Schlagwort: Ryu Murakami

Ein weltpolitischer Großroman

Es ist ein bizarres und doch erschreckend realistisches Gedankenexperiment, das der japanische Schriftsteller Ryū Murakami, mit seinen zweiteiligen Roman In Liebe, Dein Vaterland vorgelegt hat: Darin besetzt eine nordkoreanische Sondereinheit, getarnt als Rebellen und Kritiker des totalitären Regimes, die japanische Hafenstadt Fukuoka und setzten sich als Ziel, das von Wirtschaftskrisen geplagte Japan zu erobern. Dieses Jahr ist der zweite Band Der Untergang erschienen.


Im ersten Band Die Invasion ist das Expeditionskorps Koryo in Japan gelandet. Nordkorea nutzt dabei die japanische Wirtschaftskrise, die dafür sorgt, dass der Staat im Grunde nicht mehr intakt ist und es ganze Heere an Obdachlosen gibt. Nach und nach übernahm die Yakuza, die japanische Mafia, die politische Macht. Nachdem Koryo eingegriffen hat, hat das Korps versucht, mit politischen Säuberungen die Yakuza zu bekämpfen, sich selbst als Rebellen zu inszenieren und seine Basis in Fukuoka auszubauen, bis das nordkoreanische Heer ganz Japan erobern soll. Band zwei spielt sich – nach kleineren Rückfällen für das Expeditionskorps – zwischen Fukuoka, Tokio, Pjöngjang und der Insel Sakito ab. Murakami nutzt dabei eine riesige Menge an Protagonisten, die in diesem Band größtenteils aus politischen Opportunisten, überforderten Bürokraten, ein schwaches Militär, eine passive Polizei und feigen Journalisten, die sich in den Dienst des Expeditionskorps stellen, besteht. All diese Gruppen diskutieren, ob es sich bei der Invasion um einen kriegerischen Akt handelt oder ob die nordkoreanischen Geiselnehmer Verbündete sind, und überlassen somit den Invasoren die politische Kontrolle, die sich nun medial als Befreier inszenieren, ein autoritäres Regime einführen und unliebsame Zivilisten töten. Aber natürlich gibt es in dem Roman noch die aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen: nämlich die Obdachlosen und einer Bande brutaler jugendlicher Satanisten, die Ishihara-Gruppe. Allein Letztere beschließen, die Invasoren zu bekämpfen.

Diese Protagonistenkonstellation ist typisch für den düsteren Murakami. Die Würdenträger und Personen mit öffentlicher Anerkennung und Autorität sind vollkommen hilflos gegenüber dem nordkoreanischen Coup, die geopolitischen und intriganten Aktionen der Koryos werden von ihnen nicht durchschaut, oder wenn doch, dann nur für eigene Klüngel genutzt. So sind die eigentlichen Unsympathen entweder unfähige japanische Akteure oder Verräter, wie selbstgerechte Öko-Mütter im öffentlichen Dienst oder die ideologisch-indoktrinierten Nordkoreaner, die versuchen, im eigentlich neofeudal-kapitalistischen Japan zurechtzukommen. Die potenziellen Retter dagegen sind psychopathische Außenseiter, die mit Gift, Sprengstoff und zelebrierten Gewaltexzessen die Nordkoreaner überraschen wollen.

Eine Erzählkunst, die ihresgleichen suchen muss

Keiner der Protagonisten wird dabei aber als (byronscher) Held gefeiert. Sehr realistisch mangelt es bei Murakami an solch nervigen Archetypen. Kalt und berichtend, hin und wieder versetzt mit beißenden Ironien oder Zynismen schildert der Autor diese unerhörte Dystopie. So wird kein Charakter zur Identifikationsfigur. Der Leser wird vielmehr von der ungeheuerlichen Handlung und dem spezifischen Stil gefesselt. Das ist großartig und eröffnet eine kritischere Auseinandersetzung mit der Handlung, anstatt der emotionalen Präferenz eines bestimmten Protagonisten. Denn selbst die Außenseiter werden nicht als rebellische Underdogs gefeiert, denn sie sind zu brutal, zu psychotisch, zu blutrünstig und zu sektiererisch, um irgendeine Sympathie zu wecken. Zusammen mit Murakamis kühler, meist berichtender Erzählweise geht der Leser also natürlicherweise auf Distanz.

Somit fehlt bei Murakami, abgesehen von politischen Reden der Koryos oder Ishiharas, auch jeder Pathos oder Idealismus. Murakamis eigener Erzählstil ist nämlich herrlich trocken und abgeklärt – und steht in seiner geringen Emotionalisierung und bar jeder Moralisierung in einem auffälligen Gegensatz zur Handlung, die sich irgendwo zwischen einer staatstheoretischen Spekulation für eine Alternativwelt, geopolitischen Abhandlung, Thriller und Actiongeschichte – die entweder an Kriegscomputerspiele oder einen nicht-jugendfreien Manga erinnert – lokalisieren lässt. Daraus wird schließlich ein literarisch meisterhafter Politroman. Spannung, Gewalt und kühle Verstandeskraft geben sich hier die Klinke in die Hand. All dies zeigt nicht nur, dass Murakami offensichtlich ein sehr realistisches bis pessimistisches Menschen- und Politikbild hat, das er grandios (komplex, aber gleichzeitig noch übersichtlich) zu schildern in der Lage ist, sondern auch, dass seine umfangreiche Phantasie von einer hohen politischen Urteilskraft sowie Folgerichtigkeit und Detailreichtum zeugt.

Murakami gelingt somit etwas, was in der Weltliteratur erstaunlich selten ist. Er entwickelt einen weltpolitischen Großroman, der detailliert ein alternatives Szenario denkt, indem er Imperialismus, Feindstellungen und die kapitalistisch-psychotische Perversion unserer Zeit auf die Spitze treibt, ohne in seinen bizarren Schilderungen absurd zu werden. Trockener und gleichzeitig fesselnder, abgeklärter sowie brillanter hätte diese Geschichte nicht erzählt werden können. Eine Erzählkunst, die ihresgleichen sucht.

In Liebe, Dein Vaterland, Bd. 2: Der Untergang von Ryū Murakami erschien im Wiener Septime Verlag und hat 504 Seiten.

Ein Gedankenexperiment zum Weltuntergang

Es ist bekannt, dass der japanische Schriftsteller und Regisseur Ryū Murakami (nicht zu verwechseln mit Haruki Murakami!) gerne schonungslos über rohe Randgestalten dystopischer Gesellschaften schreibt. Zu Recht gilt daher auch sein Roman Coin Locker Babies als düsteres und misanthropisches Meisterwerk. Doch nun liegt ein weiterer grandioser Roman von ihm auf Deutsch vor: nämlich der erste Band des Werkes In Liebe, Dein Vaterland. Darin entwirft er erstmals ein gar nicht so abwegiges düsteres Gesamtbild einer zukünftigen Politik und Gesellschaft auf raffinierte und abgeklärte Weise.


Das Buch, bereits 2005 in Japan veröffentlicht, biegt Anfang des 21. Jahrhunderts ab und entwirft eine alternative Weltgeschichte. Die USA haben sich unter George W. Bush mit ihren Kriegen überhoben, sind pleite und  entwickeln sich zu einem gescheiterten Staat. Da der Yen an den US-Dollar gekoppelt ist, geht auch Japan bankrott. Das Sozialsystem kollabiert, marodierende Banden ziehen durch die Lande, die Yakuza (die japanische Mafia) übernimmt die Kontrolle über die Gesellschaft, und Massen an Obdachlosen bevölkern die Stadtränder. Auch sind die USA gezwungen, ihre Beziehungen zu Nordkorea aufzuweichen und sich aus der asiatisch-pazifischen Region zurückzuziehen.

Nordkorea sieht nun seine Chance gekommen und schleust heimlich eine Einheit an Elite-Soldaten unter Leitung des fanatischen Choi Rak-gi nach Japan. Die Soldaten besetzen ein Baseball-Stadion in Fukuoka, nehmen Tausende Zuschauer als Geiseln und geben sich als militärische Widerstandskämpfer gegen das totalitäre Nordkorea aus, die sich auf der Insel organisieren wollen. Während die Politik verwirrt und gelähmt ist, planen die Invasoren die Geheimoperation „In Liebe, Dein Vaterland“. Diese soll 120 000 nordkoreanische Soldaten nach Japan bringen, um es vollständig zu erobern.

Murakami übertrifft sich mit dem ersten Band Die Invasion dieser auf zwei Teile angelegten Reihe selbst. Mit einer überlangen – vom Umfang an russische Romane des 19. Jahrhunderts erinnernde – Liste an Protagonisten schreibt Murakami über verschiedenster Figuren auf verschiedensten Ebenen: von japanischen und koreanischen Politikern und Geheimdienstlern, die stets intrigant und bösartig auftreten, über japanische Mafiosis, die im Namen der Gerechtigkeit von den Invasoren hingerichtet werden, bis hin zu einer Gruppe an jugendlichen Soziopathen (die Ishihara-Gruppe), die das Geschehen amüsiert verfolgen und es für ihre eigenen Gewaltphantasien ausnutzen.

Gesellschaftskritik ohne moralischen Zeigefinger

Erstaunlich ist dabei, dass es keinen Helden und keine wirkliche Identifikationsfigur in dieser Liste gibt. Realistisch werden die Protagonisten als Egoisten, Bürokraten oder von der Gesellschaft zu Geisteskranken geformte Persönlichkeiten dargestellt. Es gibt keine guten Übermenschen, die das Land retten; es gibt nur Opfer, Täter und Kriegsgewinnler. Falls im zweiten Band überhaupt jemand Japan von der Besatzung befreien kann, dann eher die im ersten Teil der Handlung noch abseits der Handlung stehende Ishihara-Gruppe. Das birgt eine gewisse Ironie, denn in der Gruppe tummeln sich Satanisten, Nordkorea-Sympathisanten und mehrfache Mörder – und die haben eher Zerstörung und Chaos denn Rettung im Sinn. Durch die erzeugte Distanz zu den Akteuren – und damit auch dem Geschehen – entfaltet sich die Möglichkeit des Lesers, den Roman als radikale Gesellschaftskritik aufzufassen, zu denken, statt zu fühlen, trotz der sich abspielenden Monstrosität.

Doch Murakami hebt nicht den moralischen Zeigefinger. Das Buch ist im Grunde sogar gänzlich amoralisch und nichtnormativ. Denn auch der Erzähler geht demonstrativ auf Distanz zu den geschilderten Ereignissen und Gedanken der Protagonisten. Murakami erzählt seine Geschichte wie einen Bericht. Dabei gelingt ihm der erstaunliche stilistische Drahtseilakt trocken, sachlich und dokumentarisch, aber auch (schon bedingt durch die Krassheit der Handlung) spannend und bedrückend zu erzählen. Jenseits jeglicher Identifikation oder des Kitsches (den beispielsweise sein Namensvetter ab und an anheimfällt) erfasst der Autor so ein Bild von der Totalität einer perversen Gesellschaft. Und indem sein Stil nur als unparteiisch und zynisch zu klassifizieren ist, gespickt mit zahlreichen Ironien, satirischen Elementen, die den morbiden Leser zum Schmunzeln einladen, oder brutalen, manchmal auch überspitzten Gewaltszenen, ist das Buch auch herrlich unaufgeregt und unempört im Angesicht einer umwälzenden Handlung. In Liebe, Dein Vaterland, Band 1 ist damit nicht weniger als eine Meisterleistung einer vielseitigen und komplexen soziofiktiven Narration.

Zwar handelt es sich bei dem Buch um eine alternative Geschichtsschreibung, also eher ein umfassendes pessimistisches Gedankenexperiment in Romanform, an dessen Ende zweifellos die Zerstörung Tokios stehen wird – so ist es nämlich Tradition in der japanischen Science Fiction. Doch so unrealistisch ist das politische Szenario nicht einmal. Dass die USA sich oligarchisieren, also ihren Staat Wirtschaftsbossen überlassen, sowie sich und andere mit ihrer Außenpolitik ruinieren und aus Ostasien raushalten, ist spätestens in der Ära des Trump-Wahnsinns nicht unplausibel. Murakami zeigt uns damit, wie sich auch industrialisierte, als stabil geltende Staaten (wie Japan oder die USA, man kann aber auch die europäischen Nationen leicht hinzufügen) zu failed states entwickeln können, und die Bevölkerung dann leichte Beute für Invasoren aufstrebender fremder Mächte und innerländischer Warlords ist.

Man kann sogar so weit gehen zu behaupten, dass der Autor uns die mögliche Folge der Perversionen von imperialistischem Krieg, kapitalistischer Oligarchisierung der Politik und Verarmung der Gesellschaft dank Währungskursen trocken und auch ein bisschen amüsiert aufzeigt. Böser, drastischer, pessimistischer und brillanter als Murakami hätte man die Weiterentwicklung des Weltsystems nicht denken, aber vor allem nicht erzählen können. In Liebe, Dein Vaterland, Band 1 ist ein Zukunftsroman, der noch seinesgleichen sucht.

In Liebe, Dein Vaterland, Band 1, Die Invasion von Ryū Murakami wurde von Ursula Gräfe ins Deutsche übersetzt. Der Band erschien im September beim Septime Verlag Wien und hat 456 Seiten. Band 2, Der Untergang, ist fürs Frühjahr 2019 angekündigt.