Schlagwort: Oktoberrevolution

Der reaktionäre Blick auf 100 Jahre Krieg

Während Deutschland noch im Taumel des Jubiläums der Russischen Revolution ist und damit endlich das Reformationsjahr hinter sich lassen kann, dreht der Historiker Gregor Schöllgen die Erinnerungsdebatte schon weiter. Denn er sieht sich in seinem Buch Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte, ausgehend von Russland 1917, die vergangenen 100 Jahre Weltgeschichte an – und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine Geschichte der Kriege auf globaler Ebene handelt. Leider hat sein Sachbuch an sonstigen Erkenntnissen nicht viel zu bieten.


Schon sein Ausgangspunkt ist zweifelhaft und wirkt künstlich gewählt, um das Jubiläumsjahr der Revolution zu bedienen. Näherliegend wäre es für 100 Jahre Kriegsgeschichte den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 zu wählen, und selbst wenn man sich für 1917 entscheidet eher den Kriegseintritt der USA, denn die Russische Revolution zu wählen, betrachtet man doch gerne das 20. Jahrhundert als amerikanisches Jahrhundert. Doch Schöllgen muss antisowjetische Reflexe bedienen. Denn die Bolschewiki seien (wie auch der Vietkong) Putschisten gewesen, die mit ihrer Idee der gesamten Welt den Krieg erklärt hätten.

Abgesehen davon, dass er bewusst pejorative Begriffe wie Putsch für Revolutionen gebraucht, hat er scheinbar den Bedeutungsgehalt solcher Begriffe in seiner unsachlichen Abneigung missverstanden, da ein Putsch von einer Herrscherclique in der Minderheit ausgeführt wird, oder auch eine gescheiterte Revolution beschreibt. Beides ist, auch wenn die Bolschewiki de facto eine Minderheit waren, nicht der Fall gewesen. Darüber hinaus zeugt dies von einer ideengeschichtlichen Unkenntnis Schöllgens: Denn erstens erklärt der Sozialismus nicht der Welt, sondern „nur“ dem Kapitalismus den Kampf (es heißt Klassenkampf, nicht Klassenkrieg), und zweitens, unterscheidet der Autor nicht zwischen dem trotzkistischen Konzept der permanenten Revolution bis zur Weltrevolution und dem Stalinismus als Sozialismus in einem Lande, ohne globalen Anspruch.

Hitler dagegen wird von Schöllgen als Putschist (im Hinblick auf 1923 ist das korrekt) und Revolutionär bezeichnet (im Hinblick auf 1933 ist das falsch, da die nationale Revolution ein Mythos ist). Es wirkt mehr als bedenklich, wenn Schöllgen die Realitäten so verschiebt, und es zusätzlich für sicher hält, Stalin habe einen Präventivschlag gegen Nazideutschland geplant, natürlich ohne dass in der Monographie irgendein Beleg angeführt wird. Eine solche Verschiebung könnte man nicht nur als antirevolutionär, restaurativ und antisowjetisch klassifizieren, sondern auch als relativierend gegenüber den Verbrechen der Feinde der Sowjetunion. Auch wenn Schöllgen sicherlich in Bezug auf Hitlerdeutschland nicht darauf hinaus will, könnte dieser Verdacht durch seine verquere Argumentation entstehen.

Von dort aus geht Schöllgen bis zum Beginn des Kalten Krieges weitgehend chronologisch vor und subsummiert die Kriegsphasen unter vereinfachte Schlagworte. Zwischen den Erläuterungen zum Zweiten Weltkrieg und dem Beginn des Kalten Krieges jedoch wird sein Zugang systematischer; sprich, er geht einzelne Charakteristika des Kalten Krieges und der Phase danach, wie Wett- und Abrüsten, durch und arbeitet damit dekadenübergreifend. Diese Teilung in Chronologie und Systematik wirkt ebenfalls willkürlich gewählt und nimmt dem Buch die Übersichtlichkeit. So hat er etwa ein Kapitel zu ethnischen Säuberungen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verfasst, das aber eben nicht die Phase der Nachkriegszeit umfasst und daher unsystematisch wirkt. Die späteren Kapitel wirken dafür teilweise recht sprunghaft.

Doch auch für die Phase des Kalten Krieges hat Schöllgen einige reaktionäre Weisheiten zu bieten. So unterteilt er die Blöcke tatsächlich in den freiheitlichen Westen unter amerikanisch-britischer Kontrolle und der unterdrückerischen Sowjetunion, was den irrsinnigen Anschein erweckt, der Westen sei ein gelungenes und eben nicht repressives System. Diese Simplifizierung, die eines jeden Intelligenz beleidigen muss, führt Schöllgen aber rund 100 Seiten später selbst ad absurdum. Denn dann weist er auf dem parallel verlaufenden Nord-Süd-Konflikt hin und gibt zu, die USA hätten sich sowohl hier als auch im Ost-West-Konflikt dilettantisch, ignorant und arrogant verhalten. Inwiefern eine ignorante Imperialpolitik freiheitlich sein soll, beantwortet der Historiker nicht.

Dafür hat Schöllgen noch ein paar Binsen zur Implosion der Sowjetunion 1991 zu bieten. Denn sowohl diese Erniedrigung Russlands wie auch die im Ersten Weltkrieg seien eine Erklärung für die Politik Wladimir Putins, die dem Land das Selbstbewusstsein als Großmacht zurückgeben will. Abgesehen davon, dass Putin dieses kritikwürdige Versprechen hält, handelt es sich dabei nicht gerade um eine tiefsinnige Erkenntnis, wegen der man Schöllgens Buch zu lesen bräuchte. Ähnlich verhält es sich bei den letzten Kapiteln zu Terrorismus und Flüchtlingen. Aufgrund des summarischen Charakters vieler Kapitel, fällt es schwer, mehr als nur eine Aneinanderreihung von Fakten zu erkennen – und dafür wäre jedes Lexikon oder Handbuch fruchtbarer.

Man gewinnt kaum Neues aus Schöllgens Buch, außer bekannter Daten und Banalitäten, wie der ausgelutschten These, die Nachkriegsphase sei in einen Dritten Weltkrieg gemündet, wegen globaler Krisen, Stellvertreterkriegen und dem globalen War on Terror etc. Und selbst wenn das noch als überschaubare Sammlung oder Einführung in die Weltgeschichte der vergangenen 100 Jahre fungieren könnte, so machen Schöllgens Ressentiments gegen alles Soziale oder Sozialistische Krieg nur zu einer Hassrede, voller reaktionärer Klassifizierungen. Vielleicht sollte sich Gregor Schöllgen wieder von der internationalen Politik abwenden, jetzt da er emeritiert ist, und sich abermals mit dem beschäftigen, was er die letzten Jahre gemacht hat: sehr wohlwollende Portraits deutscher Firmen schreiben oder eine Biographie über irgendeinen Sozialdemokraten. In beiden Metiers war er weniger störend als auf dem Parkett der Weltgeschichte.


Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte erschien 2017 bei der Deutschen Verlagsanstalt in München, hat 368 Seiten und kostet 24 Euro.
Titelbild: © DVA / Verlagsgruppe Randomhouse

Die Polarisierung der Welt. 1917. Revolution.

DHM 1917 Revolution

Epochenjahr 1917: Das Deutsche Kaiserreich erklärt den „uneingeschränkten U-Boot-Krieg“, die USA treten in den Ersten Weltkrieg ein – und in Russland bricht eine Revolution los, die die Welt aus den Angeln heben wollte. In der fulminanten Ausstellung „1917 Revolution – Russland und Europa“ beleuchtet das Deutsche Historische Museum zum hundertsten Jubiläum der Oktoberrevolution die weitreichenden Folgen des Urknalls des 20. Jahrhunderts und verzahnt dabei auf eindrucksvolle Weise gesellschaftliche Dynamik und Ereignisgeschichte mit künstlerischen Rezeption


Gesäumt von Schaukästen links und rechts, in denen anhand stellvertretender Kleidungsstücke die Gesellschaftsschichten des feudalistisch-vorrevolutionären Russlands präsentiert werden, erscheint zentral, am Ende des ersten Raumes, ein Portrait der russischen Zarenfamilie. Je mehr man sich dem Bild nähert, umso deutlicher tritt ein bärtiger Männerkopf schemenhaft bedrohlich aus dem Bildhintergrund hervor und überlagert die Gesichter der Familie Romanow – ein Hologramm? Erst unmittelbar vor dem Portrait stehend erkennt man, dass hinter der dünnen Leinwand eine überlebensgroße Büste des Philosophen Karl Marx aufgestellt worden ist. Treffend wird hier die starre und siechende Welt des Zarenhofes mit derjenigen Philosophie kontrastiert, die als Vehikel benutzt wurde, um eben jene durch den Zaren symbolisierte Ordnung hinwegzufegen. Zeitgleich irritiert Marx in der Ouvertüre dieser Ausstellung: Seiner Geschichtsphilosophie gemäß hätte die Revolution in einem industriell hoch entwickelten Land, etwa dem Kaiserreich, ausbrechen müssen – aber nicht im landwirtschaftlich geprägten Russischen Zarenreich, welches man im ersten Raum der Ausstellung kennenlernt. Wie ist es also möglich, dass gerade die starre russische Feudalgesellschaft binnen nicht einmal eines Vierteljahrhunderts dermaßen in Bewegung geriet, dass nicht nur der Zarismus beseitigt, sondern die gesamte Ordnung auf den Kopf gestellt und für Europa den Anbeginn eines Zeitalters zwischen den Polen der extremen Ideologien eingeläutet wurde?

Um die sich überschlagenden Ereignisse narrativ in gelenkte Bahnen zu bringen, wird die Perspektive in der Ausstellung zuerst tunnelartig verengt. Folgt der Besucher anfangs noch auf eng verschlungenen und serpentinenhaften Wegen dem ereignisgeschichtlichen Gang der innerrussischen Geschichte vom „silbernen Zeitalter“ über den Ersten Weltkrieg bis hin zum doppelten Revolutionsjahr 1917, so wird der Blick im zweiten Teil der Ausstellung erweitert: Mit sechs Kabinetten, die sich jeweils einem europäischen Land widmen, werden die vielseitigen Folgen des Revolutionsjahres, die Verfolgungen, die Massenemigration des Adels aber auch die Entstehung konterrevolutionärer und faschistischer Bewegungen, multiperspektivisch aufgezeigt. Die Weltrevolution, kühnes Ziel der Bolschewiki, konnte durch die russische Revolution und die darauffolgenden verheerenden Bürgerkriege nicht ausgelöst werden, dies wird durch die gesamteuropäische Perspektive nur allzu offensichtlich. Jedoch war sie als Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft und als Kontrapunkt zu den entstehenden faschistischen Bewegungen der 20er Jahre stets präsent. Mit dem Oktober 1917 fand der Totalitarismus Eingang in die Moderne.

Wie stark Anspruch und Wirklichkeit der Revolution bisweilen auseinanderklafften, veranschaulicht ein monumentales Gemälde im Zentrum der Kabinette, es kann als Herzstück der Ausstellung angesehen werden: Isaak Brodskis Epochalwerk zur Eröffnung des II. Kongresses der Kommunistischen Internationalen (Komintern) aus dem Jahr 1924, an der über 200 Delegierte aus Asien und Europa teilnahmen, zeigt Lenin bei einer Rede, in der er den bewaffneten Kampf für die Errichtung der „Diktatur des Proletariats“ propagiert. Hauptziel des Kongresses war es, die Revolution nach bolschewistischem Vorbild in die Welt zu tragen, einen internationalen Flächenbrand auszulösen. Angestrebt war eine rigide Kaderdisziplin, alle kommunistischen Parteien hatten sich an den Richtlinien Moskaus auszurichten. Tagte die Komintern in den Folgejahren noch jährlich, vergrößerten sich die Abstände in den späten 20er Jahren immer mehr, 1943 wurde die sie aufgrund des gemeinsamen Kampfes der Sowjetunion mit den Westalliierten im Zeiten Weltkrieg endgültig aufgelöst. Auch Stalin, vor dem Lenin kurz vor seinem Tod noch gewarnt hatte, und mit dem Zwangskollektivierung und der „Große Terror“ kamen, ist auf dem Gemälde anhand seines markanten Bartes schon deutlich identifizierbar.

Und doch, so widersprüchlich dies auch klingen mag, weist die Ausstellung auch sehr ästhetisch ansprechende, ja „schöne“ Seiten auf. Insbesondere der erste Teil der Ausstellung, der sich dem „silbernen Zeitalter“ widmet, ist besonders gut gelungen. Es wird das Bild einer sich nach der Revolution 1905 und der zaghaften demokratischen Öffnung im Wandel befindlichen bürgerlichen Gesellschaft gezeigt, die sich – ähnlich der Mittelschichten während der ersten Phase der Französischen Revolution –Grundrechte, Freiheit und Gleichheit erhoffte. Das Aufblühen der Kunst, Malewitsch und Kandinsky, die sich entfaltende und künstlerische Avantgarde, die sich vom rigiden und engen Kunstbegriff des Zarismus emanzipierte – dies alles offenbart den Facettenreichtum einer sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts im Aufbruch befindlichen Gesellschaft.

So entsteht ein äußerst breit angelegtes, Vor- und Rezeptions-, Ereignis- und Kunstgeschichte integrierendes Panorama, ein multiperspektivisches Panoptikum, bei dem zwangsläufig auch einige Aspekte etwas zu kurz kommen. Dies ist insbesondere schade, wenn es sich um die „großen Erzählungen“ handelt, die zur Mythifizierung der Oktoberrevolution und ihrer Ausprägung zum europäischen Erinnerungsort massiv beigetragen haben: So gerät Lenins berühmte Reise im (anscheinen doch nicht plombierten) Zug – immerhin war diese Episode Stefan Zweig eine seiner berühmten historischen Miniaturen wert – zu einer Randnotiz, die in die wortwörtlich dunkelste Ecke des Raums zur Oktoberrevolution verbannt worden ist. Auch in Anbetracht der unmittelbaren Nähe des Deutschen Historischen Museums zum Stadtschloss, bei dem just jener Balkon restauriert wurde und jetzt wieder für Besucher sichtbar ist, von dem Karl Liebknecht 1918 die Revolution in Deutschland ausgerufen hatte, ist zu Recht bereits die Frage gestellt worden, warum das DHM diese Steilvorlage nicht angenommen hat. Hingegen verdeutlicht der Blick auf die Nachbarländer in der Ausstellung äußerst eindrucksvoll, wie Utopie und Realität des Kommunismus sich mit wechselseitiger Dynamik bedingten und auch, dass geschichtlicher Fortschritt letzten Endes nicht planbar ist. Lenin hatte auf eine Fortführung der Revolution in Deutschland hoffen müssen, um die marxistische Idee des Wegs in den Sozialismus ausgehend von einem hochindustrialisierten kapitalistischen Land aus umzusetzen. Liebknecht und Rosa Luxemburg wurden in den Wirren des Spartakus-Aufstandes 1919 in Berlin ermordet. Die sozialistische Revolution blieb aus.

Was hingegen bleibt von der „Großen Revolution“? Am Anfang der Ausstellung werden dem Besucher per Videobotschaft auf die Frage verschiedene Erklärungsansätze öffentlicher Personen, u. a. Marianne Birthler, Gregor Gysi oder Wladimir Kaminer, präsentiert – eindeutig lässt sie sich dennoch gerade nach dem Besuch der Ausstellung nicht beantworten.

Und Lenin? Eingangs begrüßt er den Zuschauer im Foyer als Statue, gütig lächelnd und volksnah mit Schiebermütze. Seine sterblichen Überreste, die im Mausoleum am Roten Platz einbalsamiert zur Schau gestellt werden, sein in Formalin eingelegtes Hirn im Medizinischen Institut, sie sind immer wieder Anlass für Diskussionen in der Duma. Bisher wagt man noch nicht, den Revolutionsführer endgültig zu Grabe zu tragen. Im DHM begegnet er dem Zuschauer am Schluss noch einmal als Teil von Alexander Kosolapovs grellroter Skulpturengruppe „Hero, Leader, God“. Lenin und Jesus, in SozArt-Manier ausgestaltet, nehmen hier Mickey Mouse zwischen sich an ihre Hände. Alle drei erscheinen dem Betrachter als Götzen der Massenkultur des 20. Jahrhunderts.

Mit dem Zusammenbruch Sowjetunion 1994, deren Gründungsmythos die „Große Sozialistische Revolution“ mit Lenin als Fixstern war, endete das Zeitalter der bipolaren Weltordnung. Die Skulpturengruppe fordert nicht nur zur Beurteilung des Stellenwertes der Revolution aus, sondern auch zur Hinterfragung des eigenen Verhältnisses zu Ideologie, Personenkult und Heldenverehrung und wie bewusst wir uns ihrer eigentlich sind.


1917. Revolution.

Russland und Europa

18. Oktober 2017 bis 15. April 2018

Deutsches Historisches Museum