Schlagwort: S. Fischer

Aus Mikroperspektive. Miku Sophie Kühmel im Interview

Da ist sie nun. Die Pandemieliteratur. Sie erreicht uns mit Triskele, dem zweiten Roman von Miku Sophie Kühmel und vielleicht ersten Berlinroman, bei dem in der Stadt wirklich gar nichts geht. Er erzählt über drei trauernde Schwestern, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnten, die nichts als Zerstreuung suchen und in der aufgezwungenen Isolation zueinander finden.

Nach dem hochgelobten Debütroman Kintsugi, der vor allem durch eine mikro- und multiperspektivische Erzählweise auffiel, entwickelt Miku Sophie Kühmel ihren Stil in Triskele lässig weiter und flechtet eine fast unsichtbar kleine Geschichte unbeirrt ins Weltgeschehen ein. Am Erscheinungstag des Buchs nahm sie sich Zeit, auf den Bänken vorm ocelot bookstore in Berlin Mitte einige Fragen zu ihrer Arbeits- und Erzählweise, dem Entstehungsprozess des Romans, über Perfektionismus und die Ängste am Erscheinungstag zu beantworten.


“Ich glaube, ich bin ein Mensch, der die Welt nur Millimeter für Millimeter verstehen kann.”

Miku Sophie Kühmel

 

Glückwunsch zum Erscheinen deines zweiten Romans. Wie spricht man eigentlich den Titel aus?

Es scheint sich als Tradition einzuschleichen, dass meine Romantitel komische Wörter sind, die man erstmal googeln muss. Bei diesem Buch war es anfangs triskéle, also französisch ausgesprochen. Der Verlag sagte mir dann aber, wir können gern dieses komische Wort nehmen, aber dann bitte auf deutsch. Ich habe nachgegeben, finde es jetzt auch ganz schön. Triskele (mit Betonung auf der zweiten Silbe), hat eine noch stärkere Gravitas. Ich hab aber auch schon alles gehört: Triskell, Trikse. Das kenn ich von Kintsugi nicht anders und darauf stell ich mich schon ein.

Dabei ist Triskele ja ein altes, bekanntes Zeichen. Ich hab jetzt immer, wenn Leute verwirrt geguckt haben, zu ihnen gesagt: Du weißt nicht, dass es so heißt, aber du hast es schon gesehen.

Kannst du in zwei Sätzen sagen, worum es in Triskele geht?

Ja. In Triskele geht es um drei Schwestern, die ganz weit auseinander sind – jeweils 16 Jahre, und deren Mutter sich umbringt. Die drei haben zwar dieselbe Frau als Mutter gehabt, aber nicht die gleiche. Und darum, das zu verstehen, geht es.

Wie bist du auf dieses Setting gekommen?

Ich weiß witzigerweise noch ganz genau, dass ich auf der Frankfurter Buchmesse 2019, als ich grad mit Kintsugi unterwegs war, zwischendurch mit meiner Lektorin zum Rauchen auf dem Hof stand. Und ich hab gesagt, ich hab an etwas gedacht mit drei Schwestern, die vom Alter her ganz weit auseinander sind. Und sie sagte sofort: Ja ja, das, genau das.

Danach hab ich mich lang mit einem anderen Projekt beschäftigt, an dem ich aber carcrash-mäßig gescheitert bin. Ich hatte gemerkt, dass es überhaupt nicht so aufgeht, wie ich es mir vorgestellt habe und danach mit meiner Agentin telefoniert. Ich hab ihr alles geschildert und gesagt, ich hab noch diese andere Idee und hab ihr das von den drei Schwestern erzählt. Und auch meine Agentin hat gesagt, ja, ja, das! Ich saß grad in einem dreimonatigen Stipendium, in der Hälfte der Zeit, und meine ganzen Ideen für das erste Projekt waren mehr oder weniger hinfällig. Ich hatte aber eben noch eineinhalb Monate und dachte, dann lass ich jetzt mal frei laufen, was kommt.

War dieser Moment genau in der Zeit, in der die Handlung spielt, also 2020?

Ja, es war schon Corona, im Sommer 2020 habe ich damit angefangen.

Aber die Idee zum Setting ist damit schon älter als die Pandemie, die ja auch sehr eng eingeflochten ist?

Genau, die Situation hat sich dann beim Schreiben eingeflochten – unweigerlich. Das Jahr war gesetzt, auch weil für die Handlung wichtig ist, dass Mone sich im Schaltjahr umbringt. Für mich war es aber auch in der Zeit nicht denkbar, an etwas zu arbeiten, in dem Corona einfach ausgeblendet wird. Du musst dir vorstellen, dass es 2020 im Sommer war. Ich war zwar auf dem Land, wo man nicht ganz so viel davon gemerkt hat, aber ich wusste natürlich, zuhause ist alles verriegelt. Und irgendwie war es dann sogar für die Figurenkonstellation spannend, dass das so eingeflossen ist. Für viele Menschen hat ja in der Zeit so eine Wendung nach innen stattgefunden, eine Konzentration auf die Familie oder chosen family. Was sind die engsten Leute, die zwei anderen Haushalte, die ich jetzt sehen kann? Und ich finde schön, dass es jetzt ein Berlinroman geworden ist, der überhaupt kein Berlinroman ist. Denn das Berlin in Triskele ist eben ein Dornröschenschlaf-Berlin, wie wir das alle gar nicht aus der Literatur kennen.

Das stimmt, aber es bildet Berlin in der Zeit ja eben auch sehr gut ab.

Ja, und mir gefiel daran, dass es die Situation sehr auf die drei Schwestern konzentriert hat. Übrigens waren es anfangs auch mal vier Schwestern, aber es war relativ schnell klar, dass es drei sein müssen.

War die vierte auch 16 Jahre älter?

Mit den Abständen hab ich etwas herumgespielt und ich hab das jetzt nicht vorher groß ausgerechnet. Es hat sich irgendwann herauskristallisiert, dass oft die Konstellation lautet: drei, aber eigentlich vier. In meinem Kopf ist das Verhältnis zwischen den beiden Zahlen immer drei Semikolon vier (3;4). Denn es sind eigentlich ja vier Frauen, aber die eine ist nicht mehr da. Es ist eigentlich ein Jahr, aber wir erleben nur drei Quartale, also neun Monate.

Mone passt ja auch vom Alter her in die Reihe. Sie ist 17 Jahre älter als ihre erste Tochter.

Genau, und dadurch sind es eben doch vier Töchter, nur dass eine davon eben auch die Mutter ist.

Dein Debütroman Kintsugi war sehr erfolgreich, hat Preise gewonnen, stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und wurde übersetzt. Hat das Druck auf das zweite Buch aufgebaut?

Ja. Direkt danach wusste ich gar nicht genau, was ich machen sollte. Obwohl ich schon die Idee hatte, brauchte nach dem Herbst 2019 ein paar Monate und habe mich erstmal über einen kleinen Text wieder ins Schreiben reingearbeitet. Und mir wurde klar, ich hab jetzt immer diesen Vergleich – nicht nur im Erfolg, sondern auch im reinen Text.

Ich hatte das Gefühl, der zweite Roman steht sofort im Verhältnis zum ersten. Verbunden mit der Frage, ob ich jetzt wieder etwas Ähnliches oder etwas ganz anderes machen soll. Das musste ich erstmal abschalten, um zu den essenziellen Fragen zu finden: was das denn nun für ein Buch werden soll. Wie soll sich das anfühlen?

Wir sind jetzt heute am Erscheinungstag. Gefühlt sind zehn Instagram-Besprechungen herausgekommen, die beim Drüberscrollen erstmal positiv aussahen. Aber natürlich hatte ich das auf dem Schirm und hab gleichzeitig gedacht, dass mich das beim Schreiben nicht beschäftigen darf. Ich habe das nicht in der Hand. Ich hatte bei Kintsugi schon nicht in der Hand, wie viele Personen das gut finden, wen es im richtigen Moment erwischt und so weiter. So ist es bei Triskele jetzt auch – mit dem erschwerenden Detail, dass es nicht mehr das Debüt ist.

Um das Debüt gibt es so eine Mythologisierung: Es gibt Preise, die man gewinnen kann, man kann neu entdeckt, als große Überraschung wahrgenommen werden. Das ist jetzt nicht mehr so. Für Debüts gibt es neben Preisen auch Lesereihen, in Budapest zum Beispiel ein ganzes Literaturfestival. Für zweite Bücher gibt es nur eine einzige Lesereihe – „Secondo, das schwierige zweite Buch“, in Stuttgart. Denen habe ich heute zugesagt.

Dass die zweite Veröffentlichung anders sein würde als die erste, habe ich gewusst und versucht, nicht zu viel drüber zu grübeln. Denn was ich am liebsten mache, ist mitten in der Arbeit, im Schreiben, zu sein. Wenn ich mich für etwas entschieden habe und es sich für mich richtig anfühlt, mache ich das dann nur für mich, unabhängig von äußeren Erwartungen.

Es gibt Autor٭innen, die das können, die wissen: dieses Thema wird sich gut verkaufen oder ist jetzt genau am Puls der Zeit. Aber ich denk überhaupt nicht so und könnte das auch gar nicht. Das, was ich jetzt grad mache, ist das, was geht. Und deswegen ist das mit dem Druck dann etwas in die Ferne gerückt.

Schlimm ist was das betrifft aber immer genau diese Zeit, von der Fertigstellung des Textes bis zum Erscheinungstermin des Buches, heute. Ich war vor ein paar Wochen noch auf einer Verlagsfeier, bei der viele Autorinnen waren, die ich toll finde. Antje Rávik Strubel war da, Sharon Otoo war da. Und wenn ich zu denen gesagt hab, in acht Wochen kommt das Buch, war das Gesicht bei allen gleich sehr bedauernd: „Ah, ja, schwierige Zeit.“ Das verstehen alle sofort.

Was ich mich bei deinen beiden Romanen gefragt hab: Was war eher da, der Titel oder die Geschichte?

Das kann ich gar nicht für beide so richtig beantworten. Bei Kintsugi gab es viele verschiedene Ursprünge, die zusammengekommen sind und glücklicherweise gepasst haben.

Die verschiedenen Stränge?

Ja, aber auch die einzelnen Gründe, warum ich das machen wollte: das queere Paar, das ganze Thema mit der Zerbrechlichkeit, der Kernmetapher. Wahrscheinlich war die Metapher hier schon sehr früh da, und sie ist ja eben titelgebend geworden. Und jetzt war es eher so, dass ich auch so ein bisschen herumgespielt hab mit Sisterhood und Sister und den Buchstaben und Tri und dann ist mir der Begriff untergekommen – Triskele.

Was bei mir schon immer früh da war, war die Struktur. Es ist jetzt auch beim zweiten Roman so, dass es der titelgebende Begriff nicht nur ein starkes Motiv ist, das vorkommt. Sondern es ist ein Strukturelement: Wenn es um die Konstellation der Figuren geht, diese gemeinsame Mitte, aus der drei Stränge kommen, die jeweils eine eigene Spirale sind. Das ist eine Form, die es sogar in der Mikrobiologie gibt, die also auch in der Natur vorkommt.

Dieses Symbol hat mein Vorhaben so gut für mich gefasst, dass irgendwie klar war, das nehme ich jetzt als gedankliche Struktur mit. Es war bei Kintsugi auch schon genau so, dass ich dachte, dieses Kintsugi-Gefühl soll allem wie eine zweite Haut unterliegen. Ich wollte, dass es sich nach Kintsugi „anfühlt“ beim Lesen. Das war weniger strategisch und eher ein komisch intuitives Ding.

Auch die Buchcover greifen ja sehr gut mit dem Rest ineinander. Bist du in der Beziehung perfektionistisch?

Ja, Ich bin als Autorin schon nervig für den Verlag, weil ich das sehr genau nehme. Ich bin dann fleißig und erstelle Moodboards für das Cover: Was könnte taugen? Bei Triskele weiß ich, das waren verschiedene Dinge, Figuren würden Sinn ergeben, aber auch Wald und andere Themen kamen in Frage. Ich hab alles Mögliche gesammelt, aber es war schon klar, es wäre schön, wenn man so drei, vier Figuren hätte. Und auf meinem Moodboard fand sich schon dieses Bild einer kanadischen Künstlerin, was dann als Grundlage für das Cover gedient hat. Ich hab es im Prinzip gefunden, aber es war in blau und mit Tinte, und witzigerweise sind auf dem Originalbild eigentlich vier Figuren. Und eine von ihnen ist jetzt weg. So wie im Text. Das hat mich natürlich auch bildgeschichtlich sofort gekriegt – find ich ganz toll.

Ich bin da schon perfektionistisch, auch mit dem Farbton. Bei Kintsugi habe ich mir irgendwann sechs verschiedene Blautöne erbeten. Das war ursprünglich ein bisschen türkiser, was gar nicht gepasst hat. Ich hab mir im Copyshop dann noch sechs Varianten ausdrucken lassen und lange darüber gebrütet, welches Blau es wird.

Bei Triskele war es auch ganz lange so, dass es um Farbtöne ging. Übrigens schon vor dem Schreiben. Ganz früh stand fest: Wenn ich eine Sache im Kontrast zu Kintsugi gesehen habe, dann dass ich jetzt ein rotes Buch schreiben wollte. Mit „rot“  meine ich an der Stelle aber, ich hätte gerne etwas Lauteres, etwas Bewegteres, nicht ganz so Zurückhaltendes – mit gröberen Momenten. Ich hatte einfach ein rotes Buch vor Augen. Und das ist es jetzt am Ende auch geworden.

Mit ihrem Roman Triskele: Miku Sophie Kühmel

Ist es denn einfach, als Autorin über das Cover zu entscheiden? Ich dachte, das würde eher bei den Verlags-Vertreter٭innen liegen.

Das dachte ich auch, aber ich bin ja zum Glück beim besten Verlag der Welt. Das hat zumindest Roger Willemsen gesagt. Und ich hab mir damals beim ersten Buch, weil ich verunsichert war, dass dieser Traditionsverlag an mir interessiert war, schon zusichern lassen, dass das mein Projekt ist und ich immer das letzte Veto habe. Gerade bei Titel und Cover. Da wird nichts über deinen Kopf hinweg entschieden. Ich bin aber dann auch immer sehr proaktiv, gebe, wie gesagt, viele Ideen rein und sage, was ich auf keinen Fall möchte. Ich bin auch immer sehr meinungsstark. Mir sind da wenig Sachen egal, übrigens bis zum Schluss, auch bis zum Klappentext.

Und noch eine Gemeinsamkeit: Zumindest im Erzählstil sind beide Geschichten sehr ähnlich und die Handlung entsteht aus verschiedenen Perspektiven. Du kannst dir eine von zwei Fragen aussuchen. Entweder: Hast du Vorbilder für diesen Schreibstil? Oder: Wie bist du darauf gekommen?

Ich hab das nie bei jemandem, dass ich denke, ich wünschte, ich würde so schreiben. Das hat gar nichts mit Hybris zu tun, aber du hast sofort eine Art Verhältnis zu dem anderen Text. Es ist eher so, dass ich etwas spannend finde oder denke, ich würde das oder jenes anders machen – manchmal merke ich mir ein Werkzeug. Aber es ist nie Mimikri.

Und das mit diesen Multiperspektiven ist für mich eine Stärke, die mir sehr taugt, an der Fokalisierung in dieser Ich-Perspektive. Ich finde besonders in der Mehrdimensionalität spannend, damit zu spielen und hatte auch überlegt, ob ich das wirklich nochmal so machen sollte. Es gibt da ja auch wirklich Ähnlichkeiten zwischen dem ersten und zweiten Buch, aber die Handlung und die Figuren und Themen sind so anders, dass es dann am Ende für mich okay war. Auch der Rhythmus ist ja anders, jeden Monat erzählt ja abwechselnd eine Schwester. Die Perspektiven sind also wie drei Haarsträhnen, die Kapitel für Kapitel in einen Zopf geflochten werden.

Du bist immer viel in Bildern, oder?

Ja, schon. Das hilft mir und ist ein intuitiver Zugang, der für mich funktioniert. Text als Textil und Text als Garn und Text geflochten ist ja aber Derrida, Roland Barthes. Da brauch ich gar nicht bei mir anzufangen, an dem Bild sind die Theoretiker schon echt lange dran.

Wie wählst du aus, was für Perspektiven du erzählen möchtest?

Wie ich die Figuren auswähle, ergibt sich immer so. Ich wusste, dass es drei sind, und in welchem Abstand sie auseinander sind. Und dann lernte ich sie im Einzelnen kennen. Witzigerweise ist es bei mir diesmal sehr früh über die Namen gegangen. Es ist ja sehr auffällig, dass die Figuren Mo, Me, Mi, Ma, Mu heißen, also Mone, Mercedes, Mira, Matea und Muriel (die Katze). Und da war mir relativ schnell klar, dass das Absplitterungen von mir selber sind, also von Miku, und es war mir wichtig, sie nah an mir dran zu halten. Ich hatte dann die Namen und die hatte schnell eine Idee davon, wie die Figur so ist. Beim Schreiben lerne ich sie kennen und sie erzählen mir selbst, warum sie so sind, wie sie sind.

Über ihren Charakter entscheide ich nicht, sondern es ergibt sich sukzessive aus der Verarbeitung. Auch, wie sie im Verhältnis zueinander sind. Wie ein jüngstes Kind da agiert, und ein mittleres und ein ältestes. Wie man ist, wenn man in der DDR noch Teenager war, oder wenn man von der DDR eigentlich nur noch Rudimente mitbekommen hat, also, was sich in die Landschaft und in die Leute eingeschrieben hat, die einen großgezogen haben. Das ergibt sich dann einfach und ich muss das den Figuren gar nicht aufdrücken. Im Gegenteil merke ich eher, dass sie sich, auch wenn es kitschig klingt, wehren, wenn sie etwas nicht machen wollen. Wenn ich sie zu einem gewissen Grad kenne, kann ich sie zusammen in die Sauna setzen und kann sie reden lassen und gucken, was passiert.

Wenn du sagst, das sind Absplitterungen deines Namens: Bezieht sich das nur auf die Namen oder gibt es auch Absplitterungen deiner Charaktereigenschaften?

Beides. Für mich sind die Figuren immer auch ein bisschen ich. Das war bei Kintsugi auch schon so. Ich wurde einmal gefragt, wer mir da denn am nächsten sei. Und derjenige, der das fragte, erwartete natürlich, dass ich sagte, Pega ist mir am nächsten. Denn das ist ja die einzige Frau im ersten Buch. Ich habe aber geantwortet, die sind mir alle sehr nah. Am nächsten wahrscheinlich Max und Reik als dieses widersprüchliche Paar. Beide behandeln genau Themen, die meine Themen sind.

Die Entwicklung von Protagonist٭innen funktioniert für mich nie über Typen oder darüber, dass ich ganze Menschen „aus dem Leben stehlen“ würde oder so. Es ist komplizierter: Figurengenese ist ein Flickenteppich, ein Geflecht, verschiedene Splitter kommen da zusammen. Nimm das Bild, das dir gefällt, aber am Ende ist es etwas Zusammengesetztes, was im Idealfall zusammenwächst.

Es geht Zeug in einen rein, man prozessiert das irgendwie und es kommt irgendwas dabei heraus. Aber ich bin kein Spiegel, keine Linse, sondern es passiert etwas zwischen Eingabe und Ausgabe. Die Figuren setzen sich aus verschiedenen Dingen zusammen, natürlich auch aus Teilen von mir. Sie tragen Diskurse von mir in sich und geben mir die Chance, Fragen zu verhandeln. Ich merk mir schlecht Zitate, aber was ich nicht vergesse ist, dass Joan Didion gesagt hat: „Schreiben um zu Begreifen“. Das kann ich total nachvollziehen, dass man mit Fragen an einen Text herangeht, mit etwas, das man nicht versteht. Etwas nachvollziehen, um es zu verstehen. Um die Welt überhaupt zu ertragen und eben zu begreifen. Das kann ich über die Figuren spielen.

Wie wichtig ist Isolation als Setting für multiperspektivisches Erzählen?

Ich glaube, ich bin ein Mensch, der die Welt nur Millimeter für Millimeter verstehen kann. Ich bin nicht die Person, die dir das große, weltumspannende Panorama-Fresko malt, sondern würde dir eher sagen: „Hier guck mal, das Detail, das Mauseloch hier, die Wolke dort“. Und dafür ist die Isolation natürlich irgendwie gut, das Haus auf dem Land genauso wie eine gesellschaftliche Isolation, weil man nicht so viel jonglieren muss, sondern sich auf das wesentliche konzentrieren kann.

Auf der anderen Seite denke ich mir aber auch, ich hab ja eine ganz andere erzählte Zeit im zweiten Roman. Das ist am Ende ja schon ein ganzes Jahr. Die Kapitel sind einzelne Monate, aber natürlich ist das nie der ganze Monat, sondern ultra-eklektisch, es sind immer zwei bis vier Szenen – wenn’s hochkommt. Ich glaube sogar weniger.

Am Ende wirst du immer auswählen und ich glaube, dass auch das schon eine Form von Isolation ist – und dass dies immer etwas sein wird, das mir hilft: eine Situativität, die einen viel besseren Zugang zu Figuren gibt. Ich les grad ein Buch, in dem es immer wieder diese sehr jetzigen Momente und dann wieder Abschnitte gibt, in denen Geschichte erklärt wird. Also wirklich historische Geschichte. Und daran find ich total bemerkenswert, wie wertvoll situatives Erzählen ist – zum Beispiel auch im historischen Kontext. Also Isolation ja, aber wahrscheinlich eher auf einer formalen Ebene.

Da das Buch mit ihrem Selbstmord beginnt, fehlt die Perspektive der Mutter, Mone. Wie würdest du sie beschreiben? Oder würdest du das eher ungern tun?

Also sie ist nicht nicht da und hat immerhin einen Brief hinterlassen, in dem schon sehr viel von ihr drinsteckt. Ich hab sie aber auch erst über die Erzählungen der anderen nach und nach verstehen gelernt. Ich glaube, für mich war sie in dem Kontext eben einfach nicht die Hauptperson oder Erzählerin, weil sie vielleicht auch gar nicht unbedingt in der Lage gewesen wäre, sich für das, was ich wollte, selbst aufzuschlüsseln. Und das Ergebnis ist auch, dass es gar nicht so sehr ums Aufschlüsseln geht, sondern um das Ertragen, um das Einordnen, darum, sich selbst in Position zu setzen zu dieser Mutter, die nicht mehr da ist. Ich glaub, Mone ist… Nein, ich glaube, ich will das gar nicht.

Das dachte ich mir fast. War dir beim Schreiben wichtig, dass die Frage offen bleibt und jede Tochter ihre eigene Mone hat?

Ich wusste vorher schon, dass das so sein wird. Das Buch ist überhaupt nicht autobiografisch, aber es gibt ein paar Dinge, die man doch irgendwie weiß. Und das ist etwas, das ich weiß: Geschwister, die weit auseinander sind, erleben unterschiedliche Eltern. Und ich finde es eh spannend, zu versuchen, die einzelnen Bilder, die Leute von einem Menschen haben, in Einklang zu bringen. Sie nebeneinander zu halten und zu versuchen, jemanden zu verstehen.

Das ist eher das, was du aus der Figur herausholen wolltest, oder?

Ich glaube schon. Ich wollte viel. Ich wollte über das Sterben schreiben, über Selbstmord und über Frauen und Frauenkörper. Das habe ich alles gemacht und jetzt ist das Buch eben sehr … rot.

Mones drei Töchter sind sehr unterschiedlich. Was, würdest du sagen, sind ihre Gemeinsamkeiten?

Humor und Sprache sind das, wo sie sich am ehesten verbinden können. Mir fällt grad auf, dass sie alle am Anfang sagen, „die andere kann besser reden als ich“ oder „die ist viel souveräner als ich“, aber eigentlich finden sie eine gemeinsame Sprache, können miteinander reden und gemeinsam Witze machen. Einen gewissen Galgenhumor unter anderem auch miteinander führen. Und dafür müssen sie natürlich erstmal ins Sprechen kommen, was manchmal halt seine Zeit dauert.

Mir ist besonders bei Mira, der mittleren Tochter aufgefallen, dass die Dialoge auf mich sehr natürlich und lebensnah wirken, die ja ungefähr in deinem und meinem Alter ist. In wessen Perspektive fiel es dir am leichtesten, dich hineinzufühlen? Wie bist du vorgegangen?

Ich würde witzigerweise gar nicht sagen, dass es mir bei Mira am leichtesten gefallen ist. Ich glaube, am besten verstehen konnte ich anfangs Mercedes. Ich wusste bei ihr relativ schnell, warum sie so ist, wie sie ist. Und mochte sie auch sehr schnell sehr gern. Bei Mira war es viel komplizierter – sie in ihrer Persönlichkeit zu begreifen. Ich würde zum Beispiel sagen, dass sie mir von der Persönlichkeit her am fernsten ist, obwohl sie mir vom Alter ähnelt. Und dafür, wie sie spricht, was sie denkt und wie sie handelt, musste ich vielleicht sogar erstmal die meiste Empathie aufbringen. Ich musste durch ihre Brille durchgucken, was sie gesehen und erlebt hat. Und bei Matea, der jüngsten, hatte ich auch Skrupel, denn man möchte ja nicht unangenehm über 16-Jährige schreiben.

Ich hab dann irgendwann aber begriffen, dass es nicht darum geht, allen 16-Jährigen zu entsprechen, sondern nur meiner 16-Jährigen. Etwas, was sie zur Jüngsten macht, ist, dass sie sehr haltungsgetrieben ist. Sie hat noch nicht diesen „Dum spiro spero”-Gedanken. Ich weiß, dass ich nichts weiß und je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass ich immer weniger verstehe. Sie ist sehr abgeklärt und denkt, dass sie alles versteht und durchschaut. Das ist, was sie jugendlich macht.

Ich habe das Gefühl, von den drei Schwestern ist Matea auch die toughste. Es gibt eine Szene, in der sie sehr souverän einer Person in Not mit der Suizid-Nothilfe verknüpft, was ich für eine 16-Jährige ziemlich stark finde. Was hat sie so stark gemacht?

Ich glaube, da lohnt es sich, anzuschauen, wer wie mit welcher Mone zusammengelebt hat. Und wenn man hört, wie Matea von ihren Erinnerungen erzählt, versteht man, wie allein sie war. Ich habe viele Gespräche geführt, also nicht für das Buch, sondern einfach in meinem Leben, mit Leuten, die ihre Eltern verloren haben. Auch oft wegen Suizid. Und ein jüngstes Kind sagte mir einmal, er war am Ende froh, als sein Vater nicht mehr da war: „Ich war der Letzte, ich war der Jüngste, der mit ihm leben musste. Und es war scheiße. Es war hart und nicht mehr schön mitanzusehen. Und ich wusste auch, ich kann nichts mehr machen.“

Ich glaube, da sind eine Härte und eine Rauheit, die aus einem Überlebenstrieb kommt. Daher, dass man konfrontiert mit dem Jetzt ist und nicht in der Lage, sich in Nostalgie zu verlieren. Zum einen hat man sie vielleicht auch viel weniger, weil man als jüngstes Kind die Eltern anteilig am längsten zum Beispiel in Krankheit erlebt hat. Oder nach einer Krise oder suizidal. Man kann durch die Gegenwärtigkeit dieses schlechten Zustands aber auch einfach nichts romantisieren. Das ist das, worin Matea so geschult ist.

Letzte Frage: Du brauchst ihn nicht zu verraten, aber du schon einen Titel für deinen nächsten Roman?

Ja, hab ich. Mal gucken, ob er es bleibt.

Vielen Dank!

Voll gern.


 

„Triskele“ von Miku Sophie Kühmel erschien am 10. August 2022 bei S. Fischer und hat 269 Seiten.

 

 

Bilder: © Gregor van Dülmen

 


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Buchtipps für die Quarantäne

Norbert Elias Über die Einsamkeit der Sterbenden

Lesen hilft so oder so. Ob zur Ablenkung in der Quarantäne oder zur Einordnung von Isolation, Wahnsinn, Leben und Tod. Welche Buch- oder eBook-Händler ihr im Moment auch unterstützen möchtet, hier sind ein paar Titel für eure Bestellliste.


Dirk Sorge empfiehlt …

 

Wenn ich mich nicht irre von Geert Keil

In den letzten Wochen ist vielen von uns wieder bewusst geworden, wie wichtig es ist, sicheres und verlässliches Wissen über die Welt zu erlangen.

Wir müssen uns auf Aussagen verlassen, die wir nicht alle bis ins letzte Detail nachprüfen können. Wir haben aber auch erlebt, dass selbst Wissenschaftler٭innen und Expert٭innen sich irren können. Wir alle sind fehlbar. Geert Keil analysiert die Fehlbarkeit als eine grundlegende menschliche Eigenschaft und untersucht, wie sie mit den Begriffen Wissen und Wahrheit zusammenhängt. Das schmale Büchlein gliedert sich in 11 Kapitel und wendet sich ausdrücklich nicht an Fachleute, sondern an interessierte Laien. Philosophisches Vorwissen wird nicht vorausgesetzt (kann aber nicht schaden, um den anspruchsvollen Gedankengang leichter nachzuvollziehen).

Die Lektüre von „Wenn ich mich nicht irre“ tut gut, denn Geert Keil rehabilitiert den Wissensbegriff, den wir jetzt dringender denn je brauchen. Einer radikalen grundlosen Skepsis erteilt er genauso eine Absage wie der Selbstüberschätzung des eigenen epistemischen Standpunkts.

Keil räumt in dem Buch mit einem populären Fehlschluss auf: Aus der Tatsache, dass wir uns irren können und nie sicher sein können, ob unsere Aussagen wahr oder falsch sind, folgt nicht, dass unsere Aussagen nie wahr sind und dass es gar keine Wahrheit gibt. Es folgt nur, dass wir die Möglichkeit des Irrtums nie ausschließen können und Fehler eingestehen müssen, sobald bessere Belege oder überzeugendere Argumente vorgelegt werden. Fehler zuzugeben, ist also kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen für Rationalität und Offenheit. Gute Wissenschaftler٭innen und Politiker٭innen räumen ein, wenn sie sich geirrt haben. Das unterscheidet sie von Scharlatanen, Esoteriker٭innen und Fanatiker٭innen.

Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit erschien bei Reclam und hat 96 Seiten.

Bild: © Dirk Sorge

Franziska Friemann empfiehlt …

Grief Is the Thing with Feathers von Max Porter

Max Porter Grief is the thing with feathers

Was passiert, wenn ein Mensch plötzlich stirbt? Wie geht man mit der Leere um, die bleibt, wenn auch der letzte Kondolenzbesuch endet? Wie hält man den Schmerz und die Trauer aus?

In seinem Debütroman Grief is the Thing with Feathers widmet sich Max Porter auf überraschende, ergreifende, lustige und ehrliche Weise diesen Fragen. Ein Vater lebt mit seinen zwei Söhnen in London. Die Ehefrau und Mutter ist plötzlich verstorben. In einem Moment der Verzweiflung und der tiefen Trauer erscheint Crow, die Krähe – eben dieses Ding mit Federn – vor der Haustür der Familie und kündigt an, sie erst wieder zu verlassen, wenn sie nicht mehr gebraucht werde. Sie platzt in das Familienleben, ungehobelt, rotzfrech und gleichzeitig charmant. Allgegenwärtig und wenig zurückhaltend reißt die Krähe das Zepter innerhalb der Familie an sich.

CROW: “I was friend, excuse, deus ex machina, joke, symptom, figment, spectre, crutch, toy, phantom, gag, analyst and babysitter.”

Der Text wirkt seltsam lebendig, unbändig und schlicht wild. Er wechselt von Seite zu Seite die Perspektive – vom Vater zur Krähe, zu den Söhnen und wieder zurück. Auch sprachlich ist alles im Fluss. Prosatext wird durch lyrische Elemente gebrochen. Porter schafft, sozusagen federleicht, das Verschmelzen von Märchen, Wahn und der bitteren Realität der Trauer. Eine Geschichte, die noch lange nach Beenden der letzten Seite nachwirkt.

Grief Is the Thing with Feathers erschien 2015 bei Faber und hat 128 Seiten, die deutsche Übersetzung bei Hanser Berlin.

Bild: © Franziska Friemann

Lennart Colmer empfiehlt …

Rote Kreuze von Sasha Filipenko

Dass nur eine funktionierende Nachbarschaft bereichernd sein kann, hat die jetzige landesweite Quarantänesituation mit Sasha Filipenkos neuem Roman gemeinsam.

Wir schreiben das Jahr 2001 und sehen dem vom Schicksal gebeutelten Alexander bei der Wohnungsübergabe in einem Mehrparteienhaus in Minsk zu. Noch am selben Tag macht er die (anfangs widerwillige) Bekanntschaft mit seiner 90jährigen, an Alzheimer erkrankten Nachbarin. In lebhaften Rückblenden erzählt Tatjana ihre bewegende, vom sowjetischen System verstümmelte Lebensgeschichte, sodass sie schließlich auch zu einem Teil von Alexanders wird. Filipenkos Roman zeichnet ein stoisches wie einfühlsames Bild einer vom Sowjetsystem traumatisierten Gesellschaft, die noch Jahrzehnte später zwischen Erinnern und Vergessen schwankt. Bedrückend, herzlich, packend.

Rote Kreuze von Sasha Filipenko erschien 2020 bei Diogenes und hat 288 Seiten.

Tag der geschlossenen Tür von Rocko Schamoni

Der Titel des Romans scheint aktueller denn je.

Für Schamonis Antihelden Michael Sonntag hingegen stehen vielleicht sämtliche Türen offen, aber er hat wenig Elan, hindurchzugehen. Eingeschlossen in Lethargie und dem Gefühl der Sinnlosigkeit streift der Mittdreißiger ziellos durch Hamburg und legt paradoxerweise dadurch ein großes, kreatives Potenzial zutage, das Schamoni in unverwechselbarer Döspaddeligkeit schildert: Von dem Sammeln von Krankheiten in öffentlichen Räumen über jenes von Absagen bis zum vorgetäuschten Wärterjob in der Kunsthalle wird kaum etwas ausgelassen. So krude wie der Roman auch ist, so unterhaltsam und aus dem Leben gegriffen liest er sich.

Tag der geschlossenen Tür erschien 2012 bei Piper und hat 272 Seiten.

Rumo & Die Wunder im Dunkeln von Walter Moers

Ein Heldenroman wie man ihn nur selten findet, eine Liebesgeschichte wie keine zweite, eine einzigartige Reise ins Ungewisse.

Dieses Fantasy-Meisterwerk aus dem Hause Moers kann ich alle paar Jahre mit derselben Begeisterung lesen wie beim ersten Mal. Dass Harmlosigkeit ein Luftschloss ist, muss Rumo bereits in jüngstem Alter erfahren, als er seinem behutsamen Zuhause plötzlich entrissen wird. Statt den Kopf in den Sand zu stecken, lernt Rumo das Entdecken und das Kämpfen, was sich ihm in den verschiedensten Lebenslagen noch als nützlich erweisen wird. Eine mitreißendes, düsteres Märchen vom Erwachsenwerden und seinen Herausforderungen.

Rumo & Die Wunder im Dunkeln erschien 2003 bei Piper und hat 704 Seiten.


Filiz Gisa Çakir empfiehlt …

Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen von Norbert Elias

Norbert Elias Über die Einsamkeit der Sterbenden

Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme.

Und er ist ein großes Problem. Unseren Umgang mit dem Thema Tod und Sterben beleuchtet der deutsch-britische Soziologe Norbert Elias in seinem essayistischen Werk „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“. Erschienen im Jahre 1982, ist es aktuell wie eh und je. Denn welches Thema liegt während einer Pandemie näher als unsere Vergänglichkeit? Aber Spaß bei Seite, auch wenn es schwer zu glauben klingt, ist dieses Buch keineswegs so deprimierend zu lesen, wie der Titel vermuten lässt!

Ganz im Gegenteil … Obwohl, erbauend ist es auch nicht unbedingt. Es ist nun mal die Realität, dass auch in „Nicht-Corona-Zeiten“ Menschen einsam und allein in einem Krankenhausbett oder in einem kahlen Zimmer im Altersheim sterben. Warum ist das so? Warum schieben wir diesen einzigartigen, wichtigen Moment so weit aus unserem Blickfeld? Aus Angst, Egoismus, oder ist doch der Kapitalismus schuld? Mit diesen Fragen setzt sich der Autor in seiner soziologischen Abhandlung auseinander. Ursachen, aber auch Folgen dieser Verdrängung der Sterblichkeit, die in den westlichen Industrieländern vorherrscht und im Auslagern der sterbenden Menschen oder auch im Zulauf (alternativer) religiöser Strömungen endet, werden analysiert und untersucht. Aber keine Sorge, dies geschieht in einer verständlichen und kurzweiligen Art und Weise.

Bei der Reflexion unserer Auffassung vom Tod und was für uns „gelungenes Sterben“ bedeutet, können wir viel über uns selbst und die Zivilisationsprozesse deren Teil wir sind, lernen. Gerade in Zeiten, die zum Innehalten zwingen, haben wir die Chance uns aufs Wesentliche zu besinnen und uns essentiellen Fragen jenseits der täglichen Zerstreuung zu stellen. Und genau dafür gibt dieser Text von Elias großartigen Input. Es ist kleines Büchlein voller schlauer Sätze und Aha-Effekte, welches in wirklich keinem vernünftigen Bücherregal fehlen sollte!

Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen erschien 1982 bei Suhrkamp und hat 264 Seiten.

© Filiz Gisa Çakir

Lukas Lehning empfiehlt …

Manhattan Beach von Jennifer Egan

In Manhattan Beach lernen wir eine junge Amerikanerin kennen, die sich in den 40er Jahren in New York für den Zweiten Weltkrieg engagiert.

Dies tut sie, indem sie sich in der Marinewerft als Unterwasserschweißerin meldet – ein Knochenjob. Dabei kämpft sie nicht nur mit den Grenzen ihres Körpers, sondern auch mit denen der Gesellschaft. Weder ihr Chef noch ihre Kollegen und Kolleginnen trauen ihr diese Tätigkeit zu. Doch nach zahlreichen Rückschlägen, Enttäuschungen und Zufällen zu ihren Gunsten erreicht sie ihr Ziel: Die Heldin ist, nur umgeben von unendlichen Wassermassen und repariert den Rumpf eines Kriegsschiffs. Hierbei gelangt sie jedoch nicht nur auf den Grund des Hudson Rivers, sie erfährt auch, warum ihr Vater vor vielen Jahren spurlos verschwunden ist.

Jennifer Egan schreibt weniger ein Buch über eine junge Patriotin, als dass sie das Portrait einer Gesellschaft zeichnet, in der junge Frauen gesagt bekommen, was sich für sie schickt und was nicht, in der ihnen eine feste Rolle zugeschrieben wird und in der Ausbrechen nicht vorgesehen ist. All diese – erschreckend aktuellen Beobachtungen – verpackt Egan in einen Roman, der halb Gesellschaftskritik und halb Kriminalroman ist. Und genau darin liegt die Stärke dieses fast fünfhundert Seiten umfassenden Buches. So unbefangen, wie die Hauptdarstellerin zwischen New Yorker Nachtleben der 30er und 40er Jahre und der Arbeit in der Werft hin und her tanzt, gelingt es Egan, ein schwieriges Thema mitreißend zu erzählen.

Manhattan Beach erschien bei S. Fischer und hat 488 Seiten.

Bild: © Lukas Lehning

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Japanisches Kammerspiel nahe Berlin: Kühmels Kintsugi

„Wo in leuchtenden Lettern LOVE draufsteht, ist nie LOVE drin.“

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Kintsugi, das lernt man in Miku Sophie Kühmels Debütroman, ist ein japanisches Kunsthandwerk, in dem zerbrochenes Porzellan durch den Einsatz von Gold repariert wird. So kunstvoll, dass die goldgeaderten Tassen, Vasen, Teller oder Schalen wirken, als hätte erst der Bruch ihnen zu Vollendung verholfen. Die Metapher wäre schon stark genug, um auf ihr allein einen Roman über zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Doch Miku Sophie Kühmel geht noch ein paar Schritte weiter in die japanische Ästhetik hinein und unterstellt die Kapitel jeweils verschiedenen traditionellen Idealen, zum Beispiel „iki“, der Verführung roher Feinheit angesichts des Todes, oder „karumi“, der Leichtigkeit im Gewicht der Dinge. Parallel wechselt zwischen den Kapiteln die Perspektive und die Handlung wird, unterbrochen von szenischen Passagen, viermal hintereinander von allen Hauptpersonen einzeln ausgeleuchtet und eingeordnet. Dadurch verschiebt sich nicht nur die Ausgangssituation, sondern jedes Kapitel wirkt sich auf die Wahrnehmung jedes anderen aus und beeinflusst es im Voraus oder Nachhinein.

Doch was erzählt der Roman eigentlich? Ein Paar, Max und Reik, treffen ihren Freund Tonio und dessen Tochter Pega in ihrem Ferienhaus nahe Berlin. Max arbeitet als Archäologe im akademischen Mittelbau, Reik als Künstler, der schon in jungen Jahren seinen Durchbruch hatte, was den beiden unter anderem den Luxus des Ferienhauses verschaffte. Tonio, ein Jugendfreund Reiks, ist Pianist ohne künstlerischen Durchbruch, dessen Lebensfokus auf der Erziehung seiner Tochter liegt, die aus einer Teenager-Romanze hervorging. Letztere, Pega, ist inzwischen Anfang zwanzig, beim Vater ausgezogen und im Studium. Eigentlich suchen die vier bei dem Treffen nur Ruhe vom Leben in Berlin und versuchen, den Garten auf den Frühling vorzubereiten. Statt Ruhe finden sie Konfrontation, sowohl untereinander als auch mit den eigenen Konflikten, die sich immer weniger gut ausblenden lassen.

Auch das Buchcover interpretiert die Kintsugi-Ästhetik:

Quelle: Instagram

Kühmel lässt auch nicht einfach nur ein Paar und eine befreundete Kleinfamilie aufeinandertreffen, dafür ist ihr Roman zum Glück zu komplex erzählt. Alle kennen sich viel zu lange und sind einander jeweils einzeln eng verbunden. In Kintsugi treffen sich vier Personen, von denen einer den anderen um seinen künstlerischen Erfolg beneidet, ein anderer den einen um dessen Tochter. Von denen zwei davon überfordert sind, dass ihre alte Ausrede, homosexuelle Paare dürfen nicht heiraten, plötzlich nicht mehr greift. Von denen drei die Erziehung der vierten übernommen haben, einer diese für sich reklamiert und eine sich inzwischen fertig erzogen fühlt. Und denen allen klar wird, dass sie freie erwachsene Menschen sind und ihre Beziehung zueinander neu definieren können, ja, sogar müssen. Die wesentlichsten Konfrontationen, deren Wirkung auf die Psyche Kühmel fein ausarbeitet, betreffen neue Lebensphasen und den individuellen Mut, sich diesen zu stellen.

Was Miku Sophie Kühmels Roman so gut macht, und ihm bereits Literaturpreise einbrachte, ist seine wortgewaltige Erzählweise, die von der Kapitelstruktur bis zum kleinsten Nebensatz allem eine Bedeutung beimisst. In langen Passagen, die immer wieder von der Gegenwart in die Vergangenheit ausholen, gelingt es ihr, die passenden Horizonte herzustellen und genau die nötigen Worte auszuwählen, um das für die Handlung Wichtige zu herauszufiltern.

Immer wieder staunt man, welche Worte es dann sind, die sie für maßgeschneiderte Beschreibungen findet. Eine Stärke entfaltet auch das Zusammenspiel individueller Perspektiven auf vermeintlich gemeinsam Erlebtes, ohne einer objektiven Erzählinstanz zu bedürfen. Da der Roman in wenigen Ereignissen viel Bedeutung findet, zwingt er zu genauem Lesen, bestraft das Überfliegen von Passagen mit dem Zwang, zurückzublättern, wodurch er gefühlt nochmal ein paar hundert Seiten länger wird. Das wiederum ist aber eher ein Vorteil als eine Strafe, denn so lässt sich das Beenden des Romans noch ein wenig hinauszögern. Vielleicht gewinnt Miku Sophie Kühmel mit ihrem Debütroman morgen sogar den Deutschen Buchpreis, vielleicht nicht. Aber es sind erst Romane wie Kintsugi, die solchen Preisen überhaupt Bedeutung verleihen.

Kintsugi von Miku Sophie Kühmel erschien im Verlag S. Fischer und hat 304 Seiten.