Ist der Individualismus der größte Feind des Individuums? Vladimir Nabokovs Klassiker Pnin lässt den Leser zum Zuschauer & Komplizen des Verschwinden (-machens) eines Sonderlings werden – amoralisch, apolitisch, zum Weinen komisch.
Ein Gastbeitrag von Sören Heim
„Pnin schlenderte langsam unter den friedlich-stillen Kiefern hin. Der Himmel lag im Sterben. Er glaubte nicht an einen autokratischen Gott. Er hatte eine unbestimmte Vorstellung von einer Demokratie der Geister. Vielleicht bildeten die Seelen der Toten Komitees, und diese widmeten sich in fortlaufenden Sitzungen dem Geschick der Lebenden“ (133).
I – Treue als Verfremdung
Vladimir Nabokov hielt einiges darauf, kein Autor mit Aussage, Programm oder Ziel zu sein. „Ich schreibe ein Buch in erster Linie, um mir ein Buch von der Seele zu schaffen“ kommentierte er höhnisch Versuche, etwa eine „Intention“ in Lolita aufzuspüren.
Aus gutem Grunde war er der pädagogisch-funktionalistischen Reduktion des „was will uns der Dichter damit sagen?“, die Tod der Kunst wie der Wahrheit ist, spinnefeind. Nach Nabokovs Verständnis von Kunst genügt der Text zuerst sich selbst, und ist so doch gerade nicht der Welt abgewandt. Vor Nabokovