Das Nachdenkliche und Wehmütige schließen Leichtigkeit und die pure Freude nicht aus. Wie verträumt und rastlos Berlin klingen kann, haben soif sauvage für sich entdeckt und nun mit uns geteilt.
Verträumt wie ein herbstlicher Nachmittag an einem stillen See und tanzbar wie eine durchwachte Nacht in Berlin – so hören sich soif sauvage auf ihrem gleichnamigen Debut an. Zwei Jahre ist es her, dass Florence Wilken und Pierre Burdy ihr Musikprojekt ins Leben gerufen haben, das sich irgendwo zwischen House und Indie-Pop bewegt. Seither haben sie einen sinnlichen Sound heranreifen lassen, der sich am besten mit einem simplen, aber anerkennenden „It feels good!“ beschreiben lässt.
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Auf Bandcamp bezeichnen sie sich als „berlin based french duo“, deren melancholischer Electro-Pop von souligem Gesang untermalt wird. Im Sommer 2019, ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung ihres Albums, traten sie bereits als Nachwuchs auf dem Pop-Kultur-Festival Berlin auf.
Soif sauvage siedeln sich musikalisch in der Nachbarschaft einer jungen, diskursfähigen Generation von Pop an, die poetisch-sinnlich und selbstbewusst klingt. Die gefühlsbetonten Lyrics gehen Hand in Hand mit spielerischen Arrangements. Trotz verführerischer Verspieltheit wirkt das Album jedoch wie eine harmonischen Einheit, die wenig experimentierfreudig erscheint. Dass soif sauvage aber das Potenzial dazu haben, lassen sie durchschimmern.
Man kann sich in ihren Songs selbst wiedererkennen und zugleich zwischen den Klängen und Beats verlieren, die, mal subtil, mal ausdrücklich, aber stets zum Tanz auffordern. Auch wenn das Debut von soif sauvage von Melancholie getragen wird, lädt es zum Wohlfühlen ein und lässt die schwer wiegenden Gefühle zehn Tracks lang schweben.
Stell dir vor, in Kreuzberg strömen die Menschen sonntags zu Hunderten in eine Kirche. Hören andächtig zu. Und werden noch nicht mal enttäuscht. Im Gegenteil.
Berlin, 3.12.2017
Gar nicht so leicht, ein gutes Konzert in einer Kirche zu spielen. Gerade die Passionskirche im Bergmannkiez mit ihrem endlosem Hall macht es ihrem Publikum schwer, sich auf die immer häufiger dort stattfindenden Konzerte zu konzentrieren. Sóleys Show im letzten Jahr litt unter dem Sound. Und auch Joco, die dankbarerweise die Hundreds-Tour als Support begleiteten, wirkten gegenüber ihrem voluminösen Albumsound ungekannt dünn. Wie man einem solchen Saal aber wirklich gerecht werden kann, stellten Hundreds, der ewige Geheimtipp, noch am selben Abend ein für allemal unter Beweis.
Auf wundersame Weise gelingt es Hundreds ja schon seit ein paar Jahren, mit einer Musik zu begeistern, die anmutig und verschroben zugleich ist und die sie immer wieder weiterentwickeln. Aus Liebe zum Perfektionismus eignen sie sich allerhöchstens Kleinstteile aus verschiedenen Stilen an, um daraus nur wieder ihren eigenen Sound neu zu entdecken. Gesampelter Gesang, Ambient- oder Dubstep-Elemente können bei einzelnen Songs zentrale Rollen spielen oder ein ganzes Album lang gar nicht auftreten. Was alles durchdringt, sind musikalische Virtuosität, die sich durch Harmonievielfalt, kalkulierte Dissonanzen und kontrolliert arhythmische Elemente auszeichnet, und ein brillianter Gesang, der imposant und melancholisch seinen Weg hindurch findet. Immer wieder ziehen sich die Songs auf Klavier und Gesang zurück in eine gitarrenlose Leere, die dem Ganzen etwas Intimes und Einzigartiges verleiht.
Auf der gerade beendeten Elektro Akustik Tour, die sie auch in die Elbphilharmonie führte, riefen Hundreds nicht einfach ihre Veröffentlichungen ab, sondern präsentierten erhebliche Weiterentwicklungen der Arrangements. Und spiegelten teils ihre Songs gar in völlig veränderten Versionen. Aus dem einst vergleichsweise leichten Happy Virus wird eine düster aufgeladene, abstrakte Klavierballade. Andere Songs werden mit Elementen des Krautrocks, analogen Synthies und maschinellen Beats, aufgeblasen. Gerade das Spiel zwischen Bekanntem und Neuem erzeugt hier eine Grundspannung, die das Konzert über anhalten sollte. Abgerundet wurde der Berliner Hundreds-Auftritt von einer Kammerchor-Version mit Joco und Missincat des Songs Flume von Bon Iver, einer ähnlich kompromisslosen Band, die in den letzten Jahren gezeigt hat, wie weit sich ein komplett eigentümlicher Sound entwickeln kann. Und schon hat man vier wichtige Vertreter einer jungen Independent-Avantgarde in einem Satz erwähnt. Nicht nur wirkten die von Hundreds präsentierten Versionen, als seien die Songs bloß dafür komponiert worden. Die Passionskirche verräumlichte diese auf denkbar imposante Weise.
Und plötzlich ergab alles Sinn: Alle Formen, die die Songs bisher angenommen hatten, mussten zwangsläufig auf die neuen Fassungen hinauslaufen. Die ganzen Alben und EPs waren nur eine Vorbereitung des Berliner Konzerts. Die gesamte Musikgeschichte von Klassik bis Kraut dient bloß als begrifflicher Kontext für diesen Abend. Und die Passionskirche kann nur zu dem einen Zweck errichtet worden sein, sich von Hundreds einnehmen zu lassen. Das mit den Erscheinungen mag nun so ein Kirchending sein. Dennoch habe ich lange kein so einnehmendes und lang nachwirkendes Konzert besucht.
Jede Band hat mal ein Album gemacht, mit dem sie ihren Sound definierten. Bei Locas in Love heißt es Saurus und hat zum zehnjährigen Jubiläum ein Reissue bekommen.
Zu ihrem zweiten Album Saurus ließen Locas in Love einen Rezensions-Generator programmieren. Wie könnte ich der Platte also besser gerecht werden, als davon Gebrauch zu machen und anschließend einen entspannten Feierabend zu genießen? Das klänge dann so:
„Locas In Love sind ja besonders unter ihren Kollegen hoch angesehen, aber nun melden sie sich mit ihrem zweiten Silberling zurück. Durchwachsen, weil orientierungslos präsentiert uns die Truppe um Björn Sonneberg Saurus (Sitzer/Virgin/EMI). Dabei gehen sie mit ehrlichen, unverkrampften Aussagen, die mitnichten honigsüß daherkommen zu Werke (…)“
Der Rest des Rezensionsgenerators ist ebenfalls Teil der Jubiläumsedition zum zehnjährigen Erscheinen von Saurus, genauso wie ein Haufen an weiteren Extras wie z. B. ein Songbook mit Akkorden zum Nachspielen der Lieder und einer genauen Entstehungsgeschichte des Albums voller Bilder, Texten und Zeitdokumenten, die erzählen wie das damals so war in den 2000ern Musik zu machen.
Und die Songs? Wenn ein typischer Locas-in-Love-Sound existiert, dann gibt es wohl kaum ein Lied, das ihn besser vorführt als der Saurus-Opener „Sachen“.
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Aus dem Intro klingt die Strokes-Ära heraus, die sich gerade auf dem Zenit befand. Dieser Sound kommt nicht von ungefähr, denn das Album wurde von Peter Katis abgemischt, der schon den Indie-Rock Sound von The National, Interpol und The War on Drugs am Mischpult geformt hat. Zu den warm klingenden Gitarrenbendings singt Björn Sonnenberg über ein Treffen mit einem alten Bekannten. Es entspinnt sich ein Text zwischen WG-Küchengespräch und kritischer Selbstbeobachtung. So geht es auch in den ersten Refrain:
„Aber du kennst das ja selber/ und weißt ja wie du bist / wie es sich anfühlt, wenn man immer / so beschäftigt ist, mit Verpflichtungen, Erledigungen / und Freiwilligkeiten und Dingen / und den Fokus verliert / wir können ein Lied davon singen.“
Mit kurzen energetischen Ausbrüchen in der Bridge und einer lauter werdenden Soundwand gegen Ende, vereint der Song alle Elemente, die Indie-Rock gut gemacht haben. Doch die große Popkunst entfaltet die Band mit „Mabuse“. Über die eingängige – verdächtig an Sweet Jane von Velvet Underground erinnernde – Akkordfolge singt Bassistin Stefanie Schrank mit betont naiver Stimme einen Refrain, der die sanft plätschernden Akkorde konterkariert:
„Den Bankier bedroht, den Politiker entführt / Polizist k.o. geschlagen er hat kaum was gespürt / Mit meiner Handschrift, die Forderung geschrieben / dieses verdammte Deutschland hat mich dazu getrieben.“
Beim zweiten Durchlauf wird sie dabei noch von einem Kinderchor unterstützt und gemeinsam treiben sie den Kontrast auf die Spitze. Abgesehen von diesen beiden besten, versammelt Saurus eine Mischung an albernen, ernsten, traurigen und optimistischen Songs, die auch an ihrem zehnten Geburtstag noch eine emotionale und musikalische Wucht entfalten, die in der hiesigen Popmusik oft ihresgleichen sucht.
Was macht Albrecht Schrader eigentlich, wenn er nicht das Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld im Neo Magazin Royale leitet? Sein exzentrisches Debütalbum gibt Aufschluss.
Wie locker aus der Hüfte geschossen kommt Albrecht Schraders erstes eigenes Album Nichtsdestotrotzdem daher, das am 5. Mai erscheinen soll. Das ist fetzige Pop-Musik, die mal schräg, mal selbstironisch, aber stets schlicht, subtil und wirksam den Widersprüchen und Brüchen unseres Zeitgeistes auf der Spur ist, ohne in abstrakte Höhen zu steigen oder mit dem moralisch erhobenen Zeigefinger die besungenen Missstände zu kritisieren.
Zehn Songs befinden sich auf dem Album. Dazu gehören je ein instrumentelles Intro und Outro, das den Protagonisten Peter zum Inhalt hat, dessen desolater Zustand auch Teil der Songs ist, wodurch jener Peter als pars pro toto für sozial verzweifelte Charakter fungiert. Das Duett Zufrieden ahnungslos, das Schrader mit Tiana Wagner in der Mitte des Albums singt, ist dabei eine klare Zäsur im Aufbau, in dem vor Ironie nur so triefender Pathos mit metalartigen Gitarrensoli kombiniert wird, was dem Song eine bewusste Peinlichkeit verleiht.
Scheinbar emphatisch schildern die Songtexte in einer hyperbolischen und teilweise assoziativen Art die vermeintliche Nutz- und Formlosigkeit des menschlichen Daseins. Besonders im titelgebenden Song werden locker, unverkrampft und wie nebenbei der islamistische Terrorismus und Eurovision Song Contest in einer Aufzählung willkürlich nebeneinander gesetzt. Das postmoderne Ich verliert damit nicht nur jegliche soziale Struktur und Verortung, es fließt auch isoliert parallel zu diesen Phänomenen, ohne die Möglichkeit Einfluss die „Katastrophen“ zu nehmen. Garniert wird dies in mehreren Texten mit scheinbar unsinnigen, neologistischen Dopplungen.
Zwischen Metal und 80er-Pop
Zugegeben, die Texte könnten einfach nur zynisch, resigniert oder boshaft wirken, ja, soziale Missstände scheinen gar affirmativ. Im Text selbst findet sich keine Form der Kritik oder Unterscheidung. Durch den einzigartigen Stil von Schraders Gesang und instrumenteller Musik wird dies jedoch untergraben. Eine übertrieben lustig wirkende Sopranstimme, elektronische Soundmittel aus dem 80er-Pop, wie dem altmodischen DX7-Sound, die jeden Schlagersong noch überspitzen, und eine rhythmisch angelegte Gitarrenschraffur wirken aufeinander und setzen klare Stör-Akzente. So wird eine musikalische Entfremdung zum Text erzeugt.
Eigentlich Unvereinbares wird also nicht nur sprachlich kommuniziert, sondern vom Sound und dem einfachen Klangspektrum stilistisch noch übertroffen. Auch wenn die Lieder in ihrer Machart sehr authentisch wirken, so beinhalten sie doch beabsichtigte und sehr eigenwillige Brüche. Die Ambivalenzen und Widersprüche unseres sozialen Lebens werden damit dezent und subtil in Szene gesetzt, Inhalt und Form widersprechen sich in krasser und faszinierender Form. Das ist emphatischer und exzentrischer Pop, eine Musik der puren, improvisierten und unnatürlichen Unstimmigkeit.
Zugegeben, das mag für den Hörer zunächst gewöhnungsbedürftig sein, aber Schraders schräg klingende Musik ist kein seichtes Plätschern des Pop-Mainstreams, sondern die textuell-musikalische Verwirklichung der Konfrontation, Neukombination und Verfremdung, mit den Mitteln des Alternative Pop. Wer sich nach einigen Songs erst einmal damit angefreundet hat, wird noch mehr Alben wollen.
Levin Goes Lightly vereint prägnante elektronische Klänge aus der Vergangenheit und beamt sie mit dem neuen Album in das Jahr 2017. Riecht das nicht nach nostalgischem Abklatsch? Werfen wir doch mal einen Blick zwischen die Zeilen.
„Du, Ich und die Anderen. Überall klaffen Lücken auf. Lücken in der Gesellschaft. Die Lücke zwischen meinen Vorderzähnen. Lücken zwischen digital und analog. Lücken zwischen Dir und mir und den anderen.“, sagt Levin Goes Lightly zu seinem morgen erscheinenden Album GA PS (Staatsakt). Was zuerst nach einer beiläufigen Beobachtung klingt, entpuppt sich nach einer gewissen Einwirkzeit zu einer ungeklärten Leerstelle im Zeitalter der digitalen Vernetzung.
Während Kraftwerk ihrer Zeit die Lobpreisung der Technik verkörperten, liefert Levin Goes Lightly einen psychedelisch dream-poppigen, doch ernüchterten Gegenentwurf: Bluescreen statt blauer Himmel – das Schicksal der „digital natives“, die von einer diffusen Depression eingeholt werden?
Die Grundstimmung des Albums lässt sich ohne weiteres in das melancholische Spektrum einordnen; so bereits der Vorgänger Neo Romantic (2015), der sich zugleich als schillernde, tanzbare Hommage melange an Wave-Bands erweist. Hier können die musikalischen Einflüsse noch konkreter lokalisiert werden (Joy Division, Fad Gadget, The XX) als auf dem weniger barocken GA PS, in dem sich die Lo-Fi Sounds behäbiger und linearer verquicken.
In O’Neill reihen sich Glamrock Riffs zu den elektronischen Elementen wie Perlen auf einer Schnur und gehen Hand in Hand mit den Lyrics, die Kraftwerk für die Vogue hätten schreiben können.
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Wenn man LGL hört, hört man neben Fad Gadget und Kraftwerk auch ein bisschen Tycho, David Bowie und The Sisters Of Mercy. Subtile Bezüge, die eher entdeckt werden als sich aufdrängen wollen – und genau das macht GA PS zu einem Geheimtipp.
Einerseits: Wenn jemand oder etwas fehlt, entsteht nicht nur eine Lücke, sondern auch Schmerz. Diese aufgefächerte Thematik zieht sich als inhaltlicher roter Faden durch das Album. Andererseits: „Riss, Bruch und Lücke machen das Erotische aus“, schreibt Byung-Chul Han in seiner Monografie Die Errettung des Schönen. Das wäre vielleicht eine gute Lektüre zum Album!
Als geheimnisvolle Ikone hat inzwischen auch die Popkultur das Potenzial des Prager Dichters Franz Kafka für sich erkannt und verwertet ihn vielfach. Das scheint Kafka einerseits hipper und einem breiten Publikum zugänglich zu machen, aber vereinfachen und entpolitisieren Popkulturen nicht sein Werk?
Was war Ihr Kafka-Moment, als Sie das erste Mal auf den Schriftsteller Franz Kafka stießen? Jeder Fan erinnert sich noch an das erste Mal. Bei mir war es „In der Strafkolonie“ bei einem Deutschlehrer, der den Prager Autor sozialistisch auslegen wollte. Ich war sofort süchtig nach seinen parabolischen Chiffretexten. Kafka ist eine Kultfigur, ein Schriftsteller des Grotesken, des Resignativen. Als geheimnisvolle Ikone hat auch die Popkultur sein Potenzial erkannt und verwertet ihn inzwischen auf breiter Basis. Den Kafka-Biographen Rainer Stach überrascht diese Beliebtheit nicht. Die Figuren Kafkas seien leicht erkennbar, bildeten ein charakteristisches Bildarsenal, das als Werbelogo taugen würde, und sie seien durch ihre Rätselhaftigkeit faszinierend. Zudem haben seine Texte eine Schockwirkung, die subversive popkulturelle Strömungen gerne aufgreifen. „Das wird allerdings gegenüber dem Original oft mit Verlusten an Bedeutungsdimensionen bezahlt“, sagt Stach.
Kafka in der Musik, Kafka als Comic
Etwa erfreut sich Kafka in der Popmusik einiger Beliebtheit. Die Band Blumfeld ist nach einem seiner Protagonisten benannt, und die deutsche Band Tocotronic bezieht sich in ihren Song „Stürmt das Schloss“ auf den Roman „Das Schloß“. Doch hier zeigt sich, dass die Resignation und der kafkaeske Wille des Individuums, lieber zum undurchschaubaren Kreis der Schlossbewohner zu gehören, zugunsten rebellischer Appelle aufgegeben werden. Kafka, so ein Tagebucheintrag von ihm, wollte lieber innerhalb eines Systems unterdrückt werden, als in einer einschließenden Ausschließung davorzustehen. Vielleicht bietet er sich auch deswegen für subversive Popkulturen an: Sie kritisieren auch die Gesellschaft, degenerieren aber oft von Kult- zu Werbeikonen oder werden gar zu kapitalistischen Unternehmern, bleiben also systemimmanent, ohne das Paradox jedoch, wie der verzweifelte Kafka, offenzulegen.
Näher an der Literatur sind Comics. Besonders der Knesebeck Verlag veröffentlicht viele Comic-Adaptionen des Kafkaschen Œuvres, wie „Der Proceß“, „Das Schloß“, „In der Strafkolonie“ oder „Die Verwandlung“. Ihr Lektor Marc Schmidt erklärt, warum: „Kafkas Texte evozieren Bilder und Ideen, die eine große Inspiration für Zeichner sind.“ Seine Stücke seien schwer und dunkel, ein Comic biete einer breiten Leserschaft einen leichteren Zugang. „Und Fans können das jeweilige Werk mit einem neuen Blickwinkel lesen.“
David Zane Mairowitz hat die Texte zu einigen der Graphic Novels zusammengestellt. Ihm zufolge biete sich Kafka durch seine bildhafte Sprache für eine Adaption an. „Ein Mann wacht auf und entdeckt, dass er sich über Nacht in ein Ungeziefer verwandelt hat. Ist das nicht schon ein Comic?“, fragt er. Aber auch er gibt zu, dass durch Adaptionen der Inhalt verändert werde. So lässt er den „Proceß“, anders als den Roman, an konkreten Orten in Prag spielen, und die Zeichnerin Chantal Montellier lässt den Protagonisten Joseph K. wie Kafka aussehen, was eine eher autobiographische Interpretation nahelegt. Neben den Kürzungen im Originaltext fließen auch mal Anglizismen ein, oder es werden durch zusätzliche Kommentare der Protagonisten Deutungen aufgedrängt, wo Kafka offen bleibt. „Die Comics haben nicht die Tiefe der Schriften und können sie nie imitieren“, räumt Mairowitz ein.
Er war auch der Kurator einer Wanderausstellung zu Kafka im Comic, die den Schriftsteller als Humoristen zeigen soll und damit die Vielschichtigkeit, des sonst immer so düster interpretieren Kafkas unterstreicht. „K: KafKa in KomiKs“ hieß die inzwischen beendete Ausstellung.
Jaromir 99 hat die Zeichnungen für den Comic „Das Schloß“ angefertigt. Seine Zeichnungen sind düster, kantig, grotesk und vieldeutig. Er sieht kein Problem in einer solchen popkulturellen Übertragung. „Die Ambiguität von Kafkas Werk ist ein reicher Fundus für alle Sorten von Adaptionen“, sagt Jaromir 99, „man kann kaum falsch liegen, wenn die Interpretationsmöglichkeiten so breit sind“. Die Literatur Kafkas könne qualitativ dabei nicht erreicht werden, aber im Comic kann, so glaubt er tatsächlich, die Atmosphäre plastischer geschildert werden. Atmosphäre statt literarischer Brillanz?
Im Kafkatheater
Teilweise anders als bei Comics oder Musik verhält es sich aber bei Theateradaptionen. So hat der Regisseur Jan Philipp Gloger am Hessischen Staatstheater Wiesbaden in dieser Spielzeit mit dem Stück „Kafka/Heimkehr“ eine Collage aus Kafkatexten kreiert und mit drei Kafkadarstellern und einem Vaterdarsteller vielgefeiert auf die Bühne gebracht. Zwar liegt damit der Fokus auch auf den autobiographischen Vater-Sohn-Konflikt, dennoch finden darüber hinaus auch ausdrucksstarke Mechanismen der Unterdrückung, Bedrohliches und die Minderwertigkeitskomplexe der Protagonisten ihren Platz. Das wird durch ein surreales Bühnenbild unterstrichen, in dem eine altmodische Wohnungseinrichtung mit einem Stuhlberg kombiniert wird, der beispielsweise als Bau, aus der gleichnamigen Erzählung, fungiert.
Für den niederländischen Regisseur Jakob Ahlbom sind die Unterdrückung und das Anderssein die Hauptaspekte in Kafkas Werk. Irgendetwas an einem ist anders, und schon folgen Exklusion und Unterdrückung, ob nun durch staatlich-bürokratische, sozial-familiäre oder metaphysische Instanzen. So hat er Kafka auch in seiner Proceß-Inszenierung im Staatstheater Mainz in der vergangenen Spielzeit adaptiert. Hier wird Joseph K., der aus unerfindlichen Gründen angeklagt wird, der Andere, der aus einem System blonder, maskierter, gleich aussehender und in einem totalitären System agierender Subjekte optisch hervorsticht, indem er dunkle Haare bekommt und als einziger keine Maske trägt. „K. wird angeklagt und steht damit außerhalb einer vermeintlichen harmonischen Gesellschaft, die sich selbst wiederholt“, erklärt Ahlbom seinen Ansatz. Leider kürzt er den Text stark, besetzt neun Schauspieler mit 20 Rollen und bringt den Roman in knapp zwei Stunden durch.
Vielleicht sei dies zu vereinfachend, gibt auch Ahlbom zu, wobei sein Fokus auf den Problemen sozialer zwischenmenschlicher Beziehungen liege. Er glaubt, indem man ein Buch adaptiere, zumal wenn es ein so spannendes sei, könne man neue, wenn auch eingeschränkte Blickwinkel auf den Roman eröffnen, und zwar für ein breiteres Publikum.
Wiedergeburt als Ikone
Kafka, der zu Lebzeiten nur einen sehr kleinen Kreis an Lesern hatte, ist heute so eine präsente Figur, dass er auf verschiedenste Arten ein solches breites Publikum erreicht und zu ungeahnter Popularität kommt. Denn Kafka erfüllt in seinem Werk voll und ganz den eigenen Anspruch an ein Buch, nämlich, dass es als Axt fungieren müsse, für das gefrorene Meer im Inneren des Lesers. Was ihm gelingt, funktioniert bei popkulturellen, vereinfachten Adaptionen aber nicht ganz: Manche, wie Gloger oder Ahlbom, haben seine Werke teils aufrüttelnd im Theater adaptiert, ohne zu konkret zu werden und die Vieldeutigkeit Kafkas zu reduzieren, was bei Comic oder Film, sind sie zu detailliert oder abgewandelt, nicht mehr funktioniert. Die Popmusik versucht ihn eher zu instrumentalisieren, etwa als mythisch-ikonischen Rebell.
Daraus ergibt sich eine kulturkritische Dialektik. Zum einen ist es immer begrüßenswert, wenn ein breites Publikum zu Franz Kafka findet, und dadurch Zugänge zu schwieriger Literatur über Repression und Exklusion geschaffen werden. Zum anderen wird man aber dem Literaturkomplex Kafkas kaum gerecht, wenn man ihn kulturindustriell zur Pop- oder gar Werbeikone stilisiert, um ihn zu instrumentalisieren oder leichter verdaulich zu machen und ihn damit auf wenige Aspekte reduziert: etwa indem man das Politische zugunsten des besonders beliebten (weil von der Interpretation her am einfachsten) Autobiographischen auslässt oder das Judentum in seinem Werk zugunsten seiner Rechtskritik ignoriert. Denn all diese Aspekte kulminieren bei Kafkas Texten nahezu gleichberechtigt.
Was passiert eigentlich mit dem guten alten Diskurspop, wenn ein Teil des Pop-Diskurses gar nicht mehr für Menschen schreibt, sondern für Algorithmen? Das neue Trümmer-Album Interzone für seinen Teil klingt, als würde der Online-Journalismus wieder von der Musik aus zurückschwappen, die er beschreibt, und rechnet auf subtile Weise brutal mit seinen Kritiker٭innen ab.
Als Trümmer die Interzone betraten, kam das bisher spannendste deutschsprachige Indie-Album dieses Jahres dabei heraus. Es ist weder subversiv noch eskapistisch, geht aber mit Bestimmtheit in eine Richtung, die Trümmer schon vor ein paar Jahren eingeschlagen haben. Wie auf ihrem selftitled-Debüt Trümmer setzen sie dabei vor allem auf eines: intuitive Texte. Teilweise so intuitiv, dass es weh tut. Musikalisch hingegen lösen sie, mittlerweile zu viert, das Versprechen ihrer ersten Platte ein und klingen gereift und besonnener. So zusammengewürfelt, wie ihre Bandmitglieder wirken, ist auch ihre gemeinsame Musik schwer zu fassen, da sie in einigen Teilen sehr originär ist, in anderen doch auch jede Menge abruft. Vielleicht lässt sich zunächst über das Erbe, das Trümmer antreten, ein Zugang zur Platte gewinnen.
Die diskursive Hamburg-Tradition
Bisweilen wird die Band ja der Hamburger Schule zugeordnet, was sie selbst schon aufgrund des Generationsunterschieds zurückweisen. Denn Hamburger Schule, das waren doch ein paar Bands der 90er und 2000er, eine offene Gemeinschaft von Sängern, denen das Geschichtenerzählen und Kodieren von Inhalten wichtiger ist als ihr Gesangsstil, umgeben von ein paar Musikern, die gern britische Bands aus den 80ern hören, ihre Einflüsse musikalisch nachvollziehen wollen und dabei in neue Kontexte transportieren. Oftmals kommt dabei Musik heraus, die sich selbst verortet, sei es musikalisch durch übertragene Motive und Sounds, oder textlich, wenn sich Motive zu Slogans bündeln, die eine bestimmte Szene ansprechen sollen und die Musik so selbst zum Teil der Szene werden lässt. Viele der Bands liefern die kulturelle Einordnung ihrer Musik gleich in derselben mit, was die diskursiven Tendenzen des Genres ausmacht und sie oftmals bei Kritiker٭innen aufgrund der offenen Kommunikation gut wegkommen lässt.
Dass Hamburger Schule und Diskurspop überhaupt noch Maßstäbe sind, nach denen eine junge Band wie Trümmer bewertet wird, haben sie sich großteils selbst zuzuschreiben, nicht nur, weil sie in Hamburg wohnen. Bereits der Titel ihrer Platte Interzone ist diskursiv und wurde von der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung von William S. Burroughs übernommen, der ja bereits zu Lebzeiten eine Ikone der Popkultur war. Auch ihr Sound, der sich immer wieder zu einem melancholischen Gitarrenpop-Tanz öffnet, kommt sicher auch nicht vor 80er-Bands wie Joy Division und Sonic Youth zurück. Aber Trümmer nehmen die Richtung, aus der sie kommen, auch mit auf völlig neue Wege. Es ist fraglich, ob Joy Division sich mit ihrem Erbe anfreunden könnten, unfraglich ist jedoch, dass sie auf Interzone einmal mehr in einen neuen Zeitgeist geworfen werden. Denn entgegen der Hamburger Tradition setzen Trümmer keineswegs auf kryptische Ausdrücke oder Slogans. Sie begegnen den immer gleichen Themen der Popkultur auf andere Weise und markieren dabei eine Veränderung der Sprache, die so seltsam vertraut ist, obwohl sie dem Deutsch-Indie bisher weitgehend fremd war.
Zertrümmerte Texte?
Die reflexive Verortung geschieht bei Trümmer assoziativer. Sie saugen bestimmte Themengebiete auf, formen sie jedoch nicht zu Slogans, sondern übernehmen eher die damit verbundenen Wortfelder und formen sie zu Stimmungsbildern. Dabei entstehen teilweise schrille Collagen, in denen es kein Narrativ ist, das unterschiedliche Ausdrücke miteinander verbindet, sondern manchmal vielleicht einfach bloß ihr Klang. Ein Beispiel ist Nitroglyzerin:
Mein Herz pocht schneller, schneller
Wir sind somewhere in between
Die Sterne leuchten heller, heller,
Wir sind Nitroglyzerin
Unsere Augen sind wie schwarze Teller
Die Welt ist schnell, doch wir sind viel viel schneller
Alles ist so verdammt komplex,
Komm wir machen lieber Love
Trümmer – Nitroglyzerin
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Trümmer fassen in ihren Texten einen gewissen Mut zur Direktheit, der es schafft, diverse Themen abzudecken, ohne sie wirklich jemals anzusprechen. Sie richten die Aufmerksamkeit weg von den Gesamtkontexten hin zu einzelnen Phrasen und Wörtern. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind solche veralteten Spielereien wie strukturierte Versmaße, abwechslungsreiche Reimschemen und 98 Prozent des Rhetorische-Mittel-Repertoires. Ihre Texte bilden teilweise eher ein fast panisches Gehangel zwischen Wörtern, die sie interessant finden. Die resultierenden Melodien sind flüchtige Erscheinungen. Bereits auf ihrem Debütalbum hat das brutale Ausmaße angenommen:
Ich singe ein Lied und es handelt von uns
Eine Melodie, die niemals verstummt
Wir verlassen den Alltag und das falsche Spektakel
Denn wir sind viel schöner als das ganze Debakel
Die Türen und Fenster öffnen sich
Und die Morgensonne fällt auf dein Gesicht
Wir verlangen vom Leben, dass es uns gehört
Und wir fangen einfach auf, was in der Luft rumschwirrt.
Trümmer – Morgensonne
Interessante Wortfelder werden hier leer aneinandergereiht und finden assoziativ zueinander (Alltag-Falschheit // Spektakel-Schönheit // Ganzheit-Debakel // Leben-Einfachheit), womit der Text sehr wohl Gefühle transportieren oder Bilder auslösen kann. Aber die Schlagwörter wie “Spektakel” und “Debakel” scheinen doch eher ihres ähnlichen Klanges als ihrer Bedeutung wegen ihren Weg in den Text gefunden zu haben. Und als Freund der nunmehr alt wirkenden Hamburger Schule hat man wirklich eine schlechte Zeit auf den Konzerten. “Er hat Spektakel ins Mikro gebrüllt. Jetzt nuschelt er etwas. Bitte jetzt nicht Debakel brüllen. Nicht Debakel. O, Debakel, natürlich. Sich – Gesicht. Cool.“
Gleich der Eröffnungstrack von Interzone setzt diese Form des Songwritings fort:
Wir sind die Kinder, vor denen uns die Eltern warnten
Wir explodieren in den allerschönsten Farben
Wir sind die Kinder, vor denen uns die Eltern warnten
Und wir eskalieren in den allerschönsten Phasen
Trümmer – Wir explodieren
Der Text ist nicht nur assoziativ oder intuitiv, sondern naiv, aber auch mutig: Denn aus Liebe zur Schönheit des Wortes wird die Hässlichkeit des Textes in Kauf genommen. Nicht, dass Bands wie Element of Crime oder Tomte für saubere Reime stehen. Aber woran es bei Trümmer fehlt, ist die Ironie. Da steht kein alter weiser Mann mit nordischem Akzent und einer Trompete unter dem Arm auf der Bühne, von dem schon drei Romane erschienen sind – einer, bei dem man, wenn er etwas nicht kann, denkt, er will es bloß nicht. Sondern ein enthusiastischer Marty McFly-Verschnitt, der mit seinem selbstbewussten Auftritt vielmehr eine Art Welpenschutz geltend zu machen scheint. Trümmers Frontmann Paul Pötsch erreicht seine Präsenz nicht durch Charisma, sondern durch Enthusiasmus. Seine Entschlossenheit, die er mit seinen drei Mitmusikern teilt, baut den Texten einen so stringenten Rahmen, dass man sich fragen könnte, ob die Band hier wirklich schlicht so kühn ist, schlechte Songtexte als bewusstes Stilmittel einzusetzen. Sie könnten doch vielleicht besser auf Englisch singen, wenn sie nichts zu sagen haben, möchte man ihnen raten. Aber so simpel ist es auch wieder nicht.
Sie haben nicht nichts zu sagen, sondern suchen bloß in einem weitgehend ins Abstrakte entglittenen Genre nach neuen Ausdrucksformen, und die finden sich dort, wo Popkultur momentan vor allem stattfindet: in Sozialen Medien. Damit schaffen sie es, gerade noch von alten Freund٭innen der Hamburger Schule verstanden zu werden, aber lassen diese sich auch ziemlich alt und konservativ fühlen, da denen der Zugang zu einem Verständnis fehlt, warum man diese Sprache in Songtexten benutzen sollte. Aber sie schaffen vor allem auch einem neuen Publikum Zugang. Und ein Gutes hat dieses schlagwortbasiertes Schreiben ja ganz augenscheinlich. Es vereinfacht die Öffentlichkeitsarbeit. Da reicht dann ein Facebook-Post mit dem Inhalt „euphorie + pisse = amore“ und jede٭r weiß Bescheid, was passiert – zumindest alle, Bescheid wissen sollen.
Quelle: Facebook
Sie verorten sich damit nicht bloß nur in einer fast schon nostalgisch wirkenden Kultur von Freund٭innen melancholischen Indie-Rocks, sondern auf der Höhe der Social-Media-Kultur, die momentan den gesellschaftlichen wie medialen popkulturellen Alltag bestimmt. Apropros Öffentlichkeitsarbeit: Ziemlich aufschlussreich an der neuen Platte ja auch der Meta-Track Grüße aus der Interzone, in dem sich die Problematik des guten Lebens auftut, das weder darin zu liegen scheint, endlich den verpassten Anschluss an die Leistungsgesellschaft zu finden („Das Leben ist ein Spiel // Ich hab leider verloren“), noch darin liegen kann, endgültig abzurutschen („Ich hab leider keine Zeit // Verzweifelt zu sein“). Gesucht wird eine neue Sphäre zwischen beiden Extremen, ein Raum zwischen anbiedern und aufgeben. Wer könnte diese Problematik glaubhafter vortragen als eine junge Band, die momentan ja einiges auf die Kunst setzt? Gefunden wird dieser Zufluchtsort in: einer Kneipe.
Was im Song nach einer unbestimmten transzendentalen Ausflucht klingt („Ich schick dir Grüße aus der Interzone“), wird mit etwas Kontextwissen ziemlich konkret und profan. Denn Trümmer haben im Zuge ihres Album-Releases tatsächlich eine Kneipe eröffnet – die Interzone-Bar, die das Hamburger Nachtleben in den letzten Tagen direkt mal um eine Konzertreihe bereichert hat. Wird nun in der Kneipe das Album oder im Album die Kneipe promotet? Auch wenn es ohne Frage ein guter Song ist, scheinen die mit ihm verfolgten Interessen außerhalb der Musik zu liegen. Ihr eigenes Konzert am Release-Tag der Platte war sogar live bei Facebook verfolgbar. Interzone in der Interzone. Das vieldimensionale simultane Kunstwerk im Jahr 2016.
Quelle: Youtube
Das Spiel mit den Erzählebenen setzt sich auf dem Album auch an anderen Stellen fort. Europa Mega Monster Rave etwa klingt erstmal nach Tokio Hotel. Nicht nur der Titel. Infantil, inhaltlich überwunden geglaubt, aber seltsam entschlossen. Der Song bedient in seinen Strophen ein paar subversive Wortfelder, drückt aber, sobald er auf den Refrain abbiegt nicht viel aus außer, dass man zu ihm sicher gut pogen kann. Aber er ist von äußeren Bedingungen eingeklammert, ist er doch der Rock-Oper Vincent entnommen, die Trümmer letztes Jahr für ein Engagement im Berliner Haus der Kulturen der Welt komponiert hatten. Dadurch wird es zum Stück im Stück und drückt vielleicht etwas für die Dramatik des Stücks Relevantes aus, das im Transfer verloren ging. Prallt also sämtliche Kritik an ihm ab? Müsste ich erst Vincent kennen, um das Europa Mega Monster Rave bewerten zu können? Aber wenn sie es nun auf der Platte präsentieren, stellen sie es doch selbst außerhalb des Erzählkontextes.
Heißt das, ich darf es auch für sich alleinstehend kritisieren? Aber müsste ich das nicht ohnehin selbst entscheiden dürfen? Und ist ein Tokio-Hotel-Vergleich eigentlich eine Beleidigung? Das ist doch schlagwortbasiertes Songwriting at it’s best. Und vielleicht macht der Song Trümmer ja international erfolgreich. Im Plattenkontext wirkt er dennoch eher störend und gibt zumindest einem seiner Hörer das Gefühl, nicht für ihn geschrieben worden zu sein. Dass die Texte an anderen Stellen eher eindimensional erscheinen, tut diesem Höreindruck keinen Abbruch, denn manche expliziten Verortungen fallen doch eher plump aus:
Lass uns unsterblich werden, bevor wir sterben,
Wie Rio Reiser von den Scherben
Trümmer – Nitroglyzerin
Die gesamten Texte der Platte erinnern an suchmaschinenoptimierte Texte, bei denen virales Potenzial wichtiger als Lesbarkeit ist, die aber eben auch nicht ganz an einer potenziellen menschlichen Leserschaft vorbeigeschrieben sein sollten. Wenn Trümmer sich textlich auf die Sprache der Onlinemedien einlassen, stellt sich die Frage, wie es denn um das Sprachniveau in Onlinemedien steht? Dass dieser Artikel digital veröffentlicht wird, erlaubt eine Introspektion.
Der SEO-Turn
Nach dem prägnanten Teaser, der alles andeutet und nichts aussagt und vielleicht für den Klick auf diesen Artikel verantwortlich ist, tauchte im ersten Textabsatz dieses Textes viermal das Wort Trümmer auf, weil dem Verfasser selbiges von einem SEO-Tool empfohlen wurde, das mit eigenen Algorithmen die Algorithmen von Suchmaschinen berechnet. Damit Google weiß, dass es in diesem Artikel um die Band Trümmer geht und dieser Text in all seiner Seltsamkeit möglichst weit oben erscheint, wenn jemand was über Trümmer und Interzone lesen will. Außerdem tauchen die Begriffe „subversiv“ und „eskapistisch“ auf, die gemeinsam die Skala bilden, auf der momentan fast alle Bands bewertet werden, die jedoch im Falle Trümmers im Grunde keine Rolle spielen. Aber sollte jemand einen der Begriffe zusammen mit Trümmer googeln, ist dieser Artikel hoffentlich am Start. Leser٭in und Verfasser werden also schon rein sprachlich durch zwei Algorithmenmaschinen voneinander getrennt. Vielleicht ist diese Textstelle ja sogar noch weit genug oben, um eine Schlagwortblase mit beliebten falschen Schreibweisen des Bandnamen zu präsentieren, damit auch hastig tippenden Leser٭innen diese Seite nicht verwehrt bleibt.
Und “Trümmre” (persönlicher Favorit) nicht zu vergessen. Wobei solche Schlagwortblasen bei Leser٭innen schon wieder als relativ störend empfunden werden und man sie sich ja nicht dauerhaft vergraulen will. Ständige Wiederholungen von Schlüsselworten sind da subtiler. Die Einleitung las sich doch fast, als wäre sie für Menschen geschrieben. Je weiter nach unten dieser Text nun fortschreitet, desto egaler werden die Algorithmen. So richtig wichtig sind sie ohnehin nicht, da sich dieser Artikel sich auf einer nach wie vor non-kommerziellen Freizeitseite befindet.
Wichtig für das Ranking sind auch Schlagworte in Zwischenüberschriften. Trümmer. Interzone. Scheiße.
Romantisch fällt der Blick zurück auf die Zeit, als Artikel noch von Menschen für Menschen geschrieben wurden, falls es diese idealisierte Kommunikationsform jemals gab. Herrscht hier nun ein Sprachverfall vor? Die Sprache hat an Direktheit und Unabhängigkeit eingebüßt. Wer beides beim Schreiben für Ideale hält, macht sich in digitalen Zeiten auch schnell unabhängig vom Publikum, das buchstäblich keinen Zugang mehr findet. Herrscht denn umgekehrt ein Fortschritt vor? Es scheint doch eine Errungenschaft der Sprache zu sein, aus sich selbst heraus die Reichweite der vermittelten Information festzulegen. Schade ist bloß, dass sie dazu auf einen kommerziellen und undurchsichtigen Apparat zurückgreifen muss, der selbst außerhalb der Sprache steht.
Zusätzliche Mittlungsapparate mit eigenen sprachlichen Gesetzen bilden die Sozialen Netzwerke. Facebook etwa ist selbst für Slogans zu schnell geworden, sondern machte erst den pictorial-, dann den Emoji-Turn mit, um immer multimedialere Ausdrucksformen anbieten und bedienen zu können. Eine Herausforderung des Online-Journalismus ist es ohne Frage, immer aktuell zu sein, und oftmals schon zum finanziellen Selbsterhalt auf die aktuellen Schlagwörter und Hashtags zu ranken, also auf die sich massiv verbreitenden Sprachwandel des Internets zu reagieren, ohne die Stammleserschaft zu vergraulen, was oftmals zu sarkastischen Facebookposts führt, die offen für verschiedene Lesarten sind. Denn im Facebook eine Rolle spielen zu wollen, bedeutet schon, selbst bei der Popkultur mitmachen zu müssen. Durch ein ironisierendes Aufgreifen von Jugendbegriffen in Posts oder Artikeln werden diese nur umso mehr verbreitet. Dieses Dilemma der Popkulturkritiker٭innen hauen ihnen Trümmer, auf die schon aus Zwecken der Suchmaschinenfreundlichkeit mal wieder zurückgekommen werden sollte, nun um die Ohren, wenn sie so etwas singen wie:
Wir sind Dandys im Nebel
Keiner weiß, was wir tun
Wir sind Dandys im Nebel
Wir haben den Swag im Blut
Trümmer – Dandys im Nebel
Wie die einen sich verpflichten, die selbstverständliche Verwendung bestimmter nicht-ignorierbarer Phrasen durch Ironisierung zumindest ein Stückweit kritisch betrachten zu können, während sie selbst in der Popkultur gefangen sind, verpflichten Trümmer sich, es wieder ernst zu meinen. Dandys im Nebel ist ein melancholischer Song. Denn sie sind eben der nicht-ironische Teil der Popkultur, über die die anderen schreiben. Und Diskurspop verortet sich nunmal selbst.
Aus der immer stärkeren Vereinsamung der٭des Lesenden zwischen den Maschinen des Internets wird bei Trümmer eine Einsamkeit der٭des Hörerenden im offenen Verbund unzusammengehöriger Phrasen. Es ist nicht nur die vierte Wand der Rock-Oper, die einen Zugang zum Europa Mega Monster Rave erschwert. Die Wand liegt eher in der vermittelnden Distanz einer in sich selbst bereits digitalisierten Kommunikation und in der Herausforderung, zum Erschließen der Texte mit der Geschwindigkeit von Social-Media-Trends mithalten können zu müssen und zu wollen, was Trümmer selbst nur auf Kosten sinnvoller Textstrukturen gelingt. Die alte Herausforderung des Diskurspops, sich über die Musik hinaus umfassend mit der Popkultur beschäftigen zu müssen, um mitzuhalten, erreicht hier eine neue Dimension.
Vom Wesen eines Popsongs
Nun könnte man Trümmer womöglich vorwerfen, mit der Art, wie sie Texte schreiben, ein wesentliches Element ihres Genre zu zerstören, nämlich die Errungenschaften der poetischen Tradition. Aber liegt darin wirklich ihr Wesen? Die Bands der Hamburger Schule haben den Eindruck erweckt, es ginge nur um Texte bei dem Ganzen. Und ihre Texte waren so einnehmend, dass bisweilen kaum noch auffiel, was um sie herum passiert. Dass Kettcar musikalisch dem Mainstreampop gar nicht so fern sind wie ihre Texte vermuten lassen. Dass Tomte fast immer dieselben Sounds benutzen und ihre Songs nachlässig arrangiert und produziert sind. Dass Tocotronic sich überhaupt erst auf ihre alten Tage Gedanken über ihren Sound gemacht zu haben scheinen und man auf frühen Konzerten Glück haben musste, um ihre Texte überhaupt zu verstehen.
Denn so provokant sie sind, sind Trümmers Texte doch nicht so einnehmend, dass sie darüber hinwegtäuschen könnten, dass bei Interzone ebenfalls eine musikalisch anspruchsvolle und sorgfältig aufgenommene Platte herausgekommen ist. Zwei rifffreudige Gitarristen, ein versierter Schlagzeuger, ein Bassist mit Sinn für Melodien schaffen einen dezenten, funkigen Post-Pop bis Post-Punk, der zu jedem Zeitpunkt hinter den zwar aufwühlenden, aber doch nicht allzu prägnanten Texten voluminös durchdringt. Es stellt sich die Frage, ob sie damit nicht wieder bei einer ursprünglicheren Version ihres Genres ankommen. Ihre Texte sind da allenfalls ein untermalendes Element, das teilweise alles gefährdet und zu Kitsch auflöst, aber dieselben Texte sind es eben auch, welche Trümmers an und für sich zeitlosen Sound mitten in den Zeitgeist schleudert und aus Interzone ein mehr als aktuelles, vielleicht wegweisendes Indie-Album macht. Wenn es im Jahr 2016 noch aktuellen deutschsprachigen Diskurspop gibt, dann machen Trümmer ihn.
“Haben Sie Beweise? Oder einen Verdacht? Ich kann mir nicht sicher sein.”
Das Auslassen von Informationen hat sich, wie wir ja bereits wissen, als wertvolles Stilmittel der postmodernen Literatur erwiesen, das seine Leserinnen und Leser auffordert, selbst zu Kunstschaffenden zu werden. So gibt es zum Beispiel Kafkas Buch Der Prozess strenggenommen in drei Versionen. Als Buch über den Gerichtsprozess einer Person, die schuldig ist, als Buch über den Gerichtsprozess einer Person, die nicht schuldig ist, als Buch über den Gerichtsprozess einer Person, die nicht weiß, ob sie schuldig ist. Und alle drei Bücher sind bis auf den letzten Buchstaben identisch. Den Unterschied machen Leerstellen.
Zwar haben auch die geschriebenen Passagen einen starken Eigenwert, aber was es besonders macht: Wir sind es schlicht und einfach nicht gewohnt, einen Gerichtsprozess erzählt zu bekommen, ohne etwas über die verhandelte Tat zu erfahren. Zumal aus Sicht des Angeklagten. Und seien es auch nur Indizien. Uns fehlt Wissen darüber, was wir für das Nötigste halten. Leerstellen können also als Auslassungen konventioneller Erzählelemente erfasst werden. Dazu zählen auch innerhalb von Erzählungen unvermittelt aufeinanderstoßende Textsegmente, wie sie ebenfalls von Kafka eingesetzt werden.
