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Fett, Schweiß und Zersetzung in Niendorf 

Wenn der Verlag einen Roman als „eine Art norddeutsches ‚Tod in Venedig‘“ ankündigt, sind die Erwartungen hoch. Es sei denn die Betonung liegt auf „eine Art“. Denn bei einem Vergleich zwischen Thomas Mann und Heinz Strunk wird man beiden nicht gerecht.


Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Aber ja, vielleicht ist er eine Art „Tod in Venedig“, dann aber auch eine Art „Die Verwandlung“ oder eine Art „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“. Am Schluss ist er jedoch ein Roman, der für sich und gleichzeitig ganz in der Tradition der Heinz-Strunk-Werke steht. Denn worum geht es? Es geht um die Abgründe des männlichen Seins, es geht um das Unappetitliche, es geht um menschliche Ausdünstungen, Essensmief, Körper- und andere Flüssigkeiten. Es geht um „einen eifleckigen, einen Geruch hinter sich herziehenden Freak“.

Dabei fängt er doch so sauber und geordnet an, der Plot. Anwalt Dr. Roth, 51, mitten im Berufsleben stehend, gönnt sich eine dreimonatige Auszeit zwischen zwei Jobs im schleswig-holsteinischen Niendorf an der Ostsee. Als Ortsteil der Gemeinde Timmendorfer Strand verspricht dieser Aufenthaltsort wenig Aufregung und Ruhe zum Schreiben. Genau das, was der Protagonist sucht, will er doch nichts weniger als einen Bestseller schreiben – über seine bürgerliche Familie. Diese Rechnung hat er jedoch ohne seinen Vermieter, dem Strandkorbverleiher und Spirituosenladenbesitzer Breda, gemacht. Herr Breda ist die Personifizierung von allem, was Roth verabscheut. Von allem, was Roth niemals werden will, niemals sein möchte, nie sein wollte. Doch die Langweile, die Trostlosigkeit, die Einsamkeit und der Wunsch nach Gesellschaft regelt das. Und viel zu später merkt Roth, dass seine Verwandlung bereits in vollem Gange ist.

Aber ist es wirklich eine Verwandlung? Kämpft sich da nicht eher etwas an die Oberfläche, was immer schon tief in ihm geschlummert hat? Oder ist es doch ein Befreiungsschlag aus einem Leben, das er schon lange nicht mehr leben wollte? Fest steht, irgendwas passiert mit dem Protagonisten. Und lange ist nicht klar, wohin das führen wird und was das alles in der Konsequenz bedeutet.

Währenddessen werden die Leser*innen durch den Plot geführt wie durch ein Horrorkabinett. Denn Strunk porträtiert einmal mehr den Blick seines Protagonisten auf seine Mitmenschen. Und dieser ist meist kein freundlicher, wohlwollender, sondern ein abfälliger, ein oberflächlicher, auf das Äußere reduzierender Blick: Ihre abstoßenden Gerüche werden beschrieben, ihre gelb verfärbten Achselhöhlen und ihre Haut, die die „Farbe von fauligem Obst angenommen“ hat. Das ist nicht neu, werden doch die Protagonisten (nicht gegendert, da ausschließlich männlich) in Strunks Romanen weniger über die Schilderung ihrer Gefühlswelt, ihres Innenlebens charakterisiert, als mehr darüber, wie sie die Welt um sich herum sehen, ertasten, riechen, schmecken und verurteilen. Und das ist es, was Strunks Werke ausmacht: seine sehr detailreichen Beschreibungen neben den pointierten Dialogen, die lustig und tieftraurig zugleich daherkommen.

Doch zwischen diesem Abstoßenden und Trübsinnigen gibt es einen Lichtblick in „Ein Sommer in Niendorf“: das ältere Ehepaar Klippstein. Können sie Dr. Roth retten?

Nein, Heinz Strucks neuer Roman „Ein Sommer in Niendorf“ ist nicht „Tod in Venedig“. Und auch keine Sommerlektüre im klassischen Sinne. Aber er liest sich schnell und er unterhält. Doch eines muss wirklich einmal ausführlich analysiert und diskutiert werden: das Frauenbild ins Strunks Werken. Denn auch in diesem Roman wirft es einige Fragen auf.


