Schlagwort: Rowohlt Verlag

Fett, Schweiß und Zersetzung in Niendorf 

Wenn der Verlag einen Roman als „eine Art norddeutsches ‚Tod in Venedig‘“ ankündigt, sind die Erwartungen hoch. Es sei denn die Betonung liegt auf „eine Art“. Denn bei einem Vergleich zwischen Thomas Mann und Heinz Strunk wird man beiden nicht gerecht.


Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Aber ja, vielleicht ist er eine Art „Tod in Venedig“, dann aber auch eine Art „Die Verwandlung“ oder eine Art „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Am Schluss ist er jedoch ein Roman, der für sich und gleichzeitig ganz in der Tradition der Heinz-Strunk-Werke steht. Denn worum geht es? Es geht um die Abgründe des männlichen Seins, es geht um das Unappetitliche, es geht um menschliche Ausdünstungen, Essensmief, Körper- und andere Flüssigkeiten. Es geht um „einen eifleckigen, einen Geruch hinter sich herziehenden Freak“.

Dabei fängt er doch so sauber und geordnet an, der Plot. Anwalt Dr. Roth, 51, mitten im Berufsleben stehend, gönnt sich eine dreimonatige Auszeit zwischen zwei Jobs im schleswig-holsteinischen Niendorf an der Ostsee. Als Ortsteil der Gemeinde Timmendorfer Strand verspricht dieser Aufenthaltsort wenig Aufregung und Ruhe zum Schreiben. Genau das, was der Protagonist sucht, will er doch nichts weniger als einen Bestseller schreiben – über seine bürgerliche Familie. Diese Rechnung hat er jedoch ohne seinen Vermieter, dem Strandkorbverleiher und Spirituosenladenbesitzer Breda, gemacht. Herr Breda ist die Personifizierung von allem, was Roth verabscheut. Von allem, was Roth niemals werden will, niemals sein möchte, nie sein wollte. Doch die Langweile, die Trostlosigkeit, die Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft regelt das. Und viel zu später merkt Roth, dass seine Verwandlung bereits in vollem Gange ist.

Aber ist es wirklich eine Verwandlung? Kämpft sich da nicht eher etwas an die Oberfläche, was immer schon tief in ihm geschlummert hat? Oder ist es doch ein Befreiungsschlag aus einem Leben, das er schon lange nicht mehr leben wollte? Fest steht, irgendwas passiert mit dem Protagonisten. Und lange ist nicht klar, wohin das führen wird und was das alles in der Konsequenz bedeutet.

Währenddessen werden die Leser*innen durch den Plot geführt wie durch ein Horrorkabinett. Denn Strunk porträtiert einmal mehr den Blick seines Protagonisten auf seine Mitmenschen. Und dieser ist meist kein freundlicher, wohlwollender, sondern ein abfälliger, ein oberflächlicher, auf das Äußere reduzierender Blick: Ihre abstoßenden Gerüche werden beschrieben, ihre gelb verfärbten Achselhöhlen und ihre Haut, die die „Farbe von fauligem Obst angenommen“ hat. Das ist nicht neu, werden doch die Protagonisten (nicht gegendert, da ausschließlich männlich) in Strunks Romanen weniger über die Schilderung ihrer Gefühlswelt, ihres Innenlebens charakterisiert, als mehr darüber, wie sie die Welt um sich herum sehen, ertasten, riechen, schmecken und verurteilen. Und das ist es, was Strunks Werke ausmacht: seine sehr detailreichen Beschreibungen neben den pointierten Dialogen, die lustig und tieftraurig zugleich daherkommen.

Doch zwischen diesem Abstoßenden und Trübsinnigen gibt es einen Lichtblick in „Ein Sommer in Niendorf“: das ältere Ehepaar Klippstein. Können sie Dr. Roth retten?

Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Und auch keine Sommerlektüre im klassischen Sinne. Aber er liest sich schnell und er unterhält. Doch eines muss wirklich einmal ausführlich analysiert und diskutiert werden: das Frauenbild ins Strunks Werken. Denn auch in diesem Roman wirft es einige Fragen auf.


„Ein Sommer in Niendorf“ von Heinz Strunk erschien im Juni 2022 im Rowohlt Verlag und hat 240 Seiten.

Buchcover: © Rowohlt-Verlag 

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Wiener Vagabunden-Jugend

Die österreichische Autorin und Humoristin Stefanie Sargnagel hat mit „Dicht“ einen unterhaltsamen Coming-of-Age-Roman geschrieben – über eine Wiener Herumtreiber-Jugend in Parks, vor Clubs und in Privatwohnungen abgedrehter, aber liebenswerter Freunde mit Zigaretten, Joints und viel Bier. Die Schule hingegen kommt konsequent schlecht weg.


Es ist eine ganz eigene Welt, in die Stefanie Sargnagel ihre Leserinnen und Leser in „Dicht“ mitnimmt, eine Welt, auf die man sich am Anfang ein wenig einlassen muss, was allerdings aufgrund des heiteren und unverkrampft humorvollen Erzähltons der Autorin nicht weiter schwerfällt. Bereits nach einigen Seiten fühlt man sich wieder in die eigene Jugend zurückversetzt, als Autoritäten infragegestellt wurden, wenn auch vielleicht nicht ganz so radikal wie das die Protagonistin von „Dicht“ tut, indem sie die Schule („Maturafabrik“, „gewalttätiger Polizeistaat“) schwänzt, den Unterricht verweigert und während ihrer so gewonnenen Zeit im Wiener Bezirk Währing herumstreicht wie eine junge, moderne Vagabundin.

Dabei sind die Verhältnisse in ihrer Familie im Grunde, wenn man von einigen Makeln absieht, geordnet: Vater und Mutter leben getrennt und der Vater lässt sich kaum blicken. Doch die Mutter arbeitet als Krankenschwester und kümmert sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten darum, dass ihre Tochter die Matura schafft, selbst wenn sie als alleinerziehende berufstätige Frau zunehmend von der rebellierenden Haltung ihrer Tochter überfordert ist und diese in einer Art Laissez-faire immer mehr gewähren lässt. Großeltern oder andere enge Verwandte kommen in dem kleinen Währinger Familienkosmos nicht vor.

Die Jugend der Protagonistin spielt sich im Laufe dieses autofiktionalen Romans an wechselnden Schauplätzen ab – in den „Beisl“ genannten Kneipen, in Wiener Parks, in Privatwohnungen, vor Clubs –, die alle gemeinsam haben, dass dort bereitwillig geraucht, gekifft und Alkohol getrunken wird. Mit dabei ist meist ihre beste Freundin Sarah, die allerdings im Gegensatz zur Erzählerin in der Schule weiterhin fleißig mitarbeitet und letztlich auch ihre Matura besteht, obwohl sie gleichzeitig von ihrem Freund Peter schwanger ist. Mit der Zeit bildet sich eine Gruppe von recht bunt zusammengewürfelten Freunden, die sich regelmäßig treffen und zu denen je nach Zeit und Laune einzelne Personen dazu stoßen und diese meist schnell auch wieder verlassen – Obdachlose, psychisch Kranke, Freaks, Drogensüchtige, Punks, in der Stadt bekannte Herumtreiber, einmal sogar zwei Nazis.

Zuerst streifen die Erzählerin und ihre Freundin durch die Kneipen des Bezirks wie das „Joe’s“ oder das „Café Stadtbahn“ und analysieren die Gesellschaft, die Schule und ihre Probleme. Auch im Türkenschanzpark treffen sie sich am Nachmittag regelmäßig mit einer Gruppe. Während für die Protagonistin die Schule immer mehr zur Last wird, versucht Sarah, ihr durch Mitschriften zu helfen. Die Erzählerin möchte vor allem zeichnen – dies tut sie auch während des Unterrichts, worüber die Lehrer sich beschweren. Über sich selbst sagt sie, dass sie bereits sechs Jahre Zeit hatte, sich den Ruf an dem humanistischen Gymnasium, auf das sie geht, zu verderben.

Im Beisl lernen die beiden auch Michael kennen, der „Aids Michl“ genannt wird, weil er HIV-positiv ist. Mit seinen lustigen Aphorismen, seiner verschmitzten Art und seinen ausgefallenen Witzen bringt er die jugendlichen Mädchen auf seine Seite – und sie freunden sich mit ihm an. Nachdem sie einmal mit zu ihm nach Hause gegangen sind, in eine relativ große, spartanisch eingerichtete Wohnung, treffen sie sich von da an immer bei „Michi“ zuhause. Jeden Nachmittag kommt eine Gruppe von Stammgästen in Michaels Wohnung, um zu reden, zu trinken, zu rauchen und um sich die Zeit zu vertreiben, denn angesichts der Macken und Ecken und Kanten, die so mancher der Freunde mitbringt, wird es dort selten langweilig.

Michael, der hin und wieder in der Psychiatrie untergebracht wird, um wieder auf die Beine zu kommen, hat trotz aller guter Laune auch seine traurigen Tage, während sich manch anderer Gast scheinbar permanent in Hochstimmung befindet. Die beiden Mädchen nehmen die oft außergewöhnlichen Leute, die sie bei Michi treffen, so hin, wie sie sind – eine sehr angenehme Art, mit Menschen umzugehen, von der man sich etwas abschauen kann.

Der vorherrschende Tonfall in „Dicht“ ist der der heiter-humorvollen Ironie und des Unernsts, ohne dass den Dingen dadurch ihre Bedeutung genommen wird, weil alles als ironisch aufzufassen ist. Müsste man ein Sinnbild für die Erzählerin und ihre Freundesclique wählen, wäre es wohl ein herumreisender Hofnarr der Heutezeit, der die Gesellschaft durchschaut hat, in der er lebt, oder der nie erwachsen werdende WG-Bewohner, der von einer Party zur nächsten zieht und sein Studium schleifen lässt.

Das alles ändert nichts daran, dass auch ernste Themen wie Schulabbruch, Depression, Schizophrenie, Psychiatrie, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit zur Sprache kommen, allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger und ohne jeglichen didaktischen Impetus. Die selbstverständliche Thematisierung psychischer Krankheiten in diesem Roman vermag dem Thema vielleicht ein wenig seinen Schrecken zu nehmen und zur Normalisierung dieser Erkrankungen beizutragen. Dass dennoch Drogen so präsent sind, kann man zumindest fragwürdig finden; immerhin kann auch das hier allgegenwärtige Cannabis, das die Erzählerin und ihre Freundin in zwielichtigen Kneipen erwerben, Psychosen auslösen. Als die Hauptfigur nach einem missglückten LSD-Trip beim Kiffen jedesmal doppelt sieht und andere Nebenwirkungen hat, gibt sie die weiche Droge allerdings auf und verlegt sich auf den Alkoholkonsum.

Eine witzige Nebenhandlung ist auch der Versuch der beiden Freundinnen, sich als Umweltaktivistinnen zu betätigen. Durch eine Greenpeace-Broschüre werden sie auf die Umweltbewegung aufmerksam und möchten in den Ferien zu einem Jugendumweltcamp in den Niederlanden fahren. Da sie die politischen Workshops dort langweilen, vergnügen sie sich lieber in dem dem Campingplatz benachbarten Freizeitpark mit Attraktionen und Popcorn. Und bei einem Ausflug nach Amsterdam ziehen sie trotz aller Verbote solange von einem Coffeeshop zum nächsten, bis sie etwas Gras erhalten.

Allgemein verkommt jede politische Tätigkeit, jede Art von versuchtem politischen Engagement bei Sargnagel rasch zur Karikatur und zur Quelle von Langeweile. Ist dies Ausdruck eines Glaubens daran, dass man in unserer ausdifferenzierten Gesellschaft ohnehin durch das Tätigwerden Einzelner kaum noch etwas verändern kann? Oder ist es nur eine weitere Ausgestaltung der Spaß- und Konsumgesellschaft, bei der selbst politisches Engagement nicht öde sein darf, wenn man die Leute bei Laune halten möchte?

Was die Protagonistin und ihre Freundin anbelangt, scheint der zur Schau getragene Wille zu Weltveränderung letztlich eine ephemere Teenie-Attitüde zu sein. Bei Sarah weicht die Rebellen-Haltung bald der Mutterschaft und der Zufriedenheit als Mutter und Partnerin. Der Erzählerin hingegen sind ihre Kunst, ihre Freunde und ein angenehmer Zeitvertreib wichtiger. Die Kunst ist es schließlich auch, die die Protagonistin darüber hinwegrettet, dass sie ihre Matura nicht bestanden hat. Am Ende bewirbt sich die Erzählerin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien und findet sogar einen Partner. Michi sitzt indessen am Ende seines Lebens zwar im Rollstuhl, lässt sich aber seinen Hang zur Freude nicht nehmen.

Das Werk „Dicht“ ist Michi (1963-2014) gewidmet, dessen Portrait am Ende des Textes abgebildet ist. Außerdem erfährt man, dass eine Gruppe seiner alten Freunde bei seiner Beerdigung ein Lied des von ihm geliebten Georg Kreisler gesungen hat, nämlich „Das Beste“.

Der Debütroman von Stefanie Sargnagel ist insgesamt ein gelungenes Stück Literatur, das eindeutig nicht mehr als gute Unterhaltungsliteratur sein möchte. Wenn man nur dies davon erwartet – einen unterhaltsamen, mitunter leicht provokanten Text –, wird man damit einige vergnügliche Stunden verbringen. Die „Aufzeichnungen einer Tagediebin“, wie der Untertitel lautet, sind allerdings nicht nur von einer fiktiven Erzählerin aufgezeichnet, sondern bisweilen auch etwas überzeichnet. Kaum vorstellbar ist es, dass eine Schülerin im Teenageralter mit erwachsenen (oder auch nicht immer ganz erwachsenen) Freunden derart unbekümmert Alkohol und Drogen konsumiert, den Tag verstreichen lässt und davon nicht von ihren Eltern abgehalten wird.

Doch diese Übertreibung darf nicht verwundern. Schließlich ist Stefanie Sargnagel für die direkte, auch provokante Art zum Beispiel ihrer Facebook-Einträge bekannt geworden. Sargnagel ist Mitglied der Burschenschaft Hysteria, die durch Aktionen beim Wiener Opernball auf sich aufmerksam machte. Sie arbeitet als Schriftstellerin und Cartoonistin. 2016 erhielt sie den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Preis.


„Dicht“ von Stefanie Sargnagel erschien im Oktober 2020 im Rowohlt Verlag und hat 256 Seiten.

Buchcover: © Rowohlt-Verlag

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Berliner Subkultur

Ein Jazzmusiker, der zugleich Professor für Philosophie ist und sich mit Nachtigallen beschäftigt: Das klingt zunächst eher nach Zutaten für eine schräge Kurzgeschichte mit ungewöhnlichen Figuren. Aber erfunden ist da nichts. Denn alles gibt es in echt. Noch dazu ist David Rothenbergs Buch „Stadt der Nachtigallen“ kein Roman, sondern ein Sachbuch, das sich der Suche nach dem perfekten Klang widmet.

Der Klarinettist hat Musik mit Walen, Insekten, mit Wasser und Wind gemacht: Den perfekten Sound haben ihm dann aber die Berliner Nachtigallen geliefert, die dort im Wettkampf mit dem Stadtlärm über sich hinauswachsen. „Nachtigallen genießen Geräusche. Der Lärm von uns Menschen macht ihnen offenbar nichts aus, möglicherweise ist er für sie sogar ein willkommener Ansporn.“

https://www.youtube.com/watch?v=MeKcr_35tys
David Rothenberg, Korhan Erel und eine Berliner Nachtigall im Live-Konzert.

Leider zu spät für verbotene Liebe

Romantiker haben den kleinen Vogel als Wappentier der Liebe und der Sehnsucht außerkoren; die ganze Nacht singt er, bis die anderen Vögel ihn im Morgengrauen ablösen. Romeo sagt seiner geliebten Julia, dass es nicht mehr die Nachtigall ist, die sie hört – und es damit leider zu spät ist für verbotene Liebe. Aber was zieht uns eigentlich in den Bann, wenn wir den Gesang der kleinen Vögel hören?

Um das herauszufinden, setzt sich Rothenberg frühmorgens in die Berliner Hasenheide oder trifft Neuro- und Verhaltensbiologin und Leiterin des Nachtigall-Forschungsstelle an der Freien Universität, lässt sich vom Himmel über Berlin durch die Stadt leiten, trifft Berliner Musiker und Sänger und liest, was Kant zur Nachtigall geschrieben hat. „Stadt der Nachtigallen“ ist ein ungewöhnliches Buch über Töne, Klänge und dem, was wir als „schön“ erleben.

„Irgendetwas daran muss richtig sein“

Rothenberg schreibt über Nachtigallen – und offenbart ganz nebenbei, wie sehr wir im Lärm zuhause sind. Irgendwie haben wir uns mit Flugzeugdonner, Automotorenfauchen und Handyklingeltönen arrangiert. Vielleicht sind die Zeiten, in denen alles etwas heruntergefahren ist, eine gute Gelegenheit, auf die stilleren Töne unserer Geräuschwelt zu achten – und wenn es nur eine Vogelstimme ist. „Denken Sie daran, es ist die älteste Musik, die wir kennen. Sie ist Millionen von Jahren älter als unsere Spezies. Irgendetwas daran muss richtig sein, wenn sie schon so lange existiert.“

Stadt der Nachtigallen – Berlins perfekter Sound ist im Mai im Rowohlt Verlag erschienen.

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Hans Joachim Schädlich – Felix und Felka

Rom, Alassio, Ostende, Brüssel – Stationen der Flucht Felix Nussbaums und Felka Plateks vor den nationalsozialistischen Schergen. In „Felix und Felka“ gewährt uns der Autor Hans Joachim Schädlich intime Einblicke in die Situation des Künstlerpaares.

Von Alexander Boberg


Wer sich das Werk Felix Nussbaums anschaut, der kann sich der Wandlung seiner Bilder von fröhlich wirkenden Gemälden hin zu verzweifelten und düsteren im Zuge der Jahre der Verfolgung nicht entziehen. Zunächst werden am Anfang der nazistischen Herrschaft in Deutschland noch die Einsamkeit und der Ausschluss aus der Gesellschaft thematisiert, so ändert sich dies und der schwarze Schatten der Verfolgung und der antisemitischen Barbarei legt sich langsam auf seine Gemälden, Gouachen und Zeichnungen. Mauern als Sinnbild der Einschränkung, Verfremdungen, die seinen Ausstoß aus der Gesellschaft zeigen und immer wieder die Hoffnung des Überlebens, dargestellt in Szenen des Alltags, durchziehen sein Werk.

Ein unbeugsamer Wille zur Freiheit und zum Durchhalten trotz der Widrigkeiten. Je weiter die Jahre voranschreiten, desto düsterer und verzweifelter äußert sich sein Leben in seinen Bildern. (Auf dieser Website lässt sich ein großer Teil der auch in der Novelle erwähnten Bilder, Goauchen und Zeichnungen ansehen.) Sein Gesamtwerk lässt sich nur schwer in die glatt polierte Oberfläche der Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus in Deutschland einordnen, in der sich auch der Roman „Felix und Felka“ von Hans Joachim Schädlich wiederfindet.

Das Zeitalter der Zeitzeugen geht allmählich dem Ende entgegen, ihre schriftlichen, mündlichen und bildlichen Zeugnisse sind gelesen und werden langsam durch popkulturelle Produkte an den Rand gedrängt. Die Erinnerung wird der ersten und zweiten Nachkriegsgeneration überlassen. In dieser Situation erscheint nun „Felix und Felka“, das mir buchstäblich in die Hände fiel. Hans Joachim Schädlich beschreibt darin die Odyssee des Künstlerpaares Felka Platek und Felix Nussbaum durch Europa zwischen den Jahren 1933 und 1944. Dabei beschreibt er das Leben im Exil in schlichten Sätzen. Durch diese Momentbilder sollen die materiellen und existenziellen Ängste bewusst gemacht werden, wie es auf dem Buchrücken heißt. Darüber hinaus wird im Klappentext der Autor als Meister der Reduktion gerühmt und hervorgehoben, dass er das Künstlerpaar in ihrem privaten Umfeld zeige, woraus die Geschichte ihre Kraft ziehe.

Verstellter Blick und gelungene Form

Die Novelle nimmt den Leser in kurzen Episoden in das Privatleben eines durch Flucht und Verzweiflung geprägten Paares mit. Angedeutet wird dieser Bezug auf das Privatleben schon durch den Titel, der bloß die Vornamen nennt. Problematisch ist diese suggerierte Nähe und Vertrautheit, die einerseits die Situation der beiden Protagonisten darstellen will und den Versuch einer Normalität in der Flucht beschreiben möchte. Die angestrebte „Normalität“ einer Beziehung unter den Umständen der Flucht wird in der Darstellung der Beziehung zwischen Felka Platek und der Mutter Felix Nussbaums deutlich.

Andererseits ist der Fokus zu sehr auf die private Konversation des Paares beschränkt. Die Formgestaltung der Novelle, mittels Reduktion Ausschnitte des Lebens zu zeigen, verliert hierbei ihre Kraft, Lücken in die eigene Vorstellung zu reißen und über die Situation der Verfolgung nachzudenken. Die bedrückende Stimmung, die sich so unheilvoll in Nussbaums gemalten Bildern ankündigt, wurde leider nicht in Schriftform übersetzt. Auch die Zitierung verschiedener Briefe Nussbaums, die dessen Gedanken darlegen, helfen nicht über den Eindruck hinweg, dass sich der Autor zu eng an sein Objekt anschmiegt.

Die Form des Romans kann dagegen als gelungen bezeichnet werden, trotz der oben genannten Einschränkung. Momentaufnahmen verkürzen sich zu immer schneller werdenden Schlaglichtern. Der allmählich kürzer werdende Zeitraum neuer Akte antisemitischer Politik bis hin zur Kulmination in der Shoah folgt auch die literarische und zeitliche Form des Romans, wodurch sich die Geschwindigkeit des Lesen demgemäß einstellt und immer hastiger die Sätze, Absätze und Seiten verschlingt. Gegen Ende des Buches, welches in einem stakkatohaften Traum Nussbaums gipfelt, verschaffen einzig die Briefe von Irene Awret eine Atempause. Der Traum lässt den Minimalismus der Beschreibung voll zur Geltung kommen.

Beide Momente der Novelle bilden eine Einheit, die Schwierigkeit des emotionalen Hineindenkens in das Paar und der Versuch der Überwindung dieser Unmöglichkeit durch die Formgestaltung. Obgleich die Briefe dem Autor ermöglichen, eine gewisse Authentizität zu wahren, vermindert sich dieser Eindruck in der Rückschau des Buches. Die erfundene Konversation des Paares nimmt dem Werk ihren unbequemen Charakter und lässt es als Fiktion erscheinen. Die Reduktion ist besonders in diesem Punkt nicht weit genug getrieben worden. Die Geschichte der Exilierten wirkt durch die fiktiven Elemente nicht im Bewusstsein des Lesers nach.

Felix und Felka von Hans Joachim Schädlich erschien vor ein paar Wochen im Rowohlt Verlag und hat 208 Seiten.


Alexander Boberg verschlug es durch sein Studium vom kleinen Osnabrück ins beschauliche Leipzig. Neben seiner Leidenschaft für Literatur und Philosophie arbeitet er im Verlagswesen. Zu seinen Hobbys gehört das Testen verschiedener Sportarten, wie Wandern oder BJJ.

 

Beitragsbild: Felix Nussbaum – Selbstportrait mit Felka Platek / Wikimedia Commons

 

Die Schlesiensaga – Szczepan Twardoch: “Drach”

Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat abermals einen provokanten Roman geschrieben: „Drach“ ist die Geschichte einer schlesischen Familie die Jahrhunderte hindurch, doch der eigentliche Akteur und Erzähler ist die Erde. Ihr Gedächtnis soll der kritische Roman aufdecken.


Schon mit seinem Roman „Morphin“  erregte der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch im Jahr 2012 die Gemüter, mit seinem morphinsüchtigen, zerstörten Protagonisten Konstanty, der sich im Zweiten Weltkrieg dem polnischen Widerstand anschließt. Seitdem ist Twardoch international bekannt, als ein Autor, der hart, schonungslos und brutal schreibt, der das Leid in seinen verschiedensten Facetten darzulegen vermag und nichts auf politische Korrektheit gibt. Nun wagt er ein schlesisches Epos über eine Familie, vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. „Drach“ heißt der Roman, der 2014 in Polen erschienen ist und nun in deutscher Sprache vorliegt.

Drach ist ein Terminus für die oberschlesische Erde, ein in der Neuzeit vor allem von Bergbau, Industrie und Krieg geprägtes Territorium. Der Titel macht Sinn, denn als auktorialen Erzähler wählt Twardoch jenen Drach. Der Roman soll ergo ein Gedächtnis der Erde über die Jahrhunderte hinweg anhand einer typischen Familie darstellen. Mal ist diese Erde in ihrer Erzählform trocken und schon fast kalt, manchmal auch abgehackt und elliptisch, manchmal pflegt sie aber auch einen konservativ-melancholischen Stil, bleibt aber vom Duktus her meist distanziert und passiv zum Geschehen. Nicht immer wird klar, warum gerade welcher Stil gewählt wird und schon innerhalb der vielen, meist kurzen Kapitel Brüche aufweist, jedoch macht dies „Drach“ zu einem anspruchsvollen und abwechslungsreichen Werk.

Vor allem zwei Hauptpersonen bilden sich heraus: Der eine ist Josef Magnor, der als Kind im Jahre 1906 die Rohheit der Menschheit bei der brutalen Schlachtung eines Schweins kennenlernt, später als Soldat des Deutschen Reiches in den Schützengräben in Frankreich landet und schließlich, gebrochen durch Kriegstraumata, seine Geliebte Caroline und deren heimlichen Geliebten umbringt. Der zweite wichtige Protagonist ist Nikodem Gemander, Josefs Urenkel, der im einundzwanzigsten Jahrhundert als dekadenter Stararchitekt lebt. Er steht in einer dialektischen Beziehung zur Familie: Einerseits gibt es eine Verbindung zu Josef, andererseits könnte Nikodem nicht weiter von ihm weg sein. Denn auch in seinem Leben spielt Eifersucht eine dominante Rolle: Er will mit seiner Geliebten zusammenziehen, kommt aber von Ehefrau und Kindern nicht los. Aber es geht bei Nikodem nicht mehr um materielles Leid, jeder Krieg ist ihm fern und zu seinen Vorfahren vermag er nur eine komplizierte und dünne Beziehung aufzubauen.

Zu den Biographien der beiden gesellen sich immer wieder Kurzepisoden aus anderen historischen Epochen, die die eigentliche Handlung unterbrechen und auflockern, andererseits auch komplexer gestalten. Denn übersichtlich kann man „Drach“ nicht nennen. Die Erde als Erzähler hält nichts von Chronologie, denkt universal. Daher springt Twardoch auch immer innerhalb der Kapiteln zwischen den Jahrhunderten assoziativ hin und her, dem Schicksal von Nebenprotagonisten wird oft vorweg gegriffen oder historische Hintergründe werden, manchmal auch bezugslos, aufgedeckt. Dadurch entsteht ein Anspruch auf eine Allumfasstheit des Romans, so allwissend wie die Erde, was natürlich in diesem Buch nicht vorgelegt werden kann, und manchmal wirkt die Auswahl der Episoden willkürlich. Gerade das macht das Buch, das ansonsten eine durchschnittliche Familiensaga schildern würde, zu einem speziellen literarischen Werk, das sich, wenn zumindest nicht meisterhaft, so doch in seiner Methodik und Krassheit innovativ und spannend gestaltet.

Doch noch aus einem weiteren Grund, legt „Drach“ einen Finger in Wunden, indem Twardoch Schlesien als Handlungsort auswählt, eine Region, die sowohl Polen als auch einst Deutschland gehörte, was sich hier auf privater und politischer Ebene wiederspiegelt, deren Einwohner zu beiden Staaten teils ein zwiespältiges Verhältnis hatten oder haben und in Kriegen mal für die eine mal für die andere Seite kämpften. Gerade mit dieser Region sprengt Twardoch das Konstrukt der nationalen Identität auf und ist somit der nationalistischen Regierung Polens ein Dorn im Auge, die beispielsweise auch die Verfilmung von „Morphin“ autoritär unterbindet.

Ergo ist „Drach“ ein komplizierter und lesenswerter Roman, der trotz seines geschichtlichen Charakters kein historischer Roman im typischen Sinne ist, denn die Zeit ist nur der tertiäre Faktor, der primäre Faktor ist der Raum und der sekundäre ist die Familie. Darum ist es auch kein Familien-, sondern ein Schlesienepos. Und gerade durch seinen Fokus auf ein umstrittenes, national nicht klar zuortbares Terrain wird auch jeder kollektivistische Heroismus in diesem Roman unterminiert. Zusätzlich kann der Leser sowohl durch den oft distanzierten Erzählstil der Erde als auch die häufigen Zeitsprünge nicht so einfach mit den Protagonisten fraternisieren, nein, er wird, klassisch verfremdend und emanzipativ, mit seiner eigenen Kritik an den Protagonisten zurückgelassen.

Titelbild: © Rowohlt Verlag