Dem Sterben und dem Tod zuzusehen, war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein Volksspektakel. Doch ist es heute anders? Oder befriedigen Krimis die moderne Schaulust? Und was passiert eigentlich, wenn das bloße Zusehen nicht mehr reicht?
Tag für Tag den Ermordeten
Der Sonntagabend gehört seit Jahrzehnten den Ermordeten. Doch seit geraumer Zeit breiten sich die Leichen aus. Ein Blick ins Fernsehprogramm und in die Netflix-Bibliothek zeigt: Auch der Montag gehört den Erschlagenen, den Erdrosselten. Am Dienstag können Wasserleichen betrachtet werden. Und Vergiftete am Mittwoch, Erhängte am Donnerstag, Zerstückelte am Freitag und Verbrannte am Samstag. Neben den Todesarten unterscheiden sich die Ermordeten durch ihren Auffindungsort: Mal werden sie in Dresden aus dem Elbe gefischt, mal im dunklen Göteborg von einem Baum geschnitten. Auch das Mordmotiv und ihre Mörderinnen unterscheiden sich meist, ja, müssen sich unterscheiden, schließlich wäre sonst die Spannung dahin. Doch diese Toten haben eines gemeinsam: Ihre Körper werden von Millionen von Augen inspiziert. Ihre Leichen aus Kellerlöchern gezogen, während sich Familien eifrig die Kartoffelchips zum Mund führen. Ihre einzelnen Teile zusammengesucht, während Tausende auf Facebook und Twitter ausdiskutieren, ob ihr Tod realistisch sei oder nicht. Zwar sind das keine echten Toten und die Morde nur die Hirngespinste der Drehbuchautorinnen. Aber kann es sein, dass die Beliebtheit von Krimis aus der Lust am Betrachten von Sterben und Tod resultiert?
Hinrichtung als Volksattraktion
Dass Menschen anderen Menschen beim Sterben und im Tod zusehen, ist ein uraltes Phänomen. Schaulust lässt sich „zu allen Zeiten und in allen Kulturen finde[n]“ (Lexikon der Psychologie/spektrum.de). Man nehme als Beispiel die Hexenprozesse mit anschließenden Hinrichtungen durch den Feuertod, die noch bis ins späte 18. Jahrhundert stattfanden. Sie galten als Volksattraktion, ja, als Volksspektakel. Dafür kamen die Menschen aller Schichten, jeden Alters und Geschlechts auf den Marktplatz gelaufen. Sie schauten zu, wie Menschen unter schrecklichen Schmerzen verreckten; offenbar musste ein Bedürfnis befriedigt werden. Zu jeder Zeit spielte die Schaulust auch der Politik in die Hände. Denn öffentliche Hinrichtungen waren politisch motiviert. Sie sollten abschreckend wirken, aber auch als „symbolische Wiederherstellung der Ordnung“ und zur „Veranschaulichung des Rechtsstaats“ (Richard van Dülmen in: Theater des Schreckens) dienen.
Lustbefriedigung bei Mord und Totschlag
Zwar fanden die beiden letzten öffentlichen Tötungen dieser Art im deutschen Staat 1864 statt, der menschliche Zwang hin- und nicht wegzuschauen ist damit aber keineswegs verschwunden. Wie auch? Er gehört laut Wissenschaft zur Natur des Menschen. Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass 90 Prozent aller Menschen von einer „natürlichen Schaulust“ betroffen seien. Denn wie heißt es bei Milan Kundera? „Ich aber weiß […], dass es Blicke gibt, die kein Mensch sich versagen kann; zum Beispiel auf einen Verkehrsunfall oder einen fremden Liebesbrief“ (in: Das Buch vom Lachen und Vergessen). Und auch die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag hat sich in ihren Büchern über Fotografie mit diesem Phänomen beschäftigt und festgestellt, dass das Bild verstümmelter und verletzter Körper, das Bild des Abstoßenden auch etwas Faszinierendes habe (in: Das Leiden der Anderen betrachten). Dies erklärt auch die Behinderungen von Einsatzkräften bei Verkehrsunfällen durch sogenannte „Gaffer*innen“. Und kann es sein, dass in den Sozialen Medien unter Berichten zu Mord- und Totschlag mehr Interaktionen zu verzeichnen sind als unter Berichten z. B. zu politischen Themen (ausgenommen es hat irgendwas mit Geflüchteten zu tun)?
