mir begegnen wollen, da du ja Doris’ Humorverständnis sicher gut einschätzen kannst?

JoëL
Nie würde ich Doris strafen wollen. Doris ist unbestrafbar. Wenn man sie nur anschauen könnte! Wenn man sie nur einmal, für fünf Minuten, präzis von innen und von außen studieren könnte. Wir lernten mehr, als wir uns vorstellen. Aber das ist es ja: Sie ist unanschaubar, weil wir den Mustern nicht gewachsen sind, weil wir ihre Höhe nicht erreichen, weil wir hoffnungslos im Warenfluss gefangen sind. Sie hat die Welt der Dinge und Waren überwunden, und das macht sie zu einem Monster für alle, die arbeiten und geknechtet sind.
Vielleicht dürfen wir an dieser Stelle kurz über das Zimzum nachdenken, wie es uns Gershom Scholem beschrieben hat. Wenn das Zimzum das Denken der Existenz des Weltalls durch einen Prozess der Einschrumpfung in Gott ist, dann ist Doris quasi das Zimzum der gegenwärtigen Arbeitswelt. Doris hat die komplette real existierende Arbeitswelt rund um sich herum mittels eines Prozesses der Einschrumpfung in sich aufgenommen, so dass wir, die Arbeiter und Dienstleistenden dieser Welt, forthin praktisch nur noch in Doris weiterexistieren und zu einer Art zusätzlichem Organ geworden sind. Daraus folgt: Tangential haben wir Anteil am Paradies, solange wir aber die Arbeitswelt in uns nicht wie Doris hinwegzuschrumpfen wissen, wird dieses Paradies außerhalb unser selbst bleiben.

DAb
Wenn man Doris aus unterschiedlichen Distanzen betrachtet, liegt die (hohe) Wahrscheinlichkeit der Verwechslung pv(D) mit unterschiedlichen Sachen vor. Welche konkreten Verwechslungsgefahren sehen Sie? Bitte ergänzen Sie die folgende Tabelle:

Entfernung zu Doris in m Verwechslung mit

Bis 1000 _______________
Bis 500 _______________
Bis 300 _______________
Bis 100 _______________
Bis 50 _______________
Bis 10 _______________
Bis 2 _______________
Bis 0,00049 _______________

JoëL
Bis 1000 Wetterleuchten, manchmal Windhose
Bis 500 Gitarrensolo
Bis 300 Sven Hedin*
Bis 100 Bohrturm
Bis 50 Gobelin (oft mit Schäferidyll)
Bis 10 Begleitpartitur Barocklaute
Bis 2 Pendenzenliste/Strick
Bis 1 Zollbeamter der k. und k.
Bis 0,00049 Terpentinlösung

*Es ist ein altes Rätsel, die Marge beträgt kaum 5 Meter, die Erscheinung ist dafür umso präziser. Uralte ehemalige Weggefährten des schwedischen Forschungsreisenden haben bereits die noch junge Doris auf besagte Distanz unmissverständlich als Sven Hedin erkannt, sind auf Doris zugestürmt und erschrocken und verwirrt vor dem großgewachsenen Mädchen mit dem langen Zopf stehen geblieben.

DAb
Könntest du bitte den Punkt „Pendenzenliste/Strick“ genauer ausführen? Auch wäre interessant zu erfahren, ob Doris etwa vom Gitarrensolo direkt und ohne Zwischenstufe zur Terpentinlösung runtersublimiert werden kann.

JoëL
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit langen Pendenzenlisten, die sich längere Zeit im Umfeld von Doris aufhalten (Abstand ungefähr 2 Meter), meinen an bestimmten Nachmittagen mit einem Mal: Dies ist der Durchbruch, dies ist der Dammbruch, noch eine, noch zwei Pendenzen, dann leuchtet Licht am Horizont, dann hat es ein Ende mit dem fürchterlichen Rückstand, dem zermürbenden Zweifel, eine Pendenz, zwei Pendenzen, maximal drei Pendenzen, und es schimmert bereits, es wird heller und heller, ein Gefühl der Erleichterung macht sich breit, plötzlich geht alles rasend schnell: Eine Pendenz nach der anderen verschwindet von der Liste, Empfindungen von Leichtigkeit und Frische durchströmen die Muskeln und Nerven, schäumende Euphorie, die in den Kopf steigt wie kühler Riesling in einer Mittsommernacht, und noch eine!, und weg damit!, und Peng!, wenn aber zu dieser frühabendlichen Stunde noch jemand in dem Gemeinschaftsbüro zugegen wäre, dann sähe er jetzt, wie die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter einen Schemel unter ein Lüftungsrohr schiebt, Gott weiß woher einen Strick hervorzieht, sich diesen um den Hals schlingt und Sekunden später an genau diesem Strick von der Decke baumelt – all dies im frohen lichten Glauben an ein baldiges Leben ohne Pendenz.
Und ganz generell, Daniel: Ja, es ist stufenlos, es geschieht auf die natürlichste Art und Weise, Doris verwandelt sich vor deinen Augen, ohne dass du die Veränderung im Moment wahrnimmst, die Eindrücke lassen sich erst Tage, manchmal Monate später ordnen, es hat mit räumlicher, es hat aber auch viel mit emotionaler Nähe zu tun, du wippst mit dem Fuß noch zum Takt des Gitarrensolos, da fühlst du honigartig das Terpentin in deine Körperöffnungen fließen, während Bohrtürme dich mit harschen Stößen auszubeuten beginnen.

DAb
Wenn Bohris ein Künstler wäre und nicht nur Kunst – welche Kunstwerke würde er schaffen? Was wäre sein Meisterwerk? Was sein Rohrkrepierer? Würde er es gar zur Grande Dame des Strafrechts bringen?

JoëL
Nie, unter keinen Umständen würde ich es wagen, das Wort „Schach“ in ihrer unmittelbaren Umgebung, das heißt, in einem Bannkreis oder Dorisdrudenfuß von 8 bis 10 Kilometern Luftlinie, zu äußern oder uttern, wie der Engländer sagt, und dabei wohl, wie er es immer tut, an (M)uttern denkt.

DAb
Meta-Frage: Ein gutes Interview ist wie ein Schachspiel: Wie sähe ein Schachmatt aus?

