Schlagwort: Orange is the new black

Folgen der Seriensucht

Gefühlt täglich wird eine neue Serie auf den Markt bzw. ins Netz geworfen. Das Resultat: stundenlanges Streamen. Das bleibt nicht ohne Folgen.


Gleiche Zeit, gleicher Ort, Tag für Tag oder Woche für Woche – galten Fernsehserien einst als ein strukturierendes Moment im Alltagsgefüge eines (jeden) Menschen, so bekommen sie heute einen neuen Charakter, ein neues Gesicht. Der Begriff „binge-viewing“ in Anlehnung an „binge-eating“ hat Einzug in die Gesellschaft erhalten. Das Warten auf eine neue Folge der Lieblingsserie wurde durch stundenlanges Streamen abgelöst. Auch wenn sich die „modernen“ Serien oberflächlich nicht von den herkömmlichen Serien unterscheiden (strukturieren sie sich doch weiterhin in Folgen und Staffeln), so weisen sie im Erzählen, in der seriellen Narration, durch das neue Konsumverhalten der Serienzuschauer٭innen Veränderungen auf.

Das Phänomen, das Jason Mittell 2011 in seinem Essay Serial Boxes: The Cultural Values of Long-Form American Television beschreibt, feiert mit Game of Thrones, Orange is the new black und dem Einführen von Online-Streamingdiensten wie Netflix einen neuen Höhepunkt. Der Professor für Amerikastudien und Film- und Medienkultur ist der Meinung, dass sich durch das Einführen von DVD-Boxen eine komplexere narrative Konstruktion in Serien etablierte. Die Zuschauer٭innen hätten ja das „Seriengedächtnis“ im Regal und könnten dieses bei Bedarf auffrischen. Aber wie haben die Zuschauer٭innen vor den DVD-Boxen und Netflix ihr „Seriengedächtnis“ aufgefrischt? Und wie äußert sich eigentlich die Komplexität der Serieninhalte im Gegensatz zu den herkömmlichen Fernsehserien?

Tod der clotûre

Die Frage nach der inhaltlichen Komplexität der Serie ist schnell beantwortet: Wer schon einmal den Versuch gestartet hat, eine der neuesten Serien mitten in einer Staffel anzufangen, wird gnadenlos gescheitert sein. Setzten Serien wie How I met your mother oder The Big Bang Theory auf größtenteils geschlossene Handlungsstränge am Ende eine Folge (auch series genannt), so geht der Trend zur Fortsetzungsserien (serials). Serials gab es natürlich auch schon vor den DVD-Boxen oder Netflix (Soaps dürfen hier nicht unerwähnt bleiben), doch haben diese eine neue Qualität und besonders eine neue Quantität erreicht.

Schon der Vorspann von der Netflix-Eigenproduktion Orange is the new black lässt erahnen, wie viele verschiedene Charaktere der Serienwelt ein Gesicht geben.

Quelle: Youtube

Jeder Charakter bringt seine eigene Geschichte mit. Diese muss sich in das Netz von Handlungssträngen knüpfen. Selten hat der٭die Zuschauer٭in das Gefühl, dass ein Handlungsstrang vollends geschlossen, zur clotûre gebracht wird. Vielmehr verstricken sich die Figuren immer tiefer in das Netz der verschiedenen Handlungsstränge. Oder ein geschlossen geglaubter Handlungsstrang wird plötzlich wieder aufgenommen. Die Charaktere und das Leben im Gefängnis bieten immer wieder neuen Inhalt und die Serie könnte unendlich weitergehen – auch ohne die Protagonistin Piper. Und was tun die Zuschauer٭innen, um ihr „Seriengedächtnis“ immer wieder aufzufrischen? Sie geben sich regelmäßig der Serienwelt hin. Aber haben das nicht auch die Serienkonsument٭innen vor den DVD-Boxen und Netflix getan?

Eine Serie ist eine Serie ist eine Serie ist eine Serie

Ja, aber sie waren abhängig vom Fernsehprogramm. Und sie mussten darauf vertrauen, dass die einzelne Folge sie wieder da abholt, wo sie zurückgelassen wurden. Neben dem „Was bisher geschah“ waren es die Konstanten, die sie zurück in die Serienwelt zogen. Denn glaubt man der Seriendefinition von Medienwissenschaftler Hartmut Winkler, so operieren „Filmserien, Fernsehserien oder periodische Sendeformen […] mit einem Kalkül aus Konstanz und Variation“. Die immer gleichen Charaktere, der immer gleiche Ort, die immer gleiche Zeit, die immer gleichen Probleme, die immer gleiche Erzählstuktur, die immer gleichen Symbole, die immer gleichen Macken der Figuren usw. bilden in einer Serie die Konstanten. Vor der Folie des Konstanten, der Wiederholung passieren die Veränderungen, die Variationen. Sobald sich in einer Serienwelt etwas verändert, wird der Plot, die Geschichte vorangetrieben.

