Schlagwort: Review

Liebesgeschichte im Alkoholrausch. Martin Suters „Melody“

Es geht um gutes Essen, viel Alkohol und eine tragische Liebeserzählung. Und lange fragen sich die Leser*innen wie auch der Protagonist Tom, worauf das hinausläuft. Sicher ist: Es wird auf etwas hinauslaufen. Sonst wäre es kein Roman von Martin Suter.


Eigentlich soll der junge Jurist Tom den Nachlass des reichen und schwerkranken Dr. Peter Stotz, einst Politiker und Nationalrat, ordnen. Und dafür sorgen, dass jener nach seinem Tod noch so gesehen wird, wie er Zeit seines Lebens gern gesehen worden war. Für diesen Job hat ihm Dr. Stotz ein Angebot gemacht, dass er nicht ablehnen konnte. Sogar in die Villa am Zürichberg war Tom gezogen. Doch zwischen hervorragendem italienischen Essen der Köchin Mariella und regelmäßigen Drinks mit seinem Chef kommt er kaum dazu, die Papiere zu schreddern, so wie es ihm Dr. Stotz aufgetragen hat. Irgendwann interessiert Tom auch nur noch eins: die geheimnisvolle junge Frau, deren unzählige Porträts in der Villa hängen, und Antwort auf die Fragen zu finden, was mit ihr passiert ist.

Martin Suter ist für seinen schnörkellosen Schreibstil bekannt. Seine Romane funktionieren ohne große Ausschmückungen und Pomp. Jeder Satz in einem Text des Schweizer Bestsellerautors hat seine Berechtigung und eine Funktion, die sich später offenbart. Doch in seinem neuen Roman „Melody“ ist etwas anders. Ungewöhnlich detailliert und an einigen Stellen etwas langatmig werden Räume, Mahlzeiten, alkoholische Getränke und Gespräche beschrieben. So wird den Leser٭innen kein Wort vorenthalten, wenn Dr. Stotz – am Kamin sitzend mit unzähligen Drinks intus – ausschweifend von seiner Vergangenheit erzählt. Von seiner großen Liebe Melody, die kurz vor der Hochzeit vor 40 Jahren plötzlich und spurlos verschwand. Hier schiebt sich eine zweite Ebene ins Erzählte. Stotz wird zum intradiegetischen Erzähler, einem Erzähler in der erzählten Welt.

Seitenlang wechseln sich beide Welten ab – die Welt in der Villa und die Welt um die Liebe zu Melody. Und immer lauter wird die Frage, worauf eigentlich hingearbeitet wird. Denn erfahrene Suter-Leser٭innen ahnen: Auch für das Hinhalten wird es einen Grund geben. Der große Twist wird kommen, irgendwann. Doch zuvor merken sie, wie auch Tom immer ungeduldiger wird und anfängt, nachzuforschen: Er spricht mit Stotz’ Bediensteten über Melody. Er versucht, den Dokumenten etwas zu entnehmen. Er betritt private Räume, in denen er nichts verloren hat, und fliegt prompt auf. Denn das Haus hat Augen und nichts ist, wie es scheint. Das wird ihm irgendwann bewusst.

Vielleicht haben einige Leser٭innen bald eine Vermutung, wie das Ganze enden, ja, wohin der Plot führen wird. Und doch kommt es ganz anders als gedacht. Wie so oft bei Suters Romanen. Ob das überraschende Ende den vorherigen Spannungsbogen trägt, muss jede٭r Leser٭in selbst entscheiden. Sicher ist: „Melody“ ist ein runder, gut zu lesender Roman – wenn auch nicht Suters bester.


„Melody“ von Martin Suter erschien im März 2023 im Diogenes Verlag und hat 336 Seiten.

Buchcover: © Diogenes Verlag

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Eurotrash – Kracht über Kracht

Sicher ist Christian Krachts neuer Roman Eurotrash nicht die Fortsetzung geworden, die man für Faserland hätte erwarten können. Das war aber irgendwie auch zu erwarten.


Was hat Eurotrash mit Faserland zu tun?

Eigenwillig, wie all seine Bücher es sind, setzt Christian Kracht nach 25 Jahren seinen Debütroman Faserland fort. Wie geht es seinem Hauptcharakter ein Vierteljahrhundert später? Wie kommt er mit den Veränderungen zurecht, die die Welt und auch die im Roman so umfassen portraitierte BRD zwischen den 90ern und 20ern durchzogen haben? Ist er heute überhaupt lebensfähig?

Auf all diese Fragen hat das Buch insgesamt gar keine Antworten. Denn Eurotrash ist eigentlich nur ein Buch über Faserland, seine Bedeutung und seinen Autor. Ein überraschend spätes „Hinter den Kulissen“ oder „Was mich bewog, dieses Buch zu schreiben“ oder genauer „Welche äußeren Umstände es mir unmöglich machten, das Buch nicht zu schreiben“. Er macht die Handlung anhand seiner Familiengeschichte nachvollziehbar, in der die Entnazifizierung nicht bei allen Beteiligten so ganz erfolgreich war, sowie anhand seiner persönlichen Biografie, die zwischen Schweizer Landjugend und Ferien in Axel Springers Sommerhaus auf Sylt wirklich die Handlungsorte von Faserland umkreist. Vor allem im ersten Teil von Eurotrash erzählt Christian Kracht aus seiner eigenen Lebensgeschichte und konzentriert sich auch auf die Unterschiede des in Faserland erzählten. Er hatte ja nie explizit behauptet, das Buch sei autobiografisch, die Lesart aber durchaus offengelassen. Eine bewusste Täuschung? Vermutlich:

„Ich hatte mich damals mit fünfundzwanzig entschlossen, einen Roman in Ichform zu schrieben, erinnerte ich mich, bei dem ich mir selbst und dem Leser vorgaukeln würde, ich käme aus gutem Hause, wäre wohlstandsverwahrlost und hätte etwas von einem autistischen Snob.“

Christian Kracht – Eurotrash

Wie Kracht zum Popstar wurde

Dass er das Buch in einer Einzimmerwohnung in Hamburg-Ottensen schrieb, vom Vermögen des Vaters selbst als Scheidungskind offenbar weniger profitierte und sich von Pizza-Baguettes, Toast und Dosenravioli ernährte, ließ er damals einfach weg. Die Info liefert er nun nach. Genauso die Info, dass sein Leben sich nach Veröffentlichung des Romans schlagartig ändern sollte. Er hatte seine Rolle, seine Berufung nicht nur gefunden, sondern eigenständig erfunden. Auch wenn den meisten schon bei der Lektüre von Faserland klar gewesen sein muss, dass hier ein Autor mit seinem Publikum spielt, liest sich sein Buch noch heute als Meilenstein deutschsprachiger Popkultur.

In Augen vieler Kritiker٭innen beendete er 2001 diese literarische Epoche dann selbstbestimmt für sich und alle anderen mit seinem zweiten Roman 1979. Zwei ebenfalls wohlstandsverwahrloste Hauptcharaktere, denen man glaubt, dass sie es sich gern in einem Poproman gemütlich gemacht hätten, lässt er die Grenzen ihrer Komfortzone erleben und erst in die Iranische Revolution, dann ein chinesisches Arbeitslager hineinstolpern („Ich war ein guter Gefangener. […] Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.“). Zwei dünne Romane, die den Diskurs bis heute beschäftigen und Kracht zu einem einflussreichen Autor gemacht haben. Ein Einfluss, den er immer wieder aufs Neue schamlos ausnutzt, um zu provozieren.

Rassist oder doch Absurdist?

Sein Markenzeichen, beim Schreiben selbst immer einen Schritt zu weit zu gehen, brachte ihm zwar kein Arbeitslager ein, dafür aber den Vorwurf, rassistisch zu sein. Ein Vorwurf, für den Formulierungen seines Romans Imperium eine berechtigte Grundlage bilden und immer wieder Rezensent٭innen dazu zwingen, einen kurzen Absatz darüber einzubauen. Bitte sehr.

Dabei ist Kracht, wenn man sein Gesamtwerk betrachtet, wahrscheinlich am ehesten ein Absurdist, was auch seine Selbstdarstellung in Eurotrash unterstreicht. Nach Abschluss der biographischen Einordnung entwickelt Eurotrash sich zu einem überdrehten, aber lesenswerten Roadtrip, in dem Kracht seine Mutter auf eine letzte gemeinsame Reise ausführt. Gemeinsam fahren sie durch die Gegend, besuchen Orte der gemeinsamen Vergangenheit und Bucket List der Mutter, diskutieren David Bowies Nachlass und verteilen wahllos Geld, das die Familie durch Waffen-Investionen eingenommen hat – ein absurdes Spektakel, in dem er etwas verspätet doch noch der wohlstandsverwahrloste Snob wird, der er gern immer gewesen wäre. Wobei er bei dem Versuch auch schnell wieder ins Fiktionale abrutscht.

Finger in Wunden

Sein Vater, Christian Kracht Senior, der erfolgreiche Verlagsmanager, kommt in beiden Teilen des Romans nicht sonderlich gut weg. In Erinnerungsfetzen wird er als egozentrischer Machtmensch charakterisiert, der über die Freundschaft zu Axel Springer Karriere gemacht hat, sogar Vorstandsvorsitzender von dessen Konzern wurde. Durch ihn und sein Umfeld lässt sich aber gut erzählen, wie in der jungen Bundesrepublik ehemalige Nationalsozialist٭innen Medienhäuser und Werbeagenturen gründeten. Dabei fallen auch Namen bekannter Verlagshäuser („Axel Springer“ gehört übrigens nicht dazu), die zu Zufluchtstellen wurden, und bekannter Wirtschaftswundermarken, die von denselben Personen entwickelt wurden, die vorher in Goebbels’ Propaganda-Apparat tätig gewesen waren.

Einmal mehr legt Kracht hier seine Finger in die Wunde seines deutschsprachigen Publikums, das ganz im Gegensatz zu ihm eben doch gerne verdrängt. Indem er vorführt, mit welch einer verschrobenen Familiengeschichte er sich auseinandersetzt, macht er in Eurotrash allerdings auch deutlich, dass all dies auch seine eigenen Wunden sind. Der sadistische Zyniker, den man aus all seinen Büchern herausliest, quält nicht nur seine Kritiker٭innen und Leser٭innen, sondern auch sich selbst. Dieses Geständnis markiert vielleicht die Schlüsselrolle, die Eurotrash unter seinen Büchern einnimmt und ist der Grund, warum man es unbedingt lesen sollte.

Rezensionen, Einordnungen und Kritiken zum Roman kommen schon wenige Tage nach Erscheinen von vielen Seiten. Besonders hervor sticht eine Kritik Sibylle Bergs. Vielleicht ist sie gar nicht ihm gewidmet. Wenn doch aber sehr geschickt inszeniert. Auf dem Klappentext zu Sophie Passmanns gerade erschienenem Buch Komplett Gänsehaut schreibt sie:

„Prima Buch, das ganz ohne Jugend auf dem Land, Großvater bei der Waffen-SS oder den Geruch von Pflaumenkuchen auskommt und hier und heute nicht langweilt.“

Sibylle Berg über Sophie Passmanns Komplett Gänsehaut

Eurotrash und der Zeitgeist

Auch wenn sie hier vielleicht gar nicht konkret oder zumindest nicht nur Kracht meinen sollte, sagt sie damit dennoch mehr über sein Buch aus als über den frisch gekürten Bestseller Passmanns. Ob Eurotrash nun wirklich langweilt, sei mal dahingestellt. Ein objektiver Kritikpunkt, dem Kracht sich hier aber durchaus stellen muss, ist, dass sein neuer Roman hier und heute keinen Zeitgeist trifft und eigentlich egal ist, ob er dieses Jahr oder vor fünf oder in zehn Jahren erscheint. Den größten Wert hat er wahrscheinlich für die Kracht-Forschung. Für alle anderen hat er zumindest einen Unterhaltungswert.

Und eine kleine Debatte war ihm auch schon durch seinen Namen auf dem Cover von vornherein sicher. Letztendlich geht es in Krachts Roman aber um nicht viel mehr als um ihn selbst. Was durchaus in Ordnung ist, da es ja nunmal so etwas wie eine Autobiografie ist. Nur eben erstaunlich von einem Autor, der den Zeitgeist eigentlich so selbstverständlich zu treffen vermag und seinen Kritiker٭innen bisher immer einen Schritt voraus war, jetzt aber viele Schritte zurückgeht. Unter vielen mutigen Romanen, mit denen er sich angreifbar gemacht hat, ist Eurotrash damit sein vielleicht mutigster und er verdient es unbedingt gelesen zu werden. Sobald ihr mit Sophie Passmann durch seid.

Ergänzung: Sibylle Berg versicherte uns bei Instagram inzwischen, Eurotrash nicht gelesen zu haben.

 


Eurotrash erschien am 4.3. bei Kiepenheuer und Witsch und hat 224 Seiten.

Titelbild: © Gregor van Dülmen

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Wie ein Witzebuch, nur witzig: Seinfelds gesammelte Werke

Das Witzebuch aus den Kinderzimmern der 90er hat abgesehen von dem Buchformat nichts mit Jerry Seinfelds „Is this anything“ zu tun. Der größte Unterschied: Seinfelds Werk, das seine gesamten Witze beinhaltet, ist zum Lautlachen. Auch darüber hinaus gewährt das Buch einen einmaligen Einblick.

Ein Gastbeitrag von Markus Hanfler


„Weißt du, was ich mag?“, fragt J.B. Smooth. „Wenn die Leute über die Prämisse lachen, bevor du überhaupt zur Pointe gekommen bist“.

Und Jerry Seinfeld erwidert in der berühmten Netflix-Serie Comedians in Cars getting Coffee: „Das ist das Beste.“, und erzählt von einem Witz mit folgender Prämisse: „Die Stäbchen zeigen, die Chinesen haben Durchhaltevermögen.“ In Seinfelds Buch steht die Pointe dazu: „Natürlich kennen die Chinesen die Gabel … Aber sie sagen: ‚Ja, sehr schön. Aber wir bleiben bei den Stäbchen.‘“

Das Wundervolle an diesem Witzebuch ist die verdichtete Chronologie. Jerry Seinfeld ist bekannt für seinen „Act“, für seine Bühnenperformance, für seine Mimik und Gestik. Aber die 480 gefüllten Seiten an einem Ort, ohne ablenkende Bewegtbilder, geben den Leser٭innen die Möglichkeit sich mit der Essenz und der Struktur eines Witzes zu beschäftigen. Nach 413 Witzen wird deutlich, wie die Prämisse aufgebaut ist, wann sie endet und dass sie oft etwas Absurdes, Gegensätzliches zur Pointe verarbeitet. Auch Seinfelds Entwicklung wird mit dem Buch erfahrbar. Am Anfang, in den 80ern, sind es mehr Wortwitze, am Ende in den 2010ern sind es vermehrt Geschichten. Die Chronologie ist das Einmalige an dem Buch. Das kann ein zweistündiges Stand-up-Programm nicht leisten.

Aber die Wissenschaft des Witzes muss nicht trocken und beschwerlich sein. Das Buch kann auch am Stück durchgelesen werden, so kurzweilig ist es dann auch. Bisher wurde „Is This Anything“ nicht übersetzt und ist nur auf Englisch erhältlich. Am besten sollte es auch dabei bleiben. Was bei dem Witz mit den Stäbchen am Anfang gerade so ging, ist bei vielen anderen Wortwitzen nicht möglich. Das Buch lässt sich auch ohne Englisch-Studium sehr gut lesen.

Es ist aber auch nicht viel mehr als das beste Witzebuch aller Zeiten. Seinfeld gibt eine knappe Einordnung in die Jahrzehnte seines Schaffens, mehr leider nicht. Es ist keine Biografie. Es sind Witze, auch wenn immer wieder biografische Züge durchscheinen. Diesen einmaligen Einblick gewährt Seinfeld. Am Anfang seines Schaffens stehen Reisen, Autos und die eigene Kindheit im Vordergrund. In der Gegenwart geht es um das Verheiratetsein und die eigenen Kinder. Was bleibt, sind Seinfelds Beobachtungsgabe und sein Faible für das Absurde im Alltag. Sein Genie spielt er in pointierten Prämissen aus, die sein Publikum direkt zum Lachen bringen. Es müssen nicht immer Stäbchen sein. Schlüssel gehen auch:

„Neulich saß ich im Flugzeug und dachte: ‚Ich frage mich, ob es Schlüssel für das Flugzeug gibt. Benötigt man Schlüssel, um das Flugzeug zu starten?‘ …“ Die Pointe gibt es dann im Buch.

Ein Trailer zum Buch:

Quelle: YouTube

„Is This Anything“ von Jerry Seinfeld erschien bei Simon & Schuster und hat 470 Seiten.


Markus Hanfler schreibt über Kultur, Sport und Sportkultur und alles, was dazwischen liegt. Als der Traumberuf Dinosaurier nicht funktionierte, studierte er Geschichte und Politik in Aachen und Berlin. Nach Stationen im Journalismus, zog ihn die dunkle Seite der Macht in den Bann und er arbeitet jetzt im Marketing. Schreiben will er aber trotzdem, deswegen ist er hier.

Titelbild: Jerry Seinfeld 1992, © Alan Light (FlickR/Wikimedia Commons)

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The Dune

Eine Art Film-Review.

von Jens Marder


Dünebarkeit? Offenbar nicht, denn Frank Heiberts Wormbuilding-Klassiker ist primär ein Epos, zumindest der Seitenzahl nach zu urteilen (gelesen habe ich die Scanvorlage nicht). Daher scheint es wenig förderlich, ein derart umfangreiches, grandioses, geradezu monströses Larger-than-Narrativ auf einen dreiminütigen Flick reduzieren zu wollen. Natürlich ist es ein origineller Ansatz, doch ob der Werbefilmer Villeneuve damit die harte Fanbase mehr überzeugt als seinerzeit der berüchtigte Versuch (bzw. Irrtum) von Davin Lynch, bleibt abzuwarten (bzw. zu bezweifeln).

Vom starken Storytelling und anspruchsvollen Beziehungsgeflecht der Charaktere ist in Denis Villeneuves neuem Machwerk jedenfalls nicht viel übrig. Nach seinen ebenfalls recht kurz geratenen Thrillern The Prisoner und The Sicario dringt der zweifelsohne begabte Franzose nun ins Herz der Avantgarde vor. Hektische Schnitte und kryptische Dialoge aus dem Off machen das arg fragmentierte Dekonstruktierchen zu einem intensiven, zumal sehr dichten Gewöhnungsbedürfnis. Es gibt Gastauftritte von Dave Bautista und Jason Mamoa, die sich beide offenbar aufs -a versteift haben. Und dass Oscar Isaacs nicht von Science-Fiction lassen kann, wäre noch löblicher, wenn er nicht ständig etwas vergessen würde (vgl. Rasur).

Als Hauptdarsteller hat man einen naiven Hänfling gewinnen können, dessen kanadisch klingender Nachname einen wertvollen Hinweis liefert – doch worauf? Zu Fragezeichen aus Fleisch und Blut verkrüppelte Zuschauer auf der Suche nach zu verlierender Zeit finden lediglich drei Minuten Filmmaterial vor und drängen sogleich auf jede Menge Antworten, ohne vorher die Fragen formuliert zu haben: Warum besteht der crowdpleasende Twisthuberwurm am Schluss darauf, The Big Lebowski genannt zu werden? Wer sind die grazil an Nylonfäden heruntergelassenen Neonazis, die einen maximalinvasiven Eingriff in das Grundnahrungsmittel Augenbutter planen? Und wäre es nicht effizienter, den Film wenigstens etwas zu strecken, damit die recht aufwendigen KGB besser zur Geltung kommen? Fun Fact: Dass Haus Zimmer nach meisterlichen Osten zu Twistopher Nolans Incepticon und Intrastellar gen The Dune abgewandert ist, wird unzweifelhaft als einer der massivsten Ofenschüsse in die Film- und Kinogeschichte eingehen – denn Villeneuve hat nur Zeit für einen einzigen Song, und der ist weder von Zimmer noch von dieser Welt.

In der Kürze liegt die Würze und in der Düne liegt der Hüne: Wie eine ins Fischnetz gegangene Lochbox lenkt Uncanny Ville ganz Arrktis in groteske Vistas. Schräge Ufos werden von Ed Wood höchstpersönlich in der Trashschwebe gehalten, ambitionierte Hyperlibellen umschwirren das Sandzeitkontinuum und animatronische Sonnenstrahlen beschleunigen den Frementierungsprozess. Seit jeher auf künstliche Beatmung angewiesen, gehen die indigenen Blaualgen vor Tremorpauls Ruckelphantasmen in die (unmerklich, aber umso fester gezwickten) Knie. Fazit: Independence Day meets Langoliers mit PS5-Grafik und Drohblickverlängerung via Schwert.

1 von 5 Sternen

There is an English version of the review at 366 Weird Movies available, which Jens Marder published under his real name.

Titelbild: © 2019 Warner Bros. Entertainment Inc.

 

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Teufelszeug mit Echolot

Ping. Ping. Ping. Wo gerade noch die ausgedehnte Anfangsstille war – ein Markenzeichen für die Alben des ECM-Labels –, tastet nun ein Echolot den Raum ab. Ping. Ping. Ping. Das Tasten, das Suchen und Erkunden könnte so etwas wie ein Leitmotiv sein, aus dem heraus Avishai Cohen mit seiner Band Big Vicious sein neues Album geschaffen hat.


»Wir kommen alle vom Jazz, aber einige von uns haben ihn früher verlassen. Jeder bringt seinen Hintergrund mit ein und macht ihn zum Teil des Klangs der Band«, beschreibt Avishai Cohen die Grundkonstruktion seiner Formation. Es ist das vierte Album, das der bärtige Trompeter (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Bassisten) beim Münchner Label ECM veröffentlicht. Diesmal allerdings ist es kein Projekt mit kleiner Besetzung, sondern das Ergebnis einer vielseitigen Bandstruktur, die lakonisch »Big Vicious« heißt – das große Böse. Ok, das klingt bedrohlich, fast nach einem düsteren Metal-Act; doch das Album ist ganz anders angesiedelt. Electronica, Ambient-Musik und Psychedelia sind Teil der Mischung, ebenso wie Grooves aus Rock, Pop, Trip-Hop und mehr. Jazz eben.

Monolith

»In dieser Band geht es nicht wirklich um die Soli. Das ist hier nicht das Ziel oder die Ästhetik. Es geht vielmehr darum, wie man einen Song erschafft, auch wenn niemand singt.« Tatsächlich wirken die Songs wie aus einem Guss – fast schon so, ob hier nicht vier oder fünf Musikern zuhört, sondern nur einem einzigen.

Das liegt vielleicht daran, dass sich Big Vicious auf langjährige Freundschaften stützt: Avishai Cohen und der Gitarrist Uzi Ramirez besuchten die gleiche High School in Tel Aviv. Gitarrist bzw. Bassist Jonathan Albalak und der Schlagzeuger Aviv Cohen, beide aus Jerusalem, spielen sein zwanzig Jahren in verschiedenen Ensembles zusammen. Die Besetzung ergänzt der zweite Drummer Ziv Ravitz, der noch zusätzliche Energie ins Musikgeschehen pumpt.

Was bündelt eigentlich das Album?

Gibt es einen Signature Track, also eine Art Filetstück, in dem sich alle Qualitäten und Charaktereigenschaften des Albums verdichten? Ich schaue auf meine Notizen. Wo sonst ein-zwei Stücke unterstrichen sind, gibt es hier eine ganze Liste von Songs. Und die könnten kaum unterschiedlicher sein.

Da ist das Eröffnungsstück »Honey Fountain« mit seinem mitreißenden Thema und dem besagten Echolot. Smart kommt es daher und gibt dem Album alles andere als eine akademische Grundstimmung, sondern eher eine zugänglich-poppige. Cool ist hier, wie sich die beiden Drummer ergänzen und ein Koordinatensystem von Beats in den Raum hauen. Man dreht den Lautstärkeregler gleich etwas lauter …

Dann begeistert mich das Energiepaket »King Kutner«. Wie ein Turbolader gibt auch hier das Schlagzeug Schub und baut in Komplizenschaft der rotzigen E-Gitarre aus dem Stück eine punkige Nummer. Von akademisch und esoterisch-ätherisch – Vorurteile, die man dem ECM-Label und seinem vermeintlich nordischen Sound oft nachsagt – ist hier nichts zu spüren.

»This Time It’s Different« zeigt die Offenheit der Band für Synthesizer-Effekte und wie sie gelungen in eine doch ganz klassische Jazz-Nummer Einzug finden. Fiepsen, Pfeifen, dazu die Trompete – Big Vicious schaffen daraus einen ganz lässigen Sound mit Ohrwurmcharakter.

Also nochmal die Frage nach dem Grundcharakter. Die Antwort: Das Album legt sich nicht fest, fährt sich nicht auf einen Songtypus ein, sondern führt viele Stile zusammen. In diesem Patchwork aus Feinsinnigem und Kantigem findet sogar eine Version von Beethovens Mondscheinsonate ihren Platz – und natürlich eine betörende Coverversion …

Und dann kommt ein Übersong aus den 90ern

 »Wir spielten zu Beginn einige Coverversionen. Vor allem Musik aus den 1990er Jahren, weil das bei unserer Generation nachklingt, die Dinge, die wir in der Schule gehört haben. ›Teardrop‹  von Massive Attack ist eine Musik, von der wir nie müde werden. Es ist ein Stück, in dem man für immer bleiben kann – jedes Element darin ist so vollständig und gleichzeitig so einfach.« Zweifellos gehört »Teardrop« zum Größten, was die Neunziger Jahre musikalisch geschaffen haben.

Wie das so ist mit Coverversionen von solchen Megasongs: So manche Band verhebt sich und zerschellt im schlimmsten Fall im Duplikat-Kitsch. Doch die Big-Vicious-Version umschifft diese Gefahren souverän; sie schafft die Gratwanderung, dem Songs-Charakter zu erhalten und ihn doch in eine eigene Form zu gießen. Die Trompete übernimmt die Rolle der Leadsängerin, das Schlagzeug liefert den düster-schleppenden Puls und die wahnsinnig schön verzerrte Gitarre mengt entrückte Klangspuren im Bitches-Brew-Style bei.

Dass der Song schon mehr als 22 Jahre auf den Buckel hat, ist egal. Das, was Big Vicious daraus machen, offenbart: Er war, ist und bleibt cool.

Big Vicious – das große Böse. Wenn Avishai Cohen mit seiner Formation diese Begrifflichkeit so schön auslegt, dann kann man nur sagen: Bitte mehr davon von diesem Teufelszeug, das so großartig klingt!


Beitragsfoto und Galerie: © Stefan Weigand, Bandfoto: © Ben Palhov/ECM

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Daniela Krien: Muldental

In Muldental erzählt Daniela Krien elf Geschichten, die sich im Kern mit der Frage „Schicksal oder Schuld?“ befassen und im weitesten Sinne mit der Vereinigung zwischen Ost- und Westdeutschland zusammenhängen. Der Roman lässt erahnen, dass unter die Oberfläche blicken noch nicht bedeutet, auch in die Tiefe zu schauen.


Die auf dem Cover von Muldental abgebildete junge Frau in Schwarz, die vor einem dämmergrauen Hintergrund in die Ferne schaut, scheint zum Verwechseln ähnlich mit dem bekannten Gemälde Lucas Cranachs des Älteren, das Martin Luther zeigt. Auch wenn Welten zwischen ihnen liegen, stehen beide im Zeichen des Umbruchs. In elf Kapiteln lässt Daniela Krien verschiedene Protagonisten sprechen. Würde man ihr Konzept auf eine simple Gleichung herunterbrechen, würde es „Eine Portion Realität, eine Portion Fiktion“ lauten.

Die Autorin wahrt Distanz zu ihren Protagonisten, indem sie als Außenstehende über sie schreibt. Dennoch zeichnet sie auf lakonische, doch unter die Haut gehende Weise ihre jeweiligen Innenwelten nach. Es bedrückt, da jede in irgendeiner Form isoliert erscheint und sich um eine mehr oder minder starke Verzweiflung dreht. Doch sind viele dieser Welten auch irgendwie miteinander verknüpft – in der Vergangenheit, im Jetzt oder in beidem. Muldental ist der Ort, der die Geschichten in sich versammelt wie eine Senke, die sich bei Regen stets mit Wasser füllt.

Zwar macht Krien es einem leicht, in die Realitäten der jeweiligen Protagonisten einzutauchen. Doch sind die Erzählungen alles andere als einfach einzuordnen. Der Subtext von Muldental vermittelt uns deutlich, wie wir einerseits leicht verleitet werden, uns ein Urteil über das Denken und Handeln anderer zu bilden und wie es uns andererseits herausfordert, einfach zuzuhören und zu versuchen zu verstehen. Oft ist es nämlich diese Auseinandersetzung, worauf es zuerst und vor allem ankommt.

Beitragsbild: © Lennart Colmer

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Die Klassenfrage kehrt zurück in die Literatur

Spätestens seit Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen ist es in der deutschen Literaturszene wieder legitim, sozioökonomische und -kulturelle Selbstreflexionen zu verfassen, um den eher elitären Schriftstellerhabitus von Menschen, die doch meist in prekären Verhältnissen leben, zu hinterfragen. Doch nun hat der Journalist etwas wesentlich Gewagteres vorgelegt: eine Autobiographie über seine Jugend und Kindheit in Armut, eine Autobiographie, in der er die Klassenfrage stellt. Sein Buch Ein Mann seiner Klasse bringt endlich wieder Leben, ökonomische Fragen und gesellschaftliche Probleme zurück in die Literatur.


Baron schreibt im Grunde sogar mehr als eine Autobiographie, nämlich die Geschichte seiner Familie. Er berichtet, wie sich seine Eltern im Arbeitermilieu von Kaiserslautern kennengelernt und ein Kind nach dem anderen bekommen haben. Der Leser erfährt, dass die Mutter Dichterin werden wollte, aber ihr schulisches und soziales Umfeld es ihr vergätzt haben und sie schließlich depressiv wurde. Wir erfahren, dass der Vater ein Alkoholiker war, der Frau und Kinder verprügelte und nirgendwo hohes Ansehen besaß. In diese Familie wurde der Autor hineingeboren.

Nach dem frühen Tod der Mutter an Krebs kamen die Kinder zur Tante mütterlicherseits – die immer noch zur Unterschicht gehörte, aber resolut und ehrgeizig war und ihren Schwager verabscheute. Während sein Bruder immer wieder Drogenprobleme hatte, schafft Christian Baron es aber schließlich, auch durch die Förderung einer anderen, wohlhabenden und gebildeten Tante, das Abitur zu machen, und interessiert sich bald für Journalismus – jedoch nicht ohne in einer höheren Schule stets als Außenseiter zu gelten, als derjenige, der aus einer Unterschichtenfamilie kommt und vom Bildungssystem systematisch diskriminiert wird.

Das Buch erzählt nicht nur von sozialem Elend und der Armut, am Ende des Monats nicht mehr genug Nahrung zu haben, weil der Schläger-Vater zu viel vom wenigen Geld versoffen hat, und davon, zu Hause keine Förderung zu erhalten, sondern auch davon, in ständiger Angst leben zu müssen. Es geht auch um Barons Selbstreflexion. Denn er entschuldigt nicht nur dauernd die Passivität der Mutter, die selbst das Opfer ihres Ehemannes ist und gleichzeitig aber die Kinder, aufgrund ihrer Depression, schützt; er liebt auch seinen Vater bedingungslos. Nie wollte er ihn loswerden, egal wie bösartig der Patriarch war; nein, Baron will immer, dass sein Vater sich ändert. Diese ständige Ambivalenz durchströmt das ganze Buch. Und er wird sich bewusst, dass – was keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung ist – der Vater ein „Mann seiner Klasse“ war, nie Aufstiegschancen hatte, nur Armut kannte und selbst bereits aus der Familie eines prügelnden Alkoholikers stammte.

Gewalt, Armut und Pathos

Barons Buch bildet also nicht einfach ein Milieu ab. Dabei erklärt er gar nicht einmal sonderlich viel, sondern beschreibt nur sehr genau – doch gerade dies gibt Ein Mann seiner Klasse eine große Kraft und dennoch einen explanatorischen Wert, den man selbst herausziehen kann, so deutlich ist die Schilderung. Denn Barons Stil und Sprache sind, selbst noch bei den Elementen der akademischen Selbstreflexion, einfach, simpel und klar. Baron gibt soziale Zustände exakt wieder, ohne Fremdworte nutzen zu müssen: ein stilistisches Bekenntnis zur Arbeiterklasse. Diese Klarheit wird ein bisschen unterminiert durch einige pathetische Elemente und der einseitigen Festsetzung des Vaters als Täter und der depressiven Mutter als Opfer – aber davon, dass sie ihre Kinder beschützt hat, liest man nichts. Doch es wäre natürlich zu viel erwartet von einer offenen Autobiographie, die so unangenehme, persönliche und doch gesellschaftlich relevante Themen berührt, wenn man hier noch eine nüchterne Analyse, statt dem kindlichem Pathos, das Baron als Junge fühlte, erwarten würde.

Obgleich es eine Autobiographie über die eigene Kindheit und Jugend ist, hat Baron es nicht nur geschafft, die eigene Entwicklung und Selbstfindung zu skizzieren. Seine Vergangenheit ist ein pars pro toto für eine ganze soziale Schicht oder Klasse. Ein Mann seiner Klasse steht dafür, als Junge in Armut, Not und damit auch Angst und Unfreiheit aufzuwachsen. Das Buch steht für Kinder, die früh männliche Gewalt erfahren. Das Buch steht für psychische Aufarbeitung dieses Leids, und für Liebe, Erinnern und die Suche nach Versöhnung mit der Familie und der Vergangenheit in einer widersprüchlichen Welt der Gewalt, sozialen Ungleichheit und Exklusion. Genau das ist der Verdienst: dass Baron die lange vergessene Klassenfrage wieder zurück in das öffentliche Bewusstsein rückt und dabei ohne ganz ohne Resignation oder Hass auskommt. Gegenüber diesem Debüt sehen andere deutsche, bourgeoise Debütromane – die meist davon handeln, wie ein rich kid auf Selbstfindungstrip geht, oder wie jemand mal als Kind gehänselt wurde – alt und abgeschmackt aus. Barons Klassenautobiographie gibt der Literatur ein wichtiges Stück Leben, Seele, Authentizität und die Behandlung manifester sozialer (statt nur individueller) Probleme zurück.

Ein Mann seiner Klasse von Christian Baron erschien am 31. Januar 2020 im Claassen Verlag und hat 288 Seiten.

Coverbild: © Claassen Verlag

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Peers Penis oder Eidingers Finger?

Peer Gynt an der Schaubühne in Berlin ist eine Inszenierung Lars Eidingers – in mehrfachem Sinn. Mit diesem Satz ist schon vieles gesagt, ja, vielleicht alles.


Oder man geht hin und beschreibt das Bühnenbild des Aktionskünstlers John Bock, thematisiert das große Stoffgebilde mitten auf der Bühne – verziert mit unzähligen Stoffwürsten, vielleicht Zitzen, vielleicht Penisse, schwer zu sagen. Das Gebilde, das von einigen Rezensent٭innen als ruhender Elefant erkannt wurde, von anderen als undefinierbares Plüschtier, sich am Schluss aber doch eindeutig als übergroßer Kuheuter herausgestellt.

Penis & Porno

Oder man entscheidet sich für eine Rezension, in der man alle Wortwitze einflicht: Peer-fect, Peer-peroni, peer pedes, Peer-rücke. Ja, Perücken gab es einige, und Kostüme auch, aber selten mit richtiger Hose. Immer nur mit Unterhose. Überall Unterhosen. Oder halt nur Penis. Nicht Peers Penis, sondern eher Lars’ Penis. Kennt man. Und dann wären da noch die ganzen Intertextualität: Songfetzen von a-ha, Zitate von Kanye West oder Brecht.

Das zuvor bei der Buchung angekündigte pornografische Material ist dabei kaum provozierend im Gegensatz zum ekelhaften Rumgeschmier: Bier, Tiefkühlpizza, saure Gurken, Cola, Eier in einen Standmixer püriert und dann getrunken, bis einem beim Zugucken die Galle hochkommt. Aber auch nichts Neues an der Schaubühne: Hat sich nicht in Thomas Bernhards „Das Kalkwerk“ Schauspieler Felix Römer in kiloweise Eiern und Mehl selbst paniert?

Profilneurose & Publikum

Und was bleibt? Henrik Ibsens „Peer Gynt“? Ja, wahrscheinlich. Ist die Inszenierung doch ebenso weit weg wie nah dran am dramatischen Gedicht über den lügenden Bauernsohn und seine realitätsfernen Fantasiewelten. Aber ganz zum Schluss steht immer nur eines im Scheinwerferlicht: die Suche nach der eigenen Bedeutung, nach Geltung. Und eben Lars Eidinger, Lars Eidinger, Lars Eidinger und Lars Eidinger.

Lars Eidinger, © Benjakon

Hier soll aber kurz der Blick weg von ihm – sorry! – und das Licht auf jene Menschen geworfen werden, die ihm eine Bühne bauen: sein Publikum. Denn kaum erscheint er (Mist, da ist er ja wieder!) am Anfang auf der übergroßen Leinwand, sorgen einzelne Zuschauer٭innen für Irritationen. Sie zücken die Handys. Bei Konzerten bekannt, aber im Theater? Als er seine ersten Takte zum Besten gibt, filmen einige. Auch nach der Vorstellung machen ein paar Zuschauer٭innen weiter Bilder – ein Foto mit Lars Eidinger an der Bar. Eidinger, der Popstar der Theaterwelt. Und ja, es ist unmöglich, einen Absatz in einem Review eines Lars-Eidinger-Stücks zu schreiben, ohne ihn zu erwähnen. Aber ein Versuch war es wert.

Peer & Presse

In der Presse gibt es keinen Konsens. Einige loben, andere zerreißen. Viele können sich nicht entscheiden: Ist das „Taten-Drang-Drama“ nun gut oder schlecht? Oder mehr so mittel? Oder hat man selbst sie nur einfach nicht verstanden, die Inszenierung, Nebenverweise und Andeutungen übersehen? Oder war es nicht doch eher eine Performance, eine Peer-formance? Und kann man dem Ganzen mit bloßer Beschreibung des Bühnenbilds oder einzelnen Aktionen gerecht werden?

Vielleicht ist es der Reizüberflutung geschuldet, dass es gar nicht einfach ist, hier zu urteilen. Gut gespielt war es, keine Frage. Fast zurückhaltend für Eidinger-Verhältnisse. Und teilweise wirklich gute Ideen. Aber auch diese Rezension kann sich nicht entscheiden. Und so bleibt am Schluss dieser eine Satz: „Peer Gynt an der Schaubühne in Berlin ist eine Inszenierung Lars Eidingers – in mehrfachem Sinn.“

PS: Eidinger – oder war es Gynt? – hat sich übrigens den Finger abgeschnitten. Aber kein Grund zur Sorge, es ist alles wieder dran. Weiteres ist einschlägigen Medien zu entnehmen.

Titelbild: Peer Gynt, ein Taten-Drang-Drama von John Bock und Lars Eidinger, © Benjakon

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„soif sauvage“ – Durst auf das Leben

Das Nachdenkliche und Wehmütige schließen Leichtigkeit und die pure Freude nicht aus. Wie verträumt und rastlos Berlin klingen kann, haben soif sauvage für sich entdeckt und nun mit uns geteilt.


Verträumt wie ein herbstlicher Nachmittag an einem stillen See und tanzbar wie eine durchwachte Nacht in Berlin – so hören sich soif sauvage auf ihrem gleichnamigen Debut an. Zwei Jahre ist es her, dass Florence Wilken und Pierre Burdy ihr Musikprojekt ins Leben gerufen haben, das sich irgendwo zwischen House und Indie-Pop bewegt. Seither haben sie einen sinnlichen Sound heranreifen lassen, der sich am besten mit einem simplen, aber anerkennenden „It feels good!“ beschreiben lässt.

Quelle: YouTube

Auf Bandcamp bezeichnen sie sich als „berlin based french duo“, deren melancholischer Electro-Pop von souligem Gesang untermalt wird. Im Sommer 2019, ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung ihres Albums, traten sie bereits als Nachwuchs auf dem Pop-Kultur-Festival Berlin auf.

Soif sauvage siedeln sich musikalisch in der Nachbarschaft einer jungen, diskursfähigen Generation von Pop an, die poetisch-sinnlich und selbstbewusst klingt. Die gefühlsbetonten Lyrics gehen Hand in Hand mit spielerischen Arrangements. Trotz verführerischer Verspieltheit wirkt das Album jedoch wie eine harmonischen Einheit, die wenig experimentierfreudig erscheint. Dass soif sauvage aber das Potenzial dazu haben, lassen sie durchschimmern.

Man kann sich in ihren Songs selbst wiedererkennen und zugleich zwischen den Klängen und Beats verlieren, die, mal subtil, mal ausdrücklich, aber stets zum Tanz auffordern. Auch wenn das Debut von soif sauvage von Melancholie getragen wird, lädt es zum Wohlfühlen ein und lässt die schwer wiegenden Gefühle zehn Tracks lang schweben.

Titelbild: © soif sauvage, bandcamp.com

Brittany Howard – Permission to fuck it up

Die Frontfrau der Alabama Shakes hat ein Soloalbum vorgelegt, das überzeugt. Brittany Howard hat elf starke Songs produziert, die sehr unterschiedlich, aber immer authentisch sind und Spaß machen.


Bis heute ist es in der Evolutionsforschung ungeklärt, was zuerst da war: die menschliche Sprache oder der Gesang. Vermutlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte, in einer Symbiose aus gesprochenem Wort und gesungenen Tönen. Der menschlichen Stimme wird in den letzten Jahren in ganz unterschiedlichen Disziplinen vermehrt Gehör geschenkt. Von der einzigartigen Individualität einer jeden einzelnen Stimme, dem Potenzial, mit nur einer Stimme auch vielen anderen Menschen eine „Stimme“ zu geben und der Möglichkeit verdrängte Erinnerungen über die eigene Stimme wieder zugänglich zu machen, ist die Rede (Alice Lagaay 2011, p. 57–69.). Die US-amerikanische Künstlerin Brittany Howard legt mit ihrem Solodebüt nun ein eindrückliches Werk vor, aus dem sich diese drei Dimensionen ablesen lassen.

Nach dem zweiten, 2015 erschienenen, sehr erfolgreichen Studioalbum mit ihrer Band Alabama Shakes präsentiert Howard nun mit elf Songs ein Album, das in Gedenken an ihre verstorbene Schwester den Titel „Jaime“ trägt. Fast könnte man von einem Konzeptalbum sprechen, denn was alle Songs vereint, sind sehr intime Einblicke in Howards Leben: unerwiderte Liebe, jemanden zu vermissen oder unabhängig von den Vorstellungen einer Gemeinde an Gott zu glauben. Ihr Leben war, wie sie selbst sagt, auch bestimmt von dem Gefühl anders zu sein:

“In a small town like where I come from, different is bad—I never wanted to be different. My greatest wish was to be like everybody else. I didn’t want to be almost six feet tall, didn’t want this big, bushy hair“.

Brittany Howard

Davon gibt besonders der Song „Goat Head“ ein Zeugnis. Über einen trip-hop-artigen Beat mit dezenten Piano-Tönen singt Howard: „My mama was brave to take me outside/cause mama is white and daddy is black/when I first got made, guess I made these folks mad“. Howard erzählt hier von dem traumatischen Erlebnis, als Unbekannte einen Ziegenkopf auf dem Hintersitz des väterlichen Autos platzierten, um die Familie einzuschüchtern. Diese privaten Erlebnisse stehen stellvertretend für viele farbige Menschen in den U.       S.A. und weltweit, die mit Rassismus alltäglich umgehen müssen.

Howards Stimme zeigt sich als perfektes Vehikel, um diese Lebenswirklichkeit vieler Menschen auf einmal zu transportieren. Ihr Timbre bewegt sich zwischen dem, was wir als typisch weiblich/männlich beschreiben würden. Mal kraftvoll und kratzig, mal sanft und melodisch wie in „Short & Sweet“. Howards Timbre und Wortbetonung lassen einen da unweigerlich an Nina Simone denken. Aber auch gewisse Einflüsse von Prince kommen vor allem in „Stay High“ und „Baby“ durch. Howard klingt ganz und gar nicht „wie ein Frosch mit einer sehr, sehr guten Soulstimme“, so Jens-Christian Rabe in der Süddeutschen.

Und auch dem Vorwurf einer nicht vorhandenen Genialität, was die einzelnen Songs angeht, muss widersprochen werden. Als ausgewiesener Pop-Kritiker sollte Rabe eigentlich die Kriterien kennen, die einen authentischen und dabei massentauglichen Song ausmachen. Auf „Jaime“ lassen sich mit „Stay High“ der ersten Single mit Videoveröffentlichung und „Goat Head“ mindestens zwei hitverdächtige Titel ausmachen, die den gegenwärtigen Pop-Geist einfangen und trotzdem so intelligent gemacht sind, dass sie nicht schon nach dem dritten Anhören langweilen. Immer wieder überrascht Howards Stimme. Über mehrere Oktaven schlängelt sie sich perfekt zwischen die Instrumente, wird gelegentlich von Backing Vocals pointiert und lässt sich vom Beat tragen. Insgesamt ist das Album vom Rhythmus bestimmt. Es fällt schwer, sich nicht mitzubewegen. Vom ersten Song an ist man drin. Das macht dieses Album so stark.

Quelle: YouTube

Man kann sich nicht entziehen, obwohl die Stücke sehr unterschiedlich in ihrer Struktur und der instrumentalen Besetzung sind. Die Songs sind auf unterschiedliche Weise entstanden. Viele Ideen hatte Howard bereits Jahre auf ihrem Computer, sie wurden dann im Studio ausgearbeitet. Andere Ideen wie z. B. „13th Century Metal“ flossen beim Jammen aus den Fingern des Jazz-Keyboarders Robert Glasper und des Drummers Nate Smith. Zusammen mit dem Shakes-Bassisten Jack Cockrell wurde das Album, wie auch das zweite Shakes-Album „Sound & Color“, im Studio von Shawn Everett in Los Angeles produziert. Everett ist fünfmaliger Grammy-Gewinner. Er machte u. a. das Mixing und Sound-Engineering für Warpaint oder War On Drugs. Durch die Alben von Radiohead und Björk beeinflusst, ist es Everetts Anspruch, einen möglichst originellen und puren Sound zu finden. Auch wenn das mal bedeutet, aus dem Mastertrack die Bass- und Drumspuren herauszufiltern, auf Vinyl zu pressen und dann mit diesen Spuren weiter zu mischen. Die Umwege lohnen sich. Auch auf „Jaime“ fühlt man bei jedem Song einen räumlichen Klang, der nicht allein durch digitale Tools hergestellt werden kann.

„I gave myself permission to just fuck it up“, sagt Howard. Diese Freiheit hat sie in eine überzeugende Leistung umgewandelt. Sie hat die richtigen Musiker mit ins Boot geholt und sich von dem bisherigen Soulbluesrock ihrer Band Alabama Shakes in neue Wasser vorgewagt. Nicht allzu weit weg, man begegnet Howards rockigem Gitarrenspiel wieder. Aber was die Arrangements und ihre facettenreiche Stimme angeht, hat sie neue Ufer erkundet. „Jaime“ ist ein spannendes Album, authentisch und detailliert. Egal, was am Anfang war, am Ende ist Musik.

Jamie von Brittany Howard erschien am 20. September bei Columbia/Sony Music.

Titelbild: © Danny Clinch