Musik und Leerstellen
Wie steht es in der Musik um dieses Stilmittel? Eine Kunstform, die sich in vielen kurzen Einzelwerken ausdrückt und darin immer wieder zu knappen Erzählungen ausholt, müsste davon ja eigentlich durchfressen sein. Dennoch muss zunächst festgestellt werden, dass Leerstellen nicht in jeder Musikrichtung vorkommen und sie vor der Moderne scheinbar überhaupt keine Rolle gespielt haben: Sinfonien und Opern sind in sich geschlossene Werke und auch im Pop gibt es immer wieder Konzeptalben. Manche Künstler unterstellen ihr gesamtes musikalisches Schaffen einer einzigen Erzählung, wie bspw. die Band Coheed and Cambria, deren Gesamtwerk im Ganzen einen abgeschlossenen Science-Fiction-Epos ergibt.
Aber letztere sind krasse Ausnahmen. Denn nichts scheint für Künstlerinnen und Künstler des aktuellen Musikgeschäfts wichtiger zu sein, als ein einzelner, für sich allein stehender Song. Meistens ist dies ein radiofreundlicherweise zwei- bis siebenminütiges Stück, in dem ein Text über Instrumentalspuren gesungen wird. Wobei es natürlich auch die reduzierteren Varianten gibt. Dennoch liegt die am häufigsten angestrebte künstlerische Leistung aktueller Musik darin, in einem kurzen Lied etwas Konkretes so pointiert und anschaulich wie möglich mit sprachlichen und musikalischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen. Denn selbst wenn ein Lied für einen Albumkontext komponiert wird, konsumieren es viele entkontextualisiert. Auf Shuffle, in algorithmischen Playlists, in Diskos oder als Wecker-Klingelton.
Pop als Diskurs der Motive
Und tatsächlich scheinen die meisten Musikerinnen und Musiker spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts fragmentarisch zu arbeiten – wohl wissend, dass eine völlige Entkontextualisierung ihrer Werke nicht möglich ist. Denn die Popmusik als Ganzes mit all ihren Ästen von Minimal Electro bis Thrash Metal scheint einem musikalischen Gesamtkontext, einem Diskurs der Motive zu folgen. Sowohl textlich als auch musikalisch. Alles, was wir an Musik hören, ist schon in unserer musikalischen Erfahrung konnotiert, denn ohne diese Konnotationen könnten wir es wohl bloß als endliche Reihe von Geräuschen wahrnehmen. Und so erschließen wir neue Lieder und Elemente über ihre Beziehung zu den Liedern und Elementen, die wir bereits kennen.
Wenn wir Pop-Musik hören, erkennen wir sprachliche Ausdrücke wieder, aber auch musikalische Formen. Wir erwarten Reime, Refrains, Riffs und Produktionsstandards. Und erwarten von den Künstlerinnen und Künstlern, deren Kunst wir konsumieren, dass sie all das immer wieder neu erfinden und das Gewohnte mit immer neuen Motiven anreichern – weshalb wohl auch so wenige Künstler den Zeitgeist treffen.
Leerstellen als Progress?
Aber komischerweise bleibt, wenn man es so betrachtet, in der Popmusik gar nicht so viel Platz für Leerstellen, wie man meinen könnte. Denn werden wir tatsächlich mit jedem neuen Song kontextlos in eine völlig fremde Handlung geworfen, wenn es doch die immer gleichen Szenen sind, die in Popsongs beschrieben werden? Häufig gibt es Vorstöße in neue Richtungen, aber sind sie erfolgreich, folgt ihnen prompt ein ganzes Subgenre, das daran anknüpft.
Die meisten Lieder des Pop lassen sich zum Beispiel als Versuche betrachten, einen möglichst treffenden Ausdruck dafür zu finden, dass man eine Person liebt oder es nicht mehr tut, oder dafür, wie man andersherum damit umgeht, dass sie es nicht mehr tut. Sie folgen einem 900 Jahre alten Bestreben der Liebeslyrik. Textlich wird dafür nur der allernötigste Kontext hergestellt, denn es geht darum, die Universalität der besonderen Situation auszudrücken. Und in der findet man sich als entsprechend sozialisierter Hörer schnell zurecht, zumal der musikalische Kontext, in den der Text eingefasst wird, zusätzliche Orientierung bietet. Bestimmte Wendungen sind nunmal im kulturellen Gedächtnis bereits mit bestimmten Ausdrücken verbunden. Wo also bleibt in der Musik überhaupt noch Platz für Leerstellen? Für Orientierungslosigkeit?
Facetten der Avantgarde
Etwas wird Pop, wenn die Gesellschaft, für die es produziert wurde, sich darauf eingestellt hat: wenn ihr die Konnotationen verständlich sind und sie sich darin orientieren kann. Nicht-Pop wäre somit Progress. Wenn eine kunstschaffende Person offen lässt, wie ihr gesamtes Werk überhaupt zu verstehen ist, kann sie, wie Le Colmer beschrieben hat, demnach durchaus als Avantgarde verstanden werden. Das gilt für Alexander Marcus genauso wie für Dagobert oder Moneyboy. Es treten Leerstellen in den kulturellen Konnotationen ihrer Musik auf. Alle drei weisen jedoch auch eine mehr oder minder sehr deutliche Tendenz zum Trash auf. Was aber passiert, wenn eine Band, die ihren Sound gefunden hat und ihn kulturell klar verortet, textliche Leerstellen einsetzt? Wenn ihre Texte keine Orientierung bieten, sondern ihre Hörerinnen und Hörer immer wieder in Szenen wirft und aus ihnen herausreißt? Dies wäre ein Gegenentwurf zu Moneyboy, welcher selbst kein Trash ist, aber eben auch kein Pop.
Turbostaat ist eine solche Band. Sie machen, wie sie in Interviews nicht müde werden zu betonen, Deutschpunk, was ja mittlerweile ein konventionelles Genre ist, das in weiten Teilen einer ursprünglich innovativen Idee nicht mehr viel hinzufügt. Zwar gibt es nach wie vor viele gute Deutschpunkbands, die unermüdlich touren. Aber würde man auf ihren Konzerten ein Phrasenschwein aufstellen, könnte man wohl von dem Erwerb leben. So schade es ist: Die meisten Parolen nutzen ab, auch wenn sie leider immer politisch aktuell bleiben.
Der Turbostaat-Code
Was Turbostaat seit Jahren also anders machen, ist, das Genre auf seine Sprengkraft zurückzuführen. Und zwar gerade indem sie Phrasen vermeiden. Indem sie szenisch-fragmentarische Texte über ursprünglich altbekannte Punkdynamiken legen. Dass sie letztlich dann auch musikalisch ihre Texte eingeholt haben, spielt nur in ihren Plan hinein. Denn mit Turbostaat halten Leerstellen ihren Einzug in den Punk. Betrachten wir ihre Diskographie mal chronologisch:
Flamingo (2001) und Schwan (2003) sind musikalisch noch relativ unbestimmt. Von daher tragen sie recht treffliche Namen. Knüpft die Musik auf Flamingo von ihrer Produktion her eng an kochende Kellerkonzerte an, so weist Schwan durchaus abgeklärtere Tendenzen auf. Flamingo holt die Hörerinnen und Hörer ab, Schwan nimmt sie mit. Aber der aufmerksame Punkfan wird schon auf Flamingo gemerkt haben, dass etwas an Turbostaat anders ist. Irgendwie ergeben sich die sozialkritischen Texte zu einer aufwühlenden, unverständlichen, aber auf tragische Weise schönen Geschichte. Beispiel:
„Es war nicht nur der Tag // Und die Freunde verlassen uns // Haben Leben // Und eigentlich keine Wahl // Außer dir waren alle weg // Und sprachen rätselhaft // Hinter dir sind 5 cm Platz // Und was weiß ich schon zu sagen // Außer mir fehlt ein Gesicht // Seit ich an Oberflächen kratze ist es weg // Redet bitte über Wetter // Sonst bleibt nichts übrig // Und alle haben Angst davor // Zu recht“
Turbostaat – Rache fūr Mautze
Das Besondere: Einerseits lässt sich der Text als ein wirrer “Stream of Consciousness” verstehen, in dem sich flüchtige mit ausgesprochenen Gedanken vermischen. Andererseits erzeugen die Puzzleteile, wenn man sie mit etwas Gewalt entgegen angebotener Wölbungen zusammensteckt, ein klares Bild einer Person, die sich vom gesellschaftlichen Leben isoliert. Letzteres ist auch das vorherrschende Motiv ihres Gesamtwerks. Es ergibt sich eine melancholische, multiperspektivische Betrachtung der neoliberalen Gesellschaft in all ihrer kritikwürdigen Realität; in der das Individuum selbst (oder vor allem) dann untergeht, wenn es darin aufzugehen glaubt.
Turbostaats Fragmentpunk
Klarer wird all dies auf Vormann Leiss (2007), dem dritten Album. Denn das Alleinstellungsmerkmal der Band frisst sich hier noch viel stärker als zuvor auch in die Musik selbst, was womöglich auch durch den produktionstechnischen Quantensprung unterstützt wird. Die einzelnen Instrumente nehmen sich hier allesamt deutlich stärker zurück. Vieles von dem, was sie auf Schwan noch ausgespielt hätten, deuten sie nur noch an. Was die einzelnen Spuren allerdings auch viel stärker ineinandergreifen und sie als Band reifen lässt. Und wodurch, so eine selbstangestellte Überinterpretation, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse nun auch ein musikalisches Abbild finden. Turbostaat machen spätestens jetzt auch musikalisch kryptischen Deutschpunk.
Quelle: Youtube
Zu besonderer Berühmtheit haben es zwei Phrasen zum Arbeiten und Scheitern geschafft. Zum einen aus dem Titellied Vormann Leiss der Reim „Er macht die Knöpfe fest und drückt sie rein // Wir können alles und alles können wir sein“. Zum anderen der Refrain von Harm Rochel, einer ihrer wichtigsten Singles: „Leb doch mehr wie deine Mutter // Leb bloß nicht wie ich“. Beide Phrasen bringen starke Gefühle auf recht eindeutige Formeln. Die zugehörigen Strophen bieten jeweils verschiedene Kontexte an, in denen sie verortet werden könnten, aber die Textfetzen atmen vor allem durch ihre Übertragbarkeit, was in Harm Rochel etwa durch die zwei verschiedenen Ich-Erzähler der einzelnen Strophen explizit wird:
Quelle: Youtube
Auf Schnitzeljagd
Bislang trug Das Island Manöver (2010) diese Schnitzeljagd auf die Spitze. Mehr noch als die drei Vorgänger lebt es durch die Vielheit textlicher Motive, die selbst die musikalische Weiterentwicklung in den Schatten stellt. Welche Bilder dringen durch? Eine alte Frau möchte im Maisfeld erwürgt werden. Weiß nicht, wen sie dafür fragen könnte. Kennt ihre Nachbarn nicht mehr. Ein Henker gerät in eine Sinnkrise, nachdem er seine Geliebte exekutiert. Franz-Josef besteigt den Thron. Die Geister von Bolnuevo bedrohen die Ordnung. Die Ufos aus dem Moor auch. Die Enkel der Henker essen auf alten Schlachtfeldern Eis. Ein Junge hat 500 Freunde in sozialen Netzwerken. Wird aber trotzdem nach der Schule verprügelt. Ein König flieht ins Exil.
Neuere deutsche Sozialgeschichte episodisch erzählt in 36 Minuten, die sich gleichzeitig als „aufgelöst in der ganzen Welt und Angst vor allem Fremden“ charakterisieren lässt, doch letztlich in die Einsicht mündet: „Eingesperrt sind wir immer noch“.
Quelle: Youtube
Aber das Album lässt viele Lesarten zu. Denn sprachlich werden so starke wie unterschiedliche Bilder erzeugt, dass sie ihr Publikum selbst zum Ausfüllen des Erzählten oder besser des Nicht-Erzählten auffordern. Immer wieder gelangt man dabei zu bekannten Motiven, wo man sie nicht vermutet hatte. Genau wie bei Kafka sind es, wenn sie auch ein wenig anders geartet sind, konnotative Leerstellen und vor allem unvermittelt aufeinanderstoßende Textsegmente, die das Publikum selbst zum Ausfüllen des Angedeuteten aufrufen. Aber auch die Musik fordert alte Punkfans zum Überdenken fixer Genregrenzen auf:
Quelle: Youtube
Stadt der Angst als Dekodierung?
Vor musikalischer Vielseitigkeit strotzt aber vor allem Stadt der Angst (2013). Trotzdem klingt es weniger nach dem nächsten Schritt einer stringenten Entwicklung, als vielmehr wie ein Best-Of-Album. Obwohl doch alle Songs neu sind. Warum?
Quelle: Vimeo
Zwar klingt ihre Musik erfrischender und akkordreicher, aber ihre Texte wirken angespannter. Fast ein wenig, als hätten sie die Geduld mit ihrem hinterherhinkenden Publikum verloren. Als hätten sie das Gefühl, ihre bisherigen Bilder seien zu unklar gewesen. Zum ersten Mal seit Flamingo könnte man sogar meinen, dass ein Songtitel (denn ihre Songtitel scheinen seit jeher ein Eigenleben zu führen) zum Inhalt des dazugehörigen Liedes passt. Sohnemann Heinz erzählt doch recht deutlich von einem jungen Mann, der mit der Aussicht auf berufliche und finanzielle Sicherheit zum Militär gelockt wird, sich zunächst über das eigene Auto, später dann über die Einzigartigkeit der Orte freut, die er beruflich bereisen darf. Aber der letztlich im Afghanistaneinsatz zitternd auf dem Boden liegt, während andere, die Zuhausegebliebenen ohne eigene Autos, ins Kino gehen. Ebenfalls ungewohnt explizit wird in Pestperle am Beispiel der Echonominierung von Frei.Wild eine Kritik an der Offenheit der Musikindustrie für Bands der nach rechts offenen sogenannten “Grauzone” geäußert.
Neben allem multiperspektivischen Ansinnen scheint ihnen nunmehr eine klare eigene Positionierung wichtiger geworden zu sein. Stadt der Angst zeigt, dass sie eben auch eine politisch progressive Band sind. Was sie immer waren. Aber die Bilder werden hier deutlicher verbunden, fast ohne Gewalt, fast dekodiert, fast wie ein ganz normales Puzzle, was ehrlich gesagt etwas schade ist, denn durch die wenigen wirklich deutlichen Bilder kommen die übrigen, abstrakteren, fast ein wenig willkürlich daher. Andererseits zeigt Stadt der Angst aber auch eine Fortentwicklung der Band in die Breite, die das Interesse am angekündigten sechsten Album nur verstärkt. Man könnte es ja auch einfach als Belohnung am Ende einer Schnitzeljagd annehmen.
Am Ende einer Reise
Wenn man so will, liefern Turbostaat bereits auf Vormann Leiss, wenngleich etwas unscheinbar, sogar einen wichtigen Beitrag zum oben beschriebenen Liebeslyrikwettkampf des Pop.
„Wenn das Jahr vergeht und nichts passiert // Der Strom ausfällt und das Licht ausgeht // Das ertrage ich, doch eines nicht: // Du sollst mich nicht Roboter nennen! // Du sollst mich nicht Roboter nennen! // Nur zu einem Zweck wurde ich konstruiert // Und was du hier Neugier nennst wurde niemals programmiert“
Turbostaat – Nach fest kommt ab
Was man allerdings nie so genau weiß, ist, ob das, was man findet, überhaupt jemals versteckt worden ist. Aber im Sinne der Formel „Hasko such den Hafen, bitte such“ (Turbostaat – Charles Robotnik seine Frau) scheint beim Turbostaat-Konsum das Suchen ohnehin wichtiger zu sein als das Finden. Denn ihre Musik macht nachdenklich. Aber der Versuch, den Turbostaat-Code zu knacken, bereitet Kopfzerbrechen und läuft, wie nunmehr festgestellt werden muss, ins Leere. Aber vielleicht reicht ja die subjektive Erkenntnis, dass es sich schlicht und einfach um einen schönen Code handelt, der, ähnlich dem Matrix-Code, seine eigene Ästhetik hat. Denn darum geht es doch in der Kunst. Oder?