Doris, „du“ Un,
alle Hände „zu“ tun.
Verbirgst deine „Zeit“
mit ohne „Geist“.

Doris, du Huhn,
bist voll immun
gegen jedes Jenes
und sogar Ines.

Doris, du SPAST,
voll durchgeKRASST
haust du im L°CH
zwischen JED und °CH.


Titelbild: Joël László

Macht Mitleid erpressbar? – Ungeduld des Herzens

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Kann man einen Menschen aus Mitleid lieben? Was ist Mitleid? Diese Fragen bringt Simon McBurney in seiner Inszenierung von Stefan Zweigs Roman „Ungeduld des Herzens“ auf die Bühne. Das Stück


Alles beginnt mit einem Fauxpas. Als der junge Soldat Hofmiller (Christoph Gawenda / Laurenz Laufenberg) – durch einen wirren Zufall – zum Essen am Hofe der vornehmen Kekesfalva eingeladen ist, fordert er Tochter Edith (Alina Stiegler) zum Tanz. Doch Hofmiller scheint der Einzige zu sein, der nicht weiß, dass die junge Frau eine Gehbehinderung hat. Als ihm dies klar wird, verlässt er die Gesellschaft fluchtartig. Von Selbstvorwürfen geplagt kehrt her am nächsten Tag an den Hof Kekesfalvas zurück, um sich bei Edith zu entschuldigen.
Diese nimmt seine Entschuldigung nicht nur an, sondern zeigt sich auch äußerst erfreut über seine Gesellschaft und fordert ihn auf, sie erneut zu besuchen. Auch der Schlossherr (Robert Beyer) scheint die Gegenwart Hofmillers und die mit ihr einhergehende Verbesserung von Ediths Laune sichtlich zu genießen. Von nun an ist Hofmiller regelmäßiger Gast auf Schloss Kekesfalva und wird zum Vertrauten der Familie. Es ist die Verzweiflung und die Sorge im Blick Kekesfalvas, wenn dieser über seine Tochter spricht, die in Hofmiller ein noch nie dagewesenes Gefühl erweckt: Mitleid.

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Schaubühne am Lehniner Platz. ‘UNGEDULD DES HERZENS’, von Stefan Zweig. Regie: Simon McBurney, Buehne: Anna Fleischle, Kostueme: Holly Waddington, Musik: Pete Malkin, Benjamin Grant, Video: Will Duke. Mit: Robert Beyer, Marie Burchard, Johannes Flaschberger, Christoph Gawenda, Moritz Gottwald, Laurenz Laufenberg, Eva Meckbach.

Ungeduld des Herzens handelt nicht nur von einer Freundschaft, die auf einem Fauxpas basiert und in einer verhängnisvollen Verliebtheit endet. Es handelt davon, dass ein junger Mann bemerkt, wie er Menschen, die sich in emotionaler Not befinden, durch Mitgefühl und Anteilnahme an ihrem Schicksal helfen kann und hierbei in einen Strudel aus Hilfegesuchen und geschönten Antworten gerät. Im Laufe der Zeit wird er Herr über ein ganzes Lügengebäude, das er im Kampf zwischen Ehrgefühl und Mitleid errichtet hat.
Wie ausweglos seine Lage ist, wird spätestens klar, als Edith ihm ihre Liebe gesteht und ihm ihr Vater und ihr Arzt (Johannes Flaschberger) klarmachen, dass eine Ablehnung Edith gesundheitlich an den Abgrund bringen würde. Doch kann er diese kranke, junge Frau wirklich lieben, oder empfindet er nur Mitgefühl? Von nun an leidet er selbst, er leidet unter seinem Mitleid, er leidet unter der Verantwortung, die er sich selbst auferlegt hat, indem er versucht hat, das Leid Anderer zu lindern.

Kann man mit einem anderen Menschen leiden, oder leidet man unter dessen Leid? Dies ist die zentrale Frage, die „Ungeduld des Herzens“ stellt. Dem Zuschauer stellt sich aber mindestens noch eine zweite Frage: Wie kann man einen so dichten Text auf die Bühne bringen? Wie kann man ihn inszenieren, ohne ihn zu simplifizieren und wie kann man alle seine Ebenen in das Gefüge auf der Bühne einweben. Simon McBurney lässt seine Bühnenfassung von jeweils einem – im Laufe des Stücks die Rollen wechselnden – Schauspieler vorgetragen, während die Anderen das Vorgetragene – zumeist stumm, aber von Soundeffekten begleitet – spielen. Der Vorteil dieser Methode besteht darin, dass dem Publikum zwei Betrachtungsweisen zur Verfügung stehen. Die eine ermöglicht es, dem Text in seiner sprachlichen Präzision zu folgen und zu beobachten, wie sich Hofmiller immer weiter in sein Netz von Lügen verstrickt. Die andere ermöglicht es dem Publikum sich völlig mit dem Leid der Protagonisten zu befassen und es so nicht nur zu beobachten, sondern daran Anteil zu nehmen.
Neben der Wahl der Perspektive, die man auf dieses Theaterstück einnehmen möchte, bleibt am Ende doch noch eine weitere Frage offen: Hat der Text Schauspieler und ausdrucksstarke Bilder auf der Bühne unterstützt oder hat er sie erdrückt. Hätten die SchauspierInnen die Szenen wohlmöglich freier und noch energetischer Ausspielen können, oder hätte das zu einem Zusammenschmelzen der fein ineinander gewobenen Ebenen des Textes geführt? Doch auch wenn der Eindruck entsteht, dass das Kräfteverhältnis zwischen Text und Schauspiel bisweilen Richtung Text zu kippen scheint, werden die Charaktere auf der Bühne begreifbar und es wird deutlich, wie schutzlos der körperlich überlegene Hofmiler gegenüber Ediths emotionaler Stärke ist.


Ungeduld des Herzens an der Schaubühne in Berlin

Bilder: © Gianmarco Bresadola

Irritat-451 mit Augäpfelgelee – ein Interview mit Zeha Schröder

1968 wird C(hristoph) H(enrik) Schröder in Wuppertal geboren, 1987 schlägt er die Familienlaufbahn als Bandwirker und Gummiumspinner aus und inszeniert mit 19 Jahren erstmals am Stadttheater seiner Heimatstadt. Ab 1989 Studium von Musikwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Altgriechisch. Nach bundesweiter Arbeit als freischaffender Regisseur gründet er 1999 mit F(reuynde) + G(aesdte) eines der wenigen „reinrassigen“ Location-Theater Deutschlands. 2012 erhält er mit F + G einen Innovationspreis der bundeseigenen Stiftung „Land der Ideen“. 2013 präsentiert er zu Büchners 200. Geburtstag dessen Gesamtwerk. Er lebt in einem Steinhaus an der Ems und einem Holzhaus am Polarkreis. Und außerdem in diesem Irritat-451 von einem Interview.

Die Fragen stellt Daniel Ableev.


Für 2014 steht ja Kafkas Verwandlung auf dem „F + G“-Programm. Glaubst du, das ist ein guter Aufhänger für ein Gespräch über das Experimentelle in der Kunst?

 

Schwer zu sagen. Kafka selber ist sicher in mancher Hinsicht ein Experimenteller. Speziell bei der Verwandlung bleibt mir die Spucke weg, wie er groteske Phantastik und Familiendrama und schwarzen Humor miteinander verquirlt. Das ist in Sachen Style schon ziemlich „niedagewesen“. Aber was mache ich als Regisseur daraus? Wo ist die Balance zwischen Respekt vor dem Text und dem eigenen, neuen, letztlich respektlosen Kniff? – Wir sprechen uns nach der Premiere! …

Wie viel Experimentalitätshunger hattest du, als du F + G gründetest, abgesehen von dem Grundkonzept „Theater an ungewöhnlichen Orten“?

Genau 6417 Gramm bei Geburt des Theaters … Also, puh, ich  mein, wie soll man das quantifizieren? Es war definitiv so, dass ich Sachen radikal anders machen wollte, als ich es vorher als freischaffender Regisseur bei anderen Ensembles erlebt hatte. Aber das bezog sich größtenteils auf Organisationsstrukturen, Teamwork und so. Klar, solche Locations wie ein Burgturm, eine Kneipe oder eine Seebühne, die wir ja ganz anders „bespielen“ müssen als einen normalen Bühnenraum, die haben per se immer viel Experimentelles und vor allem Unwägbarkeiten mit reingebracht. Aber rein künstlerisch wollten wir nicht das Theaterrad neu erfinden. Mir kommt das immer etwas suspekt vor, wenn Künstler sagen: in all den Tausenden Jahren abendländischer Kultur hat’s das noch nie gegeben, was ich hier vorhabe! Ich definier das Experimentelle lieber umgekehrt: wir gehen mal los ins Unbekannte und gucken, was wir da finden. Wenn es komplett neu ist: klasse. Wenn es mich zu eher „konventionellen“ Inszenierungslösungen bringt: auch in Ordnung. Wichtig ist, dass es gut ist und passend – nicht um jeden Preis neu und unerhört.

Völlig einleuchtend. Dennoch: Was war aus deiner Sicht das (inszenatorisch/inhaltlich, oder auch logistisch) Kühnste, was ihr bis dato gemacht habt?

Darf ich drei aus 52 nennen? Logistisch: eine schräge Musicalinszenierung im Freilichtmuseum, bei der die Handlung sich ständig verzweigte und die parallelen Handlungsstränge nach 5 oder 7 Minuten wieder sekundengenau aufeinander treffen mussten. Ästhetisch: eine Moby-Dick-Version, bei der wir im Innenraum einer denkmalgeschützten Kirche ein 2000-Liter-Bassin mit Milchwasser gefüllt haben, das durch einen Glasboden von unten elektrisch beleuchtet wurde. (Jeder Elektriker wäre ausgerastet.) Inhaltlich: eine Stückrecherche auf den Spuren des Tunguska-Events, wo wir 2009 mit vier sibirischen Trappern eine Woche lang knietief durch die Sümpfe gestapft sind auf der Suche nach nem abstürzten UFO. Na ja, oder nach sonst irgendwelchen mysteriösen Funden. Und ich hab sogar was Spektakuläres entdeckt, aber das hab ich erst zuhause kapiert.

Was ich dich unbedingt mal fragen wollte: Hast du in Tunguska eigentlich irgendwas Spektakuläres entdecken können?

Hahaha! … Ja. Aber das hab ich erst zuhause kapiert. – Du willst nicht zufällig wissen, was …?

Ich bin zwar nicht so der Fan von revolutionären Entdeckungen, Paradigmenwechseln und dergleichen, aber wenns unbedingt sein muss … Oder um es mit den Worten meines unironischen Ichs zu sagen: VERRAT ES SOFORT!!!

Nee, lieber nicht. Pause. Na gut, ausnahmsweise. Lange Pause. Aber es ist ein Geheimnis!! – Also, ich muss ein bisschen ausholen: Im Vorfeld unserer Recherche hatten wir damals Gerüchte gelesen, dass seit dem Tunguska-Event von 1908 irgendwas mit dem Magnetfeld in der Region nicht ganz richtig tickt. Die Rede war von drehenden Kompassnadeln, stehenbleibenden Quarzuhren usw. Als wir unsere Trapper darauf ansprachen, die ja zum Teil schon seit Jahrzehnten da durch die Wälder streifen, hieß es: „Alles Quatsch und Legendenbildung, nie was Außergewöhnliches bemerkt.“ Okay, gut so weit. Wieder zuhause in Deutschland, hab ich ein zerbrochenes Fahrtenmesser auf einen Tisch gelegt, das ich da im Wald gefunden hatte und das bestimmt ein paar Jahre da rumgelegen hatte, bevor es in meine Tasche gewandert ist. Auf dem Tisch lag fünf Zentimeter weiter eine kleine Metallfeder, so ähnlich wie die Federn in Kugelschreibern. Und das Ding ist regelrecht zum Messer rüber gesprungen und hat sich an die Klinge geklebt. Das Messer ist nach ein paar Jahren ruhigem Liegen in der Region zum Powermagneten mutiert. Cool, oder? Oder nicht? Ist das zu banal? Und was hat das mit experimenteller Kunst zu tun?

Nun, ist vielleicht kein unheimlicher Fall für die X-Akten, aber spannend und ein bisschen gruselig ist das schon – ich hatte so ein Erlebnis jedenfalls noch nicht. Experimentalität dürfte vielleicht in der Sprungkurve zu suchen sein, die die plötzlich angezogene Metallfeder hingelegt hat.

Interessant. Willst du damit andeuten, dass die Experimentalität eines Vorgangs durch seine Sprungkraft, also letztlich durch die Direktionskonstante bestimmt wird? Dann wäre nach dem Hooke’schen Gesetz die Direktionskonstante D, also die Experimentalität, definiert als Quotient aus der künstlerischen Kraft F und der Länge des Kunstwerks ΔL. Sprich: D gleich F durch Delta L. Das würde auch bedeuten: je mehr künstlerische Wucht sich auf je weniger Theaterminuten verteilt, desto experimenteller. Was wiederum eine schlüssige Erklärung dafür wäre, warum Hooke selber sich so in die Micrographia gestürzt hat: möglichst viel Art Power fokussiert auf ganz kleine Objekte. – War es das, was du damit sagen wolltest?

Eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass es sich bei Peter Greenaway möglicherweise um einen sog. Rühlvogel handelt. Diesbezüglich zwei Fragen: Was ist für dich ein Rühlvogel? Und was macht Greenaway, der nicht nur zur Avantgarde, sondern auch zu deinen Favoriten zählt, in deinen Augen so besonders?

Also, dass Greenaway ein führender Rühlvogel sein soll, sogar Leiter der europäischen Sektion, das hab ich schon öfter gehört – halte ich aber für ein böses Gerücht. Ich mein, ich sehe da kaum Parallelen, außer eben, dass er sich wie ein Rühlvogel von Eklektizismen ernährt. Aber das tun wir beide ja auch, ohne welche zu sein. (Oder bist du etwa einer?) Was allerdings stimmt: er gehörte, neben Bausch und Ciulli, zu meinem persönlichen Dreigestirn – damals, als ich noch klein war, also Anfang der Neunziger. Ich hab ihn mal darauf angesprochen, dass er Linkshänder ist, genauso wie der Draughtsman im Kontrakt des Zeichners. Seine Antwort war: „Kein Wunder, das ist ja auch immer meine eigene Hand, die in den Naheinstellungen zu sehen ist.“ Und das wäre wohl auch meine Antwort auf deine Frage: das Spezielle an Greenaway oder genauer: das, was geblieben ist, obwohl ich mich von dem Tableaukino und Bildertheater des Dreigestirns inzwischen meilenweit entfernt habe – das ist seine persönliche Codierung. Viele Künstler gerade in den Darstellenden Künsten versuchen ja, allgemeinverständlich und globalwirksam zu sein. Das ganze System Hollywood baut darauf auf, und das funzt ja auch und hat seine Berechtigung. Aber dann gibt es die anderen: ein Greenaway-Film ist eine verschlüsselte Nachricht, und der Dechiffrierungscode, den niemand komplett kennt, das ist er selbst: der Künstler. Ich mag das, auch in der eigenen Arbeit. Ich finde das wichtiger als einen bestimmten konstanten Stil, also die sog. „künstlerische Handschrift“.

Ich komme mir hin und wieder auch wie ein Rühlvogel vor, ehrlich gesagt. Deine kunsttheoretischen Ausführungen finde ich interessant. Und schade, dass Greenaway nichts über das Schicksal von Prof. Klandestine Fallobst zu berichten wusste. Ein hartes Versäumnis?

Na ja, einerseits andererseits. Ich meine, dafür hat er immerhin das Leben von Tulse Luper haarklein rekonstruiert. Also, der arme Mann kann sich ja nicht um alles kümmern! – Wusstest du übrigens, dass Luper mit vollem Vornamen „Tulse Henry Purcell“ heißt? Immerhin DER Purcell, der mit seiner Frostgeistarie den Grundsound für Greenaways Koch, Dieb usw. geliefert hat. Und dessen Dido, geschrieben 1689 für ein ohlala Mädchengymnasium, gute dreihundert Jahre später meine allererste Operninszenierung war. So schließt sich der Kreis …

Du hast eine Oper inszeniert?! Und was war eigentlich das anspruchsvoll zu timende Musical, von dem du vor ein paar Fragen gesprochen hast?

Ähm, ja. Nein. Drei Opern. Aber reden wir jetzt nicht zu viel über mich und zu wenig über das Experimentelle?

Du verlierst ein paar Worte über deine Operntätigkeit, und ich mache im Gegenzug einen auf Metawechsel und frage dich: Welchen konversationsdramaturgischen Move (oder Kniff, oder „Rühl“) sollte ich an dieser Stelle wagen, um unser Gespräch zu einem wahrhaft experimentellen Interview werden zu lassen?

Also gut, mit den Opern war das so — oh! ah! holy fu**! Puh, das war knapp, das hätte böse enden können. Sorry, ich war kurz abgelenkt, mir sind nach deiner Frage zwei Rentiere im Dunkeln fast auf die Motorhaube gesprungen, daraufhin hab ich mich spontan gegen Rentierfrikassee und auch gegen das entgegenkommende Auto entschieden und bin zwei Meter tief im Straßengraben gelandet, wo ich dann eine halbe Stunde im Schneesturm auf den Trecker warten musste, der mich da rausgezogen hat. DAS IST KEIN WITZ! Ähm … Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, die Opern. Also, Purcells Dido und Aeneas, das war wirklich experimentell, das hab ich mit Sprechschauspielern und ohne Sänger als eine Art Playbackoper inszeniert. Der Soundtrack lief die ganze Zeit durch, und die Darsteller haben dazu agiert, teils pantomimisch oder mit Taubstummenzeichen, teils auch sprechend. Die beiden anderen Opern waren Webers Freischütz und Rossinis Barbier von Sevilla als Hochschulprojekte mit Studenten der Berliner Universität der Künste (was damals noch die HdK war). Da bestand das Experimentelle eher darin, mit Sängern so zu arbeiten, dass sie aus der typischen Arienstatik mal rauskommen und sich natürlich bewegen und verhalten. Der Hauptdarsteller hat damals wochenlang gewettert, dass da so ein Sprechtheaterfuzzi seine Finger drin hat und dass das, was ich vorhabe, gar nicht klappen kann. (Wobei, bitte, ich hatte zumindest ein komplettes Musikwissenschaftsstudium auf dem Buckel.) Aber immerhin, nach der Premiere – und nach dem Applaus von 1.200 entzückten Leutchen – ist er zu mir gekommen und hat so was gesagt wie: „Okay, du hattest recht, hat doch geklappt.“ Das fand ich sehr sportlich von ihm … So. Und jetzt dein Move!

Ist es nicht ziemlich experimentell, wenn ein selbsternannter Seltsamkeitsforscher mit 32 Jahren zum ersten Mal Kafkas Verwandlung liest?

Denkst du dabei an jemand bestimmten? Und wie ist es dir beim Lesen ergangen?

Na ja, streng genommen hab ich noch nicht zu Ende gelesen … Aber ich behaupte mal, dass Herr Kafka die tolle Eigenschaft hat, einen psychologisch vielschichtigen und feinsinnigen, regelrecht dokumentarischen Surrealismus (vielleicht nicht ganz das richtige Wort) zu pflegen, dessen zwei Hauptpotentiale – zu verstören und zu berühren – zueinander in wechselseitiger Beziehung zu stehen scheinen. Apropos – warum fühlst du dich vom Genre der Mockumentary eigentlich so angezogen?

Huch – tu ich das?! Könnte sein. Denkst du an was Konkretes, abgesehen von der Verwandlung?

Ib blaube, bich entbinnen zu bönnen, dass du Zelig sehr mochtest und Fraktus sehen wolltest. Ich kenne bisher nur den ersteren. Schon mal daran gedacht, eine Pseudoku auf die Bühne zu bringen?

Na gut, ertappt; und die X-Files, meine Darlings, haben ja auch durchgängig was „Mockumentarisches“ … Also, dran gedacht schon, aber bisher ist der richtige Stoff noch nicht aufgetaucht. (Oder ich hatte Tomaten auf den Augen und hab ihn nicht erkannt.) Andererseits sind die echten Dokus, die ja rund zwei Drittel unseres Spielplans ausmachen, auch immer eine großartige Sache. Auf der Recherche für ein Stück durch die Sahara zu streifen oder auf den Äußeren Hebriden in umtosten Felsklippen zu hängen, macht ja auch nicht wenig Spaß!

Wie ist das bei dir? Würdest du sagen, dein Pinguinmädchen Alu ist eine Mockumentation? Vielleicht sogar eine autobiografische Mockumentation?

Autobiografisch, ja. Damals floss das Aluminium noch aus allen Öffnungen, so ähnlich wie das Spice in Dune. Aber das einst Erlebte ist endgültig zu Kunst erstarrt, so ähnlich wie der Masterstorch im Gebärmutterprisma. Damit wären wir auch schon beim Thema: Welche Synonyme für „experimentell“ fallen dir ein?

Uff. Deine Fragen, Kollege … Also, Word hat mir gerade „versuchsweise“ und „probeweise“ angeboten, aber auch „geprüft“ und „bestätigt“. Letzteres sehe ich radikal anders. Könnte „ungeprüft“ ein Synonym sein? Ich sag’s mal so: Mein Synonym für das Experimentelle wäre kein Wort, sondern ein Bild – die Taube auf dem Dach. So gesehen, sollte eh alle Kunst experimentell sein. Der Spatz in der Hand – das, was wir schon können, was „geprüft und bestätigt“ ist – das ist künstlerisch uninteressant. Wenn Yves Klein hundertmal dasselbe blaue Bild malt, dann bete ich für ihn, dass er dabei immer noch nen neuen Dreh hat. Also entweder in jedem einzelnen Gemälde nen neuen Strich. Oder von mir aus besteht das Experiment auch in der Serie, im steten Tropfen, im Versuch, hundertmal exakt denselben Strich zu ziehen. Aber wenn nur das erste Blaubild ein Experiment war und der Rest fürs Konto: dann kommt er ins Künstlerfegefeuer und der Fitzliputzli zwingt ihn, viertausend Jahre lang gelbe Bilder zu machen. Selbst schuld!!

Aber wenn gerade jene von dir mit Vorsicht bis Abscheu „genossenen“ epigonalen Geometrien den Kern des Künstlerisch-Experimentellen bilden, was dann? Oder ist der Gedanke, Stumpfsinn zur neuen Originalität zu erklären, zu fies (oder gar viehisch)?

Nun ja … – ja.

Und wie doof (oder gar bestialisch) würdest du mich finden, wenn ich dich darum bäte, Argumente dafür zusammenzutragen, warum Musik/Tonkunst nichts weiter als primitive Scheiße ist? Immerhin sind das bloß Schallwellen, die unsere beknackten Innenorgane kitzeln und unseren beschissenen Hirnchen irgendwelche erlesenen Feinheiten suggerieren usw.

Ist das ein FSK18-Interview?!? Hoffentlich. Falls ja: Das schweinische Kitzeln aller möglichen inneren Organe ist ja an sich schon ein Wert, ob nun Prommelfell oder Trostata. Erst recht, wenn Musik im Spiel ist. – Oh, und jetzt, wo ich sowieso im Fettnapf steh, lass uns über Peinlichkeit sprechen. Peinlichkeit und Experimentalität wohnen ja eh quasi Wand an Wand … Einer meiner peinlichsten musikalischen Momente war der, als ich mit, weiß gar nicht, 16 oder 17 Jahren in München in der Philharmonie gesessen und relativ viel Unruhe generiert hab, weil mich Celibidaches Dirigat von Bruckners Vierter in eine, ähm, peinlich, mehr oder minder konvulsivische Trance versetzt hat. Da saß also dieser langhaarige leptosome Teen im ersten Rang, zuckend und japsend und mit geschlossenen Augen, und drumherum eine Schar von wohlbetuchten bajuwarischen Konzertabonnenten, die sich von mir gelinde gesagt auf die Füße gepisst fühlten wie weiland Henry Hathaway von John Wayne. Und ich? Hab davon nix mitgekriegt, ich war wirklich in einer anderen Welt, in Brucknistan oder was weiß ich. Komplett weggebeamt. Das und nichts anderes ist Musik: die größte Macht der fühlenden menschlichen Welt. Ich kann über Tonfolgen ins Heulen kommen, buchstäblich, keine Metapher. Ich mach nur deshalb ersatzweise Theater, weil ich so ein elend dilettantischer Musiker bin. Wenn ich deine Instrumentbeherrschung hätte, würdest du keine einzige Inszenierung von mir sehen können. Ergo: Prostata, Bruckner, Heulkrampf – genug Argumente?

Dein leidenschaftliches Plädoyer für jenes Phänomen, das ich soeben für überbewertet erklären wollte, lässt mich augenblicklich verstummen. Doch will ich als starker Vertreter der Denkschule der Psychopathischen Skepsis anmerken, dass ich – von informationellem Flüsterschwachsinn umgeben – nichts unhinterfragt lassen will, daher die Frage: Hatte dein Bruder schon mal Sex mit Außerirdischen?

Nun ja … – nein.

An dieser Stelle sei ein Intermezzo zwecks Sagung von „dass dieses unser Gespräch erdenklich positiv ist“ erlaubt: Es ist erhellend, ergiebig, erstaunlich, erogen, erheiternd, erratisch, erfreulich, und natürlich – erdogan. Daher wäre es erwünschenswert, wenn es noch möglichst lange währen würde. Übrigens waren mir vorhin die beiden Wörter „Celibidaches“ und „Dirigat“ nicht geläufig, sodass ich im ersten Moment annahm, es handle sich bei den beiden um Namen eines fremdländischen Musikers, immerhin reimt sich Dirigat auf Montserrat. Erst das genauere Hinsehen gab mir die Erkenntnis, dass „Dirigat“ von „dirigieren“ kommt, analog zu Eregat/erigieren, Manipulat/manipulieren oder Systemat/systematisieren. Thymian.

Oh pardon. Ich wollte dich mit meinem Irritat nicht irritieren. Apropos, wusstest du übrigens, dass es sich bei den Irritieren um die verstörendsten Kreaturen des Universums handelt? Das männliche Irritier erreicht nur ein Vierhundertstel von der Größe des Weibchens, ist aber dabei zwölf Mal so schwer. Seine graphithaltigen Borsten werden auf manchen Planeten geerntet und als Bleistifte verwendet, und das Augäpfelgelee ist eine Delikatesse, die nur Halbgöttern und jungfräulichen Königinnen vorbehalten ist. Sowie Theaterregisseuren, natürlich.

Es ist ja so, dass heutzutage jegliche Kunst (darunter auch die Irritiere) in binärer, digitaler Form (Brits 8 Brytes) vorliegt. Empfindest du es nicht auch als eine extrem unökonomische Masche, dass beispielsweise eine mp3 erst in Elektrizität umgewandelt wird, dann über den Lautsprecher oder Kopfhörer in Schall, dann zurück in Elektrizität und schließlich in ein gehirnfähiges, im Folgenden provisorisch als *.geh bezeichnetes Informat? Könnte man nicht diese ganzen „Mittelsmänner“ umgehen, indem man jegliche der oben beschriebenen Umwandlungen für obsolet erklärt? Ist es nicht ein legitimer menschlicher Wunsch, alles Wiss- und Erfahrbare, also egal ob Star Wars oder das Preisschild an einem neuen Mountainbike bei Fahrrad Franz, zu uniformieren, um anschließend diesen ultramassiven Entropiebrei über irgendeine Form von Schlauchapparat zu internalisieren? Eins sein mit der Existenz und all ihren …?

Sehr interessante Frage, großartige Frage. Deine Fragen werden immer besser, sie erreichen allmählich die kritische Temperatur von Irritat 451. Insbesondere die letzte Rückumwandlung von Ohrschall in Hirnstrom hatte ich erfolgreich verdrängt. Und wir kennen das ja aus der Wechselstube: Wenn du Drachmen in Pesos in Drachmen in Pesos in Drachmen wechselst – dann sind wegen der Wechselgebühren hinterher keine Drachmen mehr übrig, siehe Griechenland. Fortgesetztes Hin- und Hertransformieren von Hertz in Watt hätte also letztinstanzlich entweder totale Stille oder totale Debilität zur Folge. Kein Schall mehr. Oder aber kein Hirnstrom. Lieber intelligent im ewigen Silentium oder hirntot im Klangparadies? Ich wähle Tor zwei. Was war nochmal deine Frage?

Wollt ihr das Totale Hirntot?! Eigentlich hätte ich hier 3 Experimentalnüsse in petto, die ich dir zum Knacken anbieten möchte, damit du sagst, was deiner Meinung nach drin ist: Nuss 1: „Menschelnde Würmer“, Nuss 2: „1 Kilo Zucht“ & Nuss 3: „Umbro ist ein idiotisches Wort, das einem wohl einfällt, wenn man zu wenig geschlafen hat und überarbeitet ist …“. Und wenn du vorhin auf die Frage „Hatte dein Bruder schon mal Sex mit Außerirdischen?“ mit „Ich habe keinen Bruder geantwortet hättest“ … öhm, ich meinte: „Ich habe keinen Bruder.“ geantwortet hättest, dann hätte ich „Also ja.“ entgegnet, um damit einen unaussprechlich grotesken Akt anzudeuten, der mit dem Verschwinden bzw. Niegewesensein eines Menschen/Kindes in unmittelbarem Zusammenhang steht.

Na gut. Diesmal wähle ich Nuss Drei. Das Problem beim Umbro wie generell bei jedem schlötbaren Neologismus ist ja, dass er sich im Moment der Niederschrift bereits in ein Hapaxlegòmenon verwandelt, bzw. durch meine reziproke Reprise bereits in ein Bislegòmenon. Er geht gewissermaßen vom Labor direkt in den Bestand, zumindest ins Archiv, er existiert aus eigenem Recht. Die Schöpfung negiert mithin den Schöpfer, da geht es dem Dichter nicht besser als dem Herrgott. Die einzige Möglichkeit, diesem kataklysmischen Verhältnis der Sprache zu ihrer Herkunft zu entkommen, bestünde darin, das eigene Heureka zu taggen wie Vespucci das neue Indien: Amerika. Dann würdest du aber keinen Umbro gebären (Trislegòmenon!), sondern allenfalls einen Ableff. Wäre das etwa besser als das Niegewesensein?

Dann frage ich mich, wie wohl ein selbstrefentielles Tagging aussehen würde, wenn ich einen Ableff entdecken würde? „Abafall“? Und wie sähe ein korrekter Metadatensatz für die Interviewfrage „Was hältst du als ‚Freier’ eigentlich von Stadttheatern?“ aus?

Letzteres ist eine so provokante wie tiefsinnige Frage. Offen gestanden, es ist wahrscheinlich die kühnste Interviewfrage, die mir als Freier, wie auch als Freiem, je gestellt wurde. Eine ehrliche Antwort darauf würde den Schlüssel liefern nicht nur zu meinem gesamten inszenatorischen Schaffen, sondern zum Verständnis experimenteller Kunst allgemein und auch des Universums. Umso bedauerlicher, dass ich dieses zugegeben erdogane Tastaturtelefonat nun umgehend beenden muss. Einerseits wegen der ridikulösen, ja nachgerade (stadt-)theatralischen Ferngesprächstarife, andernteils auch aufgrund der Tatsache, dass das Essen fertig ist. Der Theoretisch ist schon gedeckt, was wiederum sehr praktisch ist. Es gibt gesottenen Ableff und Augäpfelgelee vom männlichen (!) Irritier: exquisit lecker, wenn auch sehr schwer im Magen liegend. – Abschließend kannst du mich aber gern noch fragen, ob ich dir verrate, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut.

Wie, das solls gewesen sein? Dabei hatte ich doch noch so viele Fragen an dich: Was ist deine wildeste und möglicherweise geheimste (Theater-)Vision, die du eines Tages zu realisieren hoffst? Verrätst du mir, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut – nen Platten auflegen? Was ist das experimentellste Stück Kunst, das du je gesehen hast und gut fandest?

Okay, okay, diese drei noch. Meine wildeste Theatervision: längst geschehen, ich hab doch schon hundert Inszenierungen aufm Buckel. Das experimentellste Stück (Theater-)Kunst: Oscar Wildes Salome als Berliner Puppentheater mit Müllobjekten, extrem weird! Und was war nochmal die dritte Frage? Na komm, sei nicht so!

Danke dir, lieber Zeha, für dieses amüsante Gespräch, das zwischen Tief- und Unsinn tunnelt wie ein experimenteller Thunfisch.

Wie, und die Antwort interessiert dich nicht???????????????????????????

DOCH!

Ja dann, anders klappt es leider nicht, frag mich nochmal, ob ich dir verrate —

Verrätst du mir, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut?

tut, tut, tut, tut, tut, tut, tut …

A B C D E F G H I J ……………….

(Fühlst du, wie das „K“ lauert?!)

;oP

Maji-Maji und der vergessene Krieg

Maji Maji Flava zeigt, wie Bismarcks Truppen Hunger, Krieg und Not über die  ostafrikanische Bevölkerung brachten. Ein vergessenes Kapitel grausamer Kolonialgeschichte. Von 1905 bis 1907.


In ihrem Bestreben, der Bodenschätze des Landes habhaft zu werden, plünderten, unterdrückten und töteten die deutschen „Schutztruppen“ unter Bismarck tausende Ostafrikaner٭innen. Ein Kapitel deutscher Geschichte, das nur wenig Beachtung findet: Wer kennt schon den Maji-Maji-Krieg? In Tansania ist er eine Legende, in Deutschland ein Tabu-Thema. Tatsache ist: Er forderte tausende Opfer auf ostafrikanischer Seite und prägte das Land für immer. Das Stück Maji Maji Flava stopft aber nicht nur Lücken in der Allgemeinbildung, es stellt Fragen nach individueller und kollektiver Schuld, nach wirtschaftlicher Abhängigkeit von ehemaligen Kolonialmächten und danach, ob und, wenn ja, wie Menschen über Ländergrenzen hinweg kommunizieren können.

Nur vordergründig handelt Maji Maji Flava von der Geschichte über die Magie des Wassers, das vor den Kugeln der Kolonialisten schützen soll. Einer Legende, die dazu führe, dass tausende Menschen fast unbewaffnet gegen die Armee der Kolonialisten kämpften. Dahinter verstecken sich der Gegensatz zweier Kulturen und die Grausamkeit der Kolonialgeschichte Deutschlands.

Schon zu Beginn des Stücks wird das Publikum in die Pflicht genommen. Es muss einen Anfang wählen. Möchte es lieber einen Drink an der Bar bekommen, oder will es sich von einem der Schauspieler über alle grausamen Details des Maji-Maji-Krieges aufklären lassen.  Schnell bilden sich zwei Gruppen, die sich auf den Saal und die Bar des Theaters verteilen. Nach dieser Einführung versammeln sich Schauspieler٭innen und Zuschauer٭innen im Vorführungssaal. Das tansanisch-deutsche Team aus Isack Peter Abeneko, Jan S. Beyer, Sabrina Ceesay, Konradin Kunze, Shabani Mugado und Lisa Stepf führen dem Publikum ein einer Mischung aus Tanz, Schauspiel und Gesang vor Augen, wie zwei völlig verschiedene Kulturen aufeinanderprallen. Die eine, mit dem Plan, ein Land und seine Bevölkerung zu unterwerfen und auszubeuten, die andere mit dem Bestreben, sich dieser zu erwehren.

Die zunehmende Lautstärke und Intensität der Szenen, in denen marschiert wird, Lager errichtet und Sklaven gedemütigt werden, führen dem Publikum die bodenlose Brutalität der Kolonialherrscher٭innen vor Augen. Immer wieder werden diese Szenen dadurch gebrochen, dass die Rollen getauscht, aber sogleich durch winzige Andeutungen eingeordnet werden. Auf diese Weise ist keiner der Schauspieler٭innen nur Täter٭in oder nur Opfer. Dies ermöglicht es dem Publikum auf zum einen, sich kurz vom Gesehenen zu erholen, wodurch die Eindrücke noch an Wirkungskraft gewinnen und zum anderen zeigt es, wie ein ganzes Land im Chaos des Krieges versinkt.

Unterlegt ist all dies mit Anweisungen der deutschen Heeresleitung, die immer wieder von einem der Schauspielenden im Originaltext vorgelesen, aufgenommen und wiederholt werden. Hierdurch wird einmal mehr der Bruch zwischen der durchorganisierten Lebenswelt der deutschen Besatzer und der im Glauben an überirdische Mächte verwurzelten Gesellschaft der ostafrikanischen Bevölkerung betont. Der Tatsache, dass sich dieser Kontrast bis in die Gegenwart gehalten hat, trägt dieses beeindruckende Theaterprojekt dadurch Rechnung, dass es das Publikum am Ende des Stückes wieder vor die Wahl stellt. Reagieren, Stellung beziehen, die Augen schließen. Keine dieser Möglichkeiten scheint eine würdige abschließend Reaktion auf das Gesehene zu sein.

Mit kluger Analyse, beeindruckender schauspielerischer Leistung und ungeschminkter Darstellung der Vergangenheit regt das Stück auch noch am nächsten Tag zu Diskussionen über Kolonialismus, Kollektivschuld und Geschichtswahrnehmung an.

Leider läuft dieses außergewöhnliche und sehenswerte Stück nur noch dieses Wochenende in den Sophiensælen Berlin, bevor es wieder ins Staatstheater Kassel zieht.

Quelle: Vimeo

Titelbild: © N. Klinger

Eurydike im Rampenlicht

Elfride Jelinek und Katie Mitchell lassen das Schaubühnen-Publikum in Schatten (Eurydike sagt) hinter die Kulissen der Orpheus-Sage blicken. Dieses erlebt eine Eurydike, die endlich aus dem Schatten ihres Mannes treten möchte.


Mit ihrem Stück Schatten (Eurydike sagt) präsentiert Elfriede Jelinek eine moderne, nach Selbstbestimmung strebende Eurydike. Die antike Sage von Orpheus (Renato Schuch) und Eurydike (Jule Böwe) interpretiert als Konflikt zwischen einer Frau, die es leid ist im Schatten ihres, von allen bewunderten, Liebhabers zu stehen. Dabei bleibt Jelinek der Sage inhaltlich treu und verändert sie allein dadurch, dass sie Eurydike eine Stimme gibt. Nun ist nicht mehr allein von ihm die Rede, dem begnadeten Sänger, der seine geliebte Nymphe Eurydike aus der Welt der Toten zurückzuholen versucht und sie für immer verliert, als er die einzige Bedingung, die ihm die Götter der Schattenwelt gestellt haben, nämlich Eurydike auf dem Weg in die Welt der Lebenden nicht anzusehen, missachtet.

Jelinek führt dem Publikum vor Augen, dass es in dieser Sage noch eine zweite Ebene geben kann. Modern interpretiert ist Eurydike nicht mehr länger Objekt der Liebe ihres Mannes Orpheus, sondern Mensch mit Gefühlen, (geplatzten) Träumen und dem Willen nicht mehr besessen zu werden. Ist es ihr zu Lebzeiten nicht gelungen, sich aus dem übermächtigen Schatten ihres Sängers zu lösen und von ihm unabhängig wahrgenommen zu werden, fühlt sie sich nun in der Welt der Schatten seltsam befreit.

„Das Größte aber ist, nicht zu lieben und nicht geliebt zu werden.“

Schaubuehne am Lehniner Platz. ‘’SCHATTEN. Eurydike sagt”. Von Elfriede Jelinek. Regie: Katie Mitchell, Buehne: Alex Eales, Kostueme: Sussie Juhlin-Wallen . Mit Jule Boewe, Stephanie Eidt, Renato Schuch, Maik Solbach. Premiere am 28. September 2016.

© Gianmarco Bresadola

Doch Orpheus kann ihren Tod nicht akzeptieren. Er kommt sie holen. Er will sie wiederhaben. Wieder besitzen. Wie eine Trophäe. Sie ist sein Kontakt zur Außenwelt. Nur durch sie kann er sich selbst spüren. Genau das ist es, was Eurydike zur Verzweiflung bringt. Nicht sie ist es, die er liebt, sondern sich selbst. Durch sie. Ihre Person ist die Projektionsfläche für seine Gefühle.

Und genau mit dieser Projektionsfläche arbeitet Katie Mitchell. Auf der Bühne beobachtet das Publikum das Set eines Spielfilms und über der Bühne sieht es zeitgleich auf einer Leinwand, was auf diesem Set aufgenommen wird. Keiner der Schauspieler spricht zum Publikum. Stattdessen wird mit Kameras und vor täuschend echt aussehenden Kulissen agiert. Das Publikum wird Zeuge zweier Realitäten. Der einen, in der reale Menschen miteinander interagieren und der anderen, die über diesem Geschehen schwebt und Folge dieser Interaktion ist. In der einen interagieren Orpheus, Eurydike und Charon (Maik Solbach) miteinander. In der anderen sieht man das Ergebnis dieser Interaktion. Begleitet wird dieses Spiel durch eine Sprecherin (Stephanie Eidt), die in einem Glaskasten am Rand der Bühne sitzt und allein Eurydike eine Stimme verleiht.

Schaubuehne am Lehniner Platz. ‘’SCHATTEN. Eurydike sagt”. Von Elfriede Jelinek. Regie: Katie Mitchell, Buehne: Alex Eales, Kostueme: Sussie Juhlin-Wallen . Mit Jule Boewe, Stephanie Eidt, Renato Schuch, Maik Solbach. Premiere am 28. September 2016.

© Gianmarco Bresadola

Nur ein einziges Mal richtet Eurydike ihr Wort direkt ans Publikum, wenn sie sagt:

„Ich will doch nur meine Ruhe haben.“

Das ist bedrückend. In diesem Moment wird klar, wie schmal der Grad zwischen Liebe und dem Wunsch nach Besitz sein kann und wie diese Gratwanderung von der Antike bis heute immer neu gegangen werden muss.

Mit Hilfe der sprechenden Eurydike stellt Jelinek dem Publikum zwei Fragen. Die erste beschäftigt sich mit den Rollen, die Frau und Mann im gesellschaftlichen Gefüge zukommen. Die zweite damit, wie eine antike Sage modern erzählt werden kann.

Möglich ist ihr dies durch ein vielköpfiges Team, das vor und hinter den Kulissen agiert. Bildregie: Chloë Thomson; Bühne: Alex Eales; Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen; Videodesign: Ingi Bekk; Mitarbeit Videodesign: Ellie Thompson; Sounddesign: Melanie Wilson, Mike Winship; Licht: Anthony Doran; Dramaturgie: Nils Haarmann; Skript: Alice Birch; Kamera: Nadja Krüger, Stefan Kessissoglou, Christin Wilke, Marcel Kieslich; Boom Operator: Simon Peter

Titelbild: © Gianmarco Bresadola