Kann es also sein, dass die Komplexität der „modernen“ Serie auch mit sinkenden Konstanten und wie schon erwähnt zunehmenden Variationen zusammenhängt? Betrachtet man die Serie Game of Thrones, so lässt sich die Frage eindeutig mit „ja“ beantworten. Schließlich schreckt die Serie (wie zuvor auch das Buch) nicht davor zurück, seine Protagonist٭innen wiederholt sterben zu lassen. Ein klarer Beweis dafür, dass die Charaktere in dieser Serie nicht zu den konstanten Elementen gehören, sondern zu Variablen werden. Und auch ein Beweis dafür, dass die Zuschauer٭innen der Serienwelt ständig verbunden sein müssen, um bei der Handlung nicht auszusteigen.

Fall der Cliffhanger?

Das ewige Dranbleiben der Zuschauer٭innen an einer Serie haben sich Netflix und Co. zu Nutze gemacht. Warum Filme produzieren, wenn man mit Serien die Abonnent٭innen auf ewig bindet? Die Serienmacher von Netflix haben dabei den Vorteil nicht von Werbeeinnahmen und auch nicht von Einschaltquoten abhängig zu sein. Ein sogenanntes Jumping-the-Shark (sinkendes Interesse) bei einer Serie kann Netflix nicht gefährlich werden, schließlich haben sie ja noch andere Produktionen und die Gelder fließen regelmäßig. Diese Unabhängigkeit macht es ihnen auch möglich, sämtliche Folgen ihrer Serien zeitgleich auf den Markt zu werfen. Es gibt also für die Zuschauer٭innen keine Pausen zwischen den Folgen – höchstens zwischen den Staffeln. Ein Klick und die nächste Folge beginnt. Hier stellt sich die Fragen, ob sich dadurch nicht auch ein wichtiges Element in Fortsetzungsserien verändert hat: der Cliffhanger. Sind Cliffhanger überhaupt noch nötig? Ist es in Zeiten von Netflix und Co. nicht viel wichtiger geworden, die Spannung gleichermaßen aufrecht zu halten? Die Serie House of Cards zeigt, dass Web-Serien auch gut ohne Cliffhanger am Ende einer jeden Folge auskommen können. In Zeiten von Netflix werden die großen Cliffhanger nur noch dezent an wichtigen Punkten gesetzt, z. B. dann, wenn für die Zuschauer٭innen doch eine Wartezeit anbricht wie am Ende einer Staffel.

„Genießen Sie Filme und Serien jederzeit und überall.“

Und hier schließt sich der Kreis: Die Unabhängigkeit von Einschaltquoten und Werbeeinnahmen gibt die Freiheit, Neues auszuprobieren und mit seriellen Konventionen zu brechen. Das ist der Grund, warum nun viele Kreative nicht mehr bei Spielfilmen, sondern bei den Serien mitwirken. Mit den neuen Möglichkeiten verändern sich die Sehgewohnheiten der Serienkonsument٭innen. Und mit den Sehgewohnheiten wiederum das serielle Erzählen. Durch die ständige Verfügbarkeit und das Lesen und Kommunizieren über eine Serie im Internet ist es also möglich geworden, komplexere Serienwelten aufzubauen: Viele Charaktere, mehr Handlungsstränge, weniger Konstanten, mehr Variablen. Das Seriengedächtnis kann jederzeit und überall aktiviert werden. Galten Fernsehserien einst als ein strukturierendes Moment im Alltagsgefüge eines (jeden) Menschen, so bestimmen die Konsument٭innen heute selber, wann und wie lange sie in eine Serienwelt tauchen wollen – und ein Werbespruch wird zum gelebten Motto: „Genießen Sie Filme und Serien jederzeit und überall“.

 

Quellen:

Jason Mittell: Serial Boxes: DVD-Editionen und der kulturelle Wert amerikanischer Fernsehserien. In: Robert Blanchet et al. (Hrsg.): Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu den aktuellen Quality-TV- und Online-Serien. Marburg: Schüren 2011, S. 133-152.

Hartmut Winkler: Technische Reproduktion und Serialität. In: Endlose Geschichten. Serialität in den Medien. Hrsg. von Günter Giesenfeld. Hildesheim: Georg Olms AG 1994. S. 38-45.

Titelbild: Wikimedia.org