„Ein Sommer in Niendorf“ von Heinz Strunk erschien im Juni 2022 im Rowohlt Verlag und hat 240 Seiten.

Buchcover: © Rowohlt-Verlag 

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Aufbruch in eine neue Welt – wirklich?

Für welche Ideale kämpfen wir gegen unsere Herkunft? Diese Frage stellt „Väter und Söhne“ im Deutschen Theater Berlin dem Publikum – schonungslos, denn es sitzt fast auf der Bühne.


Wahrscheinlich jedem, der einmal den Ort, an dem er aufwuchs, verließ, wird dieses Gefühl vertraut sein: Man kommt zurück und alles ist kleiner und irgendwie verkrustet.  Man selbst ist erwachsen. Erwachsen aus den Erfahrungen und beflügelt von den neuen Eindrücken und Erkenntnissen der Fremde. Mit diesen Flügeln schwingt man sich empor und betrachtet die Menschen, die man zurück gelassen hat, von oben. Aus dieser Perspektive sehen sie klein aus und je weiter man sich von ihnen entfernt, desto weniger sind einem ihre Bewegungen erkennbar. Manchmal scheint es fast unklar, ob sich überhaupt noch etwas bewegt.

Als scheinbar ein anderer tritt man zurück in die Reihen derer, die einen großen Teil dessen ausmachen, der man heute ist. Doch all ihre Weisen zu denken sind fremd geworden. Sie scheinen ein gänzlich anderes Leben mit anderen Erwartungen für sich gewählt zu haben, während man selbst doch in der Fremde endlich gelernt hat, worauf es wirklich ankommt. Indes, die ultimative Erkenntnis, die man mit nach Hause zu bringen glaubt, interessiert zu Hause kaum jemanden. Fast ist es so, als hätte man während der Abwesenheit die Sprache seiner Heimat verlernt. Und anstatt sich zu mühen, sich verständlich zu machen, reagiert man mit Ungeduld. Ungeduld über die Unverständigkeit und Unverständlichkeit des eigenen Ursprungs.

Wie neu sind die neuen Gedanken der nächsten Generation wirklich? Die Aktualität dieses Generationenkonflikts bringen Daniela Löffner und David Heiligers in den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin auf die Bühne, indem sie zwei junge Männer, Arkadij Nikolajitsch Kirsanow  (Marcel Kohler) und Jewgenij Wasiljew Bazarow (Alexander Khuon) in ihre Elternhäuser zurückkehren lassen. Zuerst in Arkadijs und dann in Jewgenijs Heimat. Im Gepäck haben sie gänzlich neue Ansichten über die Welt und jeden einzelnen Menschen, der auf ihr lebt. Von Jewgenij als älterem und wortgewaltigen Freund unterstützt, bezeichnet sich auch Arkadij stolz als „Nihilist“ und ist bereit alles abzulehnen, an das sein Vater (Helmut Mooshammer) und sein Onkel (Oliver Stokowski), bei denen er aufwuchs,  glauben. Während Jewgenij mit ihm diskutiert und sich über die scheinbar zurückgebliebene Familie erhebt, mischt sich in Arkadijs Gefühlswelt die Solidarität zu seinem Ursprung. Als der weniger rationale, dafür aber emotionalere Mensch, scheint er die Sprache seiner Heimat noch nicht gänzlich verlernt zu haben. Und auch wenn sein Freund Jewgenij nicht müde wird, ihm diese Emotionalität als Schwäche auszulegen, wird sie zu seiner Stärke. Er ist es, der beim Besuch der von ihrem Sohn völlig verunsicherten Eltern Jewgenijs (Bernd Stempel  & Katrin Klein), vermittelt.

Während Jewgenij jeden, ob in der eigenen oder in der Generation seiner Eltern, mit Rhetorik und Arroganz, von seiner neuen Weltanschauung zu überzeugen versucht, die im Wesentlichen aus Ablehnung all dessen besteht, was bisher gegolten hatte, vermittelt Arkadij zwischen den Fronten. Indes ist es nicht Jewgenijs diplomatisches Geschick allein, dass es den beiden Fremdgewordenen ermöglicht, einen neuen Bezug zu ihrer Heimat aufzubauen. Es ist der Versuch, sich zweier Frauen aus ihrer Heimat zu öffnen, der die beiden dazu bringt, ihre neue, hochgelobte Weltanschauung zu überdenken.

Dreizehn stark gespielten Charaktere führen den Zuschauer in eine vergangene Welt voller aktueller Probleme. Leben Jung und Alt heutzutage nicht noch stärker in getrennten Welten, in denen sie verschieden Sprachen zu sprechen scheinen? In einer fast vierstündigen Inszenierung des über 150 Jahre alten Textes von Iwan Turgenjew zeichnet sich ein präzises Bild des (ewigen) Generationenkonflikts, dessen Vielschichtigkeit nicht zuletzt in den angespannten Gesichtern der SchauspielerInnen, die gleichsam eine Rolle in ihrer Rolle zu spielen scheinen, zum Ausdruck kommt.

Titelbild: © Arno Declair

Schiller lesen oder ich schieße! Verrücktes Blut

„Verrücktes Blut“, ein Theaterstück, das Schiller, freche Prolls und eine Lehrerin mit kriminellen Energien zusammenbringt, um vorzuführen wie Bildung funktionieren kann.


Am Mittwoch dem 3.2. hatte ich die Möglichkeit die wohl letzte Aufführung von Verrücktes Blut von Nurkan Erpulat und Jens Hillje zu sehen – nicht irgendwo, sondern im Gorki Theater. Was ich sehen würde, wusste ich so ungefähr: Es sollte um Schiller gehen und um eine Lehrerin, die am Ende ihrer Nerven kurzerhand zu der von einem ihrer Schüler mitgebrachten Pistole greift und unter ständiger Androhung von Schüssen ihren Zöglingen richtiges Deutsch beibringt – Schiller muss korrekt zitiert werden und auch die vielfach verwendeten Schimpfwörter werden akkurat ins Hochdeutsche übersetzt.

Das Stück startet also, vielleicht wenig überraschend, mit plattem Rumgerotze und den obligatorischen Griffen in den Schritt. So wird man schnell mit den Schauspielern vertraut, die die nächsten Minuten nutzen, um unter Beweis zu stellen, um was für fürchterliche Schüler es sich bei ihnen handelt. Sie drangsalieren sich gegenseitig, rufen sexistische Schimpfwörter durch den Klassenraum und beleidigen ihre geschändete Lehrerin Frau Kehlich. Diese legt eine solipsistisch anmutende Performance hin, indem sie dem Lärm zum Trotz in ihrer stets wegbrechenden Stimme konsequent Schiller vorliest. Eine Szene, die sich zumindest jeder angehende Lehrer bereits einmal ausgemalt haben dürfte. Die humorbefreiten Theaterprofis in der ersten Reihe scheinen unbeeindruckt, mithin leicht verstört von Lautstärke und der Menge von Speichel, die auf der Bühne abgesondert wird.

Doch auch sie wurden abgeholt: Denn es folgt ein kontrastreicher Bruch, als das prollige Gesindel plötzlich mit Engelszungen „Kam ein Vöglein geflogen“ performt. So schön, dass ich sofort in alten Erinnerungen schwelge, Erinnerungen an ein fernes Heimatland, Dörfer, Kühe und Weiden – Erinnerungen, von denen man nicht recht sagen kann, ob sie aus der Kindheit oder doch von Rosamunde Pilcher stammten. Wo sich die wilde Horde prolliger Schüler gerade noch an die Gurgel ging, stehen sie nun kerzengerade und singen manierlich, geradezu fromm, so als hätten sie nie etwas anderes getan. Nach diesem und weiteren Chor-Einlagen, wird man stets unsanft in die harte Realität des Schulalltags zurückgeworfen, in dem eine ambitionierte Lehrerin nicht gegen die schändlichen Schüler ankommt, deren größtes Vergnügen es ist, sich zu beschimpfen und in der Gegend herumzurempeln, immer am Rande der Eskalation. Als es zu dieser kommt, tritt eine Pistole ins Spiel, die sich Frau Kehlich kurzer Hand schnappt und völlig in Rage, versucht ihre Schüler in Zaum zu halten. Dabei passiert es, dass sie einen der Schüler versehentlich und unter wildem Gefuchtel unsanft anschießt. Da wir den selbsternannten Obermacho aber mittlerweile ohnehin am wenigsten mögen, sympathisieren wir mit Frau Kehlich, nicht mit dem sich am Boden krepelnden Schüler, der sich auch jetzt das „du alte Schlampe“ nicht verkneifen kann.

Der Pistole sei Dank tut er dies einige Sequenzen später schon mit einer sehr viel besseren Aussprache.  Mariam, die kopftuchtragende Musterschülerin, muss dann erklären, was eine Schlampe überhaupt ist. Die Schüler werden gezwungen Kabale und Liebe und die Räuber nachzuspielen: Hämpfling Hassan muss den Macho mimen und Mariam soll rebellieren. Latifa muss ihren Erzfeind umarmen und dem ein oder anderen wird die Hose runtergezogen. Frau Kehlich freut sich über die eintretenden Fortschritte ihrer Rasselbande. Doppelzüngig zitiert sie „der Mensch ist nur dort ganz Mensch wo er spielt“ und erklärt voll Inbrunst, dass man Gewalt nicht mit Gewalt bekämpfen kann. Während sie alle drei bis vier Minuten in die Luft schießt. Schüler und Zuschauer scheinen verstört, nichtsdestoweniger: Wir hören zu. Immer wieder zwingen einem die endlosen Mühen der Schüler ein Lachen ab, wenn sie versuchen die zungenbrecherische deutsche Aussprache zu imitieren. Und dann wieder ein Lied für die Damen und Herren in der ersten Reihe.

Einen besonderen Theatermoment hat man auch, als Mariam von Frau Kehlich zur Emanzipation von ihrem Kopftuch gezwungen werden soll: Während die Lehrerin auf der Bühne sich über den Islam auslässt und die Multikulti-Kuschel Haltung verurteilt, ruft uns plötzlich auch aus dem Off ein Stimmchen zu, warum Kopftücher sinnvoll sind: „Es geht um Respekt.“ Das haben die Schüler von Frau Kehlich ja auch schon gepredigt. Wir fragen uns, ob diese kurze Einlage aus dem Publikum zum Stück gehört – wahrscheinlich nicht. Die restliche Zeit frage ich mich auch, wie das Stück bei Leuten ankommt, die es nicht (auch) als Parodie auf die deutsche Kultur verstehen.

Frau Kehlich fällt dann doch noch in letzter Sekunde auf, dass sie niemanden – auch Mariam nicht –  zur Emanzipation zwingen kann – ein echtes Dilemma – und wenige Momente später gibt sie nach einer weiteren Eskalation auf. Mariam hingegen hat jetzt erst richtig Lust zu eskalieren und ersetzt kurzerhand ihr Kopftuch durch die neu entdeckte Pistole, die nach einem wilden Gefuchtel in ihre Hände fällt. Mariam befreit sich also und legt einen wilden Tanz hin, als wären ihre Gliedmaßen elektrifizierter Pudding – natürlich hat sie auch ein besonderes Erlebnis mit ihrem Haupthaar, welches sie, zum ersten Mal frei an sich herunterbaumelnd, erblickt und lustvoll mit beiden Händen soweit es geht von der Kopfhaut aus in die Länge zieht, um es besser sehen zu können. Das nächste deutsche Heimatlied wird eingestimmt.

Letztlich dann die Wende, als Frau Kehlich erkennt: „Kanacken Selbsthass“ bringt auch nichts, die deutsche Lehrerin ist trotz Rock und biederem Dutt nämlich gar nicht so deutsch und bekennt sich zu ihrem Türkischsein. Daraufhin beschließt man Döner essen zu gehen und alles zu vergessen: Frau Kehlich und ihre wilde Bande in feinster Harmonie. Nur Hassan, das Hemdchen, rebelliert noch einmal in Räuber-Manier und möchte unbedingt Franz bleiben. Die Pistole und der schalldichte Raum begünstigen sein Vorhaben und es scheint, als ginge man in die nächste Runde von Machtmissbrauch durch Gewalt – das Stück endet und alle applaudieren als gäb es kein Morgen – vielleicht wegen der schönen Heimatlieder oder wegen des prolligen Gegrabsches oder weil beides so wunderbar harmoniert in einem Stück über Schillers Werk und seine Vorstellung von ästhetischer Erziehung.

Quelle: YouTube

© Titelbild: Thomas Aurin/www.gorki.de