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New York, meine Hassliebe

In der sehr sehenswerten Netflix-Produktion „Pretend It’s a city“ von Martin Scorsese erzählt die in Deutschland bisher kaum bekannte amerikanische Intellektuelle Fran Lebowitz in sardonischer Weise von ihren Alltagsbeobachtungen im New York der Vor-Corona-Zeit und ihrer zwiespältigen Hassliebe zu der Großstadt, in der sie seit 1969 lebt.


„Pretend it’s a city“ („Tu so, als wäre das hier eine Stadt“), diesen titelgebenden Satz sagt die überaus schlagfertige Lebowitz zu störenden Touristen, die einfach auf dem Fußweg stehen bleiben, oder zu Menschen, die aufs Smartphone starren und nicht auf andere Fußgängerinnen und Fußgänger achten. Bereits als Schülerin erhielt sie eine Auszeichnung als schlagfertigste Person ihrer Jahrgangsstufe.

Und diese Eigenschaft, rasch, witzig, treffsicher und mit bissigem Sarkasmus die Zustände um sich herum kommentieren zu können, blieb ihr klar erhalten. Dies ist das tragende Element der unterhaltsamen und zugleich lehrreichen und bewundernswerten Dokumentation. Lebowitz erleben die Zuschauerinnen und Zuschauer in Gesprächen mit dem mit ihr befreundeten Regisseur Martin Scorsese in einem New Yorker Players Club, der von Edwin Booth, dem Bruder des Lincoln-Attentäters John Wilkes Booth, gegründet wurde, oder in der Interaktion mit Menschen aus dem Publikum bei einem ihrer Auftritte. Darin geht sie darauf ein, wie sich das heutige New York im Vergleich zu „ihrem“ New York der 70er Jahre verändert hat und welche Auswüchse des modernen Lebens sie weder versteht noch mitmachen möchte. Es ist eine unzerstörbare Hassliebe, die die Intellektuelle mit der Stadt verbindet und die zu sehen Freude bereitet.

Dabei muss man wissen, dass die Mini-Serie von dem New York der Massen, der Touristinnen und Touristen handelt, da sie vor dem Beginn der Corona-Pandemie abgedreht wurde und die Straßen damals noch nicht leergefegt waren. Aus diesem Grund ist allein das Zusehen eine willkommene Form des Eskapismus vor dem Corona-Alltag, der mit leeren Innenstädten, Mund-Nasen-Bedeckung und Social Distancing einhergeht.

Die Schriftstellerin Fran Lebowitz, geboren 1950 in New Jersey, hatte als Schülerin schlechte Noten und flog von der High School. Nach dem Erhalt eines Alternativabschlusses zog sie mit 18 Jahren zu ihrer Tante nach Poughkeepsie im Bundesstaat New York, 1969 dann direkt nach New York City. Sie lebte in den Wohnungen befreundeter Künstler und von kleinen Jobs, unter anderem schrieb sie zunächst für ein kleines Magazin. Daraufhin wurde sie als Kolumnistin für Andy Warhols Zeitschrift „Interview“ angenommen, für welche sie Filme rezensierte und die Kolumne „I Cover the Waterfront“ verfasste. Es folgte ein Engagement bei der Frauenzeitschrift „Mademoiselle“. In diesen Jahren schloss sie Freundschaft mit vielen Künstlern.

© Netflix

Die Autorin Lebowitz hat bis heute lediglich zwei Essaysammlungen sowie ein Kinderbuch veröffentlicht: „Metropolitan Life“ (1978), eine Sammlung komischer Essays aus „Interview“ und „Mademoiselle“ in sardonischem Ton, sowie „Social Studies“ (1981), eine weitere Essay-Sammlung. Beide von ihr herausgegebenen Bücher wurden später in dem Werk „The Fran Lebowitz Reader“ (1994) zusammengefasst. 1994 erschien außerdem ihr letztes Buch, ein Kinderbuch mit dem Titel „Mr. Chas and Lisa Sue Meet the Pandas“. Seit Mitte der 90er Jahre wird Fran Lebowitz von einer Schreibblockade vom Schreiben abgehalten, die sie „writer’s blockade“ nennt, anstatt den eigentlichen englischen Begriff „writer’s block“ zu benutzen.

Aufgrund ihrer langanhaltenden Schreibblockade verdient Lebowitz ihr Geld mit TV-Auftritten sowie Vorträgen als Sprecherin vor Publikum, bei denen sie ihre zahlreich vorhandenen Urteile im gewohnt sardonischen und komischen Stil kundtut. Auch als Schauspielerin hatte sie einige Engagements, insbesondere in der von ihr bevorzugten Rolle der Richterin in der Serie „Law & Order“, aber auch in „The Wolf of Wall Street“.

Fran Lebowitz – das zeigt auch „Pretend It’s A City – ist ein wahrhaftes New Yorker Original, eng verbunden mit der Kunst und Kultur der Stadt und befreundet mit zahlreichen anderen Intellektuellen und Künstlerinnen und Künstlern. Sie ist außerdem eine Stilikone mit dem von ihr getragenen Jackett und Herrenhemd sowie der dazugehörigen Levis-Jeans, den Cowboystiefeln und der Schildpattbrille. 2007 wurde sie von der „Vanity Fair“ als eine der bestgekleideten Frauen auf die „Annual International Best-Dressed“-Liste gesetzt.

Bereits in dem Film „Public Speaking“ hat Martin Scorsese seiner Freundin Lebowitz im Jahr 2010 eine Dokumentation gewidmet. Die siebenteilige Mini-Serie „Pretend It’s A City“ zu je ca. 30 Minuten bietet nun deutlich mehr Raum für Dialog. Jeder Episode ist ein vages Gesprächsthema wie zum Beispiel „Kultur“, „Verkehr“ oder „Sport und Gesundheit“ zugewiesen. Man erlebt Lebowitz im New Yorker Players Club, vor Publikum, aber auch, wie sie in den Straßen der Stadt und auf dem Times Square flaniert und zudem wie sie sich ihren Weg durch ein Miniaturmodell von New York im Queens Museum bahnt.

Die Serie ist für New-York-Fans und solche, die es werden wollen, sowie für alle Anhängerinnen und Anhänger gepflegter Unterhaltung und gewitzt-intellektueller Gespräche sehr empfehlenswert.

Einen Trailer gibt’s hier:

Quelle: YouTube

„Pretend It’s A City“ von Martin Scorsese mit Fran Lebowitz hat sieben Folgen und ist seit dem 8. Januar 2021 auf Netflix verfügbar.

Titelbild: © Netflix

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Nils Holgersson fliegt wieder. Nils wer?

Hurra! Endlich gibt es ein Hörbuch von Selma Lagerlöfs Klassiker Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, das den Namen verdient.

Ein Gastbeitrag von Sören Heim


Ungekürzt und gut eingelesen ist es bis heute die einzige Alternative zum gedruckten Wort, nachdem die kostenlose dramatische Produktion von Audible seit längerem festzustecken scheint. So können nun auch Generationen von Lesefaulen in die beliebte Debatte Film vs. Buch einsteigen, die ihren Sieger zumindest bei korrekt bildungsbürgerlichem Publikum eigentlich schon immer kennt. Denn in jedem Fall ist das Buch besser, das lernt man schon von klein auf. Auch wenn natürlich eine kluge Filmdramaturgie und die dem Medium fast schon zwangsweise innewohnende Straffung gegen die dem Roman oft inhärente Schwafeligkeit manchmal wahre Wunder wirkt. Gut möglich, dass bei dünkelloser Betrachtung mancher Film manches Buch um Längen schlägt. Aber das hier nur nebenbei. Heute möchte ich einfach einmal Die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (Diesmal: Die Serie) loben, die so viele Kindheiten verschönert hat. Das ist nämlich definitiv eine der Literaturverfilmungen, die man dem hervorragenden Roman zum Trotz auf Augenhöhe mit dem Buch ansiedeln darf.

Die Schönheit des Himmels

Das verdankt die Serie nicht zuletzt der liebevollen zeichnerischen Umsetzung, insbesondere der landschaftlichen Hintergründe, die sich mühen, die von Lagerlöff ausgebreitete geographische Vielfalt Schwedens stimmungsvoll einzufangen. Die Landschaft wiederum wäre nichts ohne die opulenten Himmel: Oft genug sind es die wechselnden Wolkenformationen, die dem statischen Anblick einer Landschaft erst ihre spezifische Schönheit verleihen – diese Erfahrung aus dem alltäglichen Leben hat man in Nils Holgersson gerade in der Überzeichnung wunderbar umzusetzen gewusst.

Werktreue. Und sinnvolle Abweichung

Und auch die Werktreue der Serie beeindruckt. Fast alle der 52 Episoden wurden aus dem Buch übernommen, auch schwierigere Kost wie etwa die Sage von Asa Thor im Jämtland erspart man den kindlichen Zuschauern nicht. Wo abgewichen wird, so durchaus positiv. Die zahlreichen didaktischen Passagen von Lagerlöf (immerhin schrieb die mit Nils Holgersson auch ein Schulbuch) wurden eingedampft und in Dialogen zwischen Nils und seinen Mitreisenden belebt. Gerade Hamster Krümel, den Buchpuristen vielleicht verfluchen mögen, ist dahingehend ein genialer Einfall. Auch wo sonst von der Vorlage abgewichen wurde geschah dies durchaus positiv. Akka, Martin und einige der anderen Gänse wurden zu runderen Charakteren mit eigenständiger Entwicklung umgearbeitet – das macht nicht zuletzt Nils selbstlosen Einsatz für den Gänserich und den herzzerreißenden Abschied zum Schluss um ein Vielfaches glaubwürdiger. Zu Tränen rührt der allerdings auch im Buch.

Die leidige Moralfrage

Ein Wort noch zur Moral, die ja doch in Kinderliteratur nur selten zu Gunsten des Literarischen ganz zurückgestellt wird. Nils Holgersson bleibt da als Buch wie als Serie faszinierend ambivalent – obwohl die ganze Reise nicht zuletzt als Besserungsanstalt für den ungezogenen Nils konzipiert ist. Besonders in der Serie bewertet die erste Folge Nils Verfehlungen vor allem streng christlich. Er geht nicht in die Kirche, piesackt andere Kinder, liest die Bibel nicht. Die Strafe exekutiert aber bereits ausgerechnet eine ganz unchristliche Figur: ein Wichtelmännchen!

Zu Beginn der Reise legen dann die Wildgänse den Mitreisenden gegenüber eine fast schon Ayn Randsche Kälte an den Tag. Werde dein Bestes selbst und geh mir nicht auf die Nerven, das gesamte Credo freiheitlicher Härte wird runtergebetet. Und gerade diese freiheitsgestälten Gestalten entpuppen sich in der Folge als nur scheinbar Vereinzelte, die zwar gern diese Fassade hochziehen, aber im harten Leben auf die Solidarität nicht nur des Schwarms, sondern auch anderer Tiere nicht verzichten können. So nervt Nils Holgersson nicht mit einer klaren moralischen Linie, sondern drängt dazu, immer wieder neu zu beurteilen, was richtig, was falsch, was geboten sein könnte.

Die deutlich vom Buch abweichende Bearbeitung des Stoffes bei gleichzeitiger weitgehender Werkgetreue hat zudem den Vorteil, dass man Buch und Serie sich ohne weiteres parallel zu Gemüte führen kann. Das Hörbuch ist wie gesagt gerade erschienen, alle Folgen der Serie sollen, hört man, auf YouTube zu finden sein.


Sören Heim Autorenfoto

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In seiner Kolumne HeimSpiel beleuchtet er die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten.


Titelbild: © Sören Heim