Wonnegefühle beim Zuschauen
Geht man davon aus, dass die meisten Menschen von einer natürlichen Schaulust betroffen sind, bleibt noch eine Frage: mit welchem Motiv? Was wird mit dem Schauen bezweckt? Zwischen 1920 und 1930 ging man davon aus, dass die Schaulust einem angeborenen Neugiermotiv folge. Heute gibt es andere Ansätze: So meinen einige Forscher*innen, dass mit dem Hinschauen, z. B. bei Verkehrsunfällen, nicht etwa der Nervenkitzel gesucht würde. Vielmehr würden die Schaulustigen unbewusst Informationen sammeln, um die Gefahr zu verringern, beispielsweise ebenfalls in einen solchen Unfall involviert zu werden. Andere hingegen sehen in dem Schautrieb den „unbewussten Wunsch nach Bestätigung der eigenen Unversehrtheit beim Miterleben des Leides anderer“ (Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik). Der Erziehungswissenschaftler Felix von Cube spricht hier von dem „Sicherheitstrieb“. Ähnliches wurde bereits in der Antike vermutet. So schreibt der Dichter Lukrez im zweiten Buch seines Werkes De rerum natura: „Nicht als ob es uns freute, wenn jemand Leiden erduldet, sondern aus Wonnegefühl, dass man selber vom Leiden befreit ist.“ Und auch bei Albert Camus findet sich diese Theorie wieder, wenn sein Protagonist Meursault in Der Fremde über seine bevorstehende Hinrichtung nachdenkt und den Wunsch offenbart, bei dieser doch nur ein Zuschauer zu sein: „Denn bei der Vorstellung, eines frühen Morgens als freier Mann hinter einer Polizeikette zu stehen, gewissermaßen auf der anderen Seite, bei der Vorstellung, der Zuschauer zu sein, der zusieht und sich hinterher übergeben kann, stieg mir eine Woge giftiger Freude ins Herz.“ Trotz der negativen Konnotation, die die Schaulust mit sich führt, ist der Soziologe Wolf R. Dombrowsky der Meinung, dass die Schaulust, ja, das Hinsehen immer auch etwas Positives in sich birgt: das Erlernen des Umgangs mit dem Unerträglichen.
Ersatzbefriedigung bei Krimis
Egal aus welchem Grund Menschen oft nicht widerstehen können, hinzuschauen, fest steht: Die „Lust am Schauen von Greuel, Kampf und Tod“ ist ein im Menschen tief verwurzeltes Bedürfnis (Walter Serner in: Kino und Schaulust). Und ein Bedürfnis, eine Lust, will befriedigt werden. Dabei muss jedoch Folgendes beachtet werden:
„Zu allen Zeiten gab es eine Unterscheidung zwischen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Schaulust, die daraus folgenden Normen variieren jedoch im Laufe der Geschichte und zwischen den Gesellschaften. […] Das Betrachten grauenvoller Bilder in seriösen Nachrichtensendungen […] gilt in unserem heutigen Normgefüge als durchaus akzeptabel; eher als unmoralisch das Verweilen auf einer Brücke bei einem Massenunfall.“
Krimis sind gesellschaftlich akzeptiert – keine Frage. Damit auch ihre Bilder von Gewalttaten, Mord, Totschlag, vom Sterben und von Folter. Das Hinsehen ist unbedingt erwünscht. Für die Zuschauerinnen ergibt sich durch ein solches Fernseherlebnis ein Gruseln auf Zeit. Ein kontrolliertes Ekeln, dem durch das Wiederherstellen der Ordnung, also das Fassen desder Mörders*Mörderin, ein Ende bereitet wird. Kann der Krimi also als Ersatzbefriedigung der natürlichen Schaulust betrachtet werden? „Schiebt sich ein Medium zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommen, sei es Bild oder Film, erhält die Lust am Schauen neue Begründungen (wie Lustersatz, Schadenfreude, ästhetischer Genuss)“, beantwortet das Filmlexikon der Uni Kiel die Frage. Susan Sontag geht bei der Analyse von Science-Fiction-Filmen sogar noch einen Schritt weiter:
„Eine andere Art der Befriedigung, die diese Filme bieten, beruht auf der extremen, moralischen Vereinfachung, die ihr Charakteristikum ist, das heißt, sie bieten eine moralisch akzeptable Phantasie, die als Ventil für grausame oder zumindest amoralische Gefühle dienen kann.“
Susan Sontag – Die Katastrophenphantasie
Teilhabe an Katastrophen
Dank der zahlreichen Krimifilme und -serien ist es also einfach geworden, die natürliche Schaulust zu befriedigen und unbewusst grausamen Gedanken und Phantasien ein Ventil zu geben. Eine Befriedigung kann tatsächlich jedoch nur eintreten, wenn sich die Zuschauerinnen dem Gesehenen hingeben, also wirklich hinsehen. Nur dann, wenn nebenbei keine Kartoffelchips zum Mund geführt und keine Decken gehäkelt werden. Doch das scheint oftmals gar nicht der Fall zu sein. Denn die Diskussionen auf Facebook oder Twitter, z. B. zum Tatort, verdeutlichen etwas ganz anderes: Der Krimi wird nur mit einem Auge geschaut. Fast könnte man meinen, die zerstückelten Körper, die aus irgendwelchen Kellerlöchern gezogen werden, und die kindliche Wasserleiche, die Taucherinnen in der Elbe finden, sind keine Bilder, die irgendwie verstören, schocken. Keine Bilder, die die Zuschauer*innen an den First Screen fesseln.
Hat etwa der übermäßige Konsum von Gewaltszenen und Leichenbildern zu einer Abstumpfung geführt? Muss bald etwas Härteres her? Empathielose, hetzerische und vorurteilsbehaftete Kommentare unter solchen Nachrichtenmeldungen und Fotos in den Sozialen Netzwerken prophezeien die Gefahr, dass weder die Häkeldecke noch der Second Screen weggelegt werden, wenn die Nachrichtenkanäle echte Tote zeigen. Oder hat etwa das Kommentieren solcher Meldungen die Schaulust abgelöst? Reicht das alleinige Sehen nicht mehr aus, muss es die Teilhabe an einer Katastrophe sein, damit sie spürbar wird? Zumindest würde dies bei realen Katastrophen die Muster von Twitter-Debatten oder den Drang einiger Menschen erklären, zu filmen oder zu fotografieren. Sie selbst werden damit zu Schausteller*innen des Leids.
Titelbild: © Katharina van Dülmen