Elfride Jelinek und Katie Mitchell lassen das Schaubühnen-Publikum in Schatten (Eurydike sagt) hinter die Kulissen der Orpheus-Sage blicken. Dieses erlebt eine Eurydike, die endlich aus dem Schatten ihres Mannes treten möchte.
Mit ihrem Stück Schatten (Eurydike sagt) präsentiert Elfriede Jelinek eine moderne, nach Selbstbestimmung strebende Eurydike. Die antike Sage von Orpheus (Renato Schuch) und Eurydike (Jule Böwe) interpretiert als Konflikt zwischen einer Frau, die es leid ist im Schatten ihres, von allen bewunderten, Liebhabers zu stehen. Dabei bleibt Jelinek der Sage inhaltlich treu und verändert sie allein dadurch, dass sie Eurydike eine Stimme gibt. Nun ist nicht mehr allein von ihm die Rede, dem begnadeten Sänger, der seine geliebte Nymphe Eurydike aus der Welt der Toten zurückzuholen versucht und sie für immer verliert, als er die einzige Bedingung, die ihm die Götter der Schattenwelt gestellt haben, nämlich Eurydike auf dem Weg in die Welt der Lebenden nicht anzusehen, missachtet.
Jelinek führt dem Publikum vor Augen, dass es in dieser Sage noch eine zweite Ebene geben kann. Modern interpretiert ist Eurydike nicht mehr länger Objekt der Liebe ihres Mannes Orpheus, sondern Mensch mit Gefühlen, (geplatzten) Träumen und dem Willen nicht mehr besessen zu werden. Ist es ihr zu Lebzeiten nicht gelungen, sich aus dem übermächtigen Schatten ihres Sängers zu lösen und von ihm unabhängig wahrgenommen zu werden, fühlt sie sich nun in der Welt der Schatten seltsam befreit.
„Das Größte aber ist, nicht zu lieben und nicht geliebt zu werden.“
© Gianmarco Bresadola
Doch Orpheus kann ihren Tod nicht akzeptieren. Er kommt sie holen. Er will sie wiederhaben. Wieder besitzen. Wie eine Trophäe. Sie ist sein Kontakt zur Außenwelt. Nur durch sie kann er sich selbst spüren. Genau das ist es, was Eurydike zur Verzweiflung bringt. Nicht sie ist es, die er liebt, sondern sich selbst. Durch sie. Ihre Person ist die Projektionsfläche für seine Gefühle.
Und genau mit dieser Projektionsfläche arbeitet Katie Mitchell. Auf der Bühne beobachtet das Publikum das Set eines Spielfilms und über der Bühne sieht es zeitgleich auf einer Leinwand, was auf diesem Set aufgenommen wird. Keiner der Schauspieler spricht zum Publikum. Stattdessen wird mit Kameras und vor täuschend echt aussehenden Kulissen agiert. Das Publikum wird Zeuge zweier Realitäten. Der einen, in der reale Menschen miteinander interagieren und der anderen, die über diesem Geschehen schwebt und Folge dieser Interaktion ist. In der einen interagieren Orpheus, Eurydike und Charon (Maik Solbach) miteinander. In der anderen sieht man das Ergebnis dieser Interaktion. Begleitet wird dieses Spiel durch eine Sprecherin (Stephanie Eidt), die in einem Glaskasten am Rand der Bühne sitzt und allein Eurydike eine Stimme verleiht.
© Gianmarco Bresadola
Nur ein einziges Mal richtet Eurydike ihr Wort direkt ans Publikum, wenn sie sagt:
„Ich will doch nur meine Ruhe haben.“
Das ist bedrückend. In diesem Moment wird klar, wie schmal der Grad zwischen Liebe und dem Wunsch nach Besitz sein kann und wie diese Gratwanderung von der Antike bis heute immer neu gegangen werden muss.
Mit Hilfe der sprechenden Eurydike stellt Jelinek dem Publikum zwei Fragen. Die erste beschäftigt sich mit den Rollen, die Frau und Mann im gesellschaftlichen Gefüge zukommen. Die zweite damit, wie eine antike Sage modern erzählt werden kann.
Möglich ist ihr dies durch ein vielköpfiges Team, das vor und hinter den Kulissen agiert. Bildregie: Chloë Thomson; Bühne: Alex Eales; Kostüme: Sussie Juhlin-Wallen; Videodesign: Ingi Bekk; Mitarbeit Videodesign: Ellie Thompson; Sounddesign: Melanie Wilson, Mike Winship; Licht: Anthony Doran; Dramaturgie: Nils Haarmann; Skript: Alice Birch; Kamera: Nadja Krüger, Stefan Kessissoglou, Christin Wilke, Marcel Kieslich; Boom Operator: Simon Peter
Titelbild: © Gianmarco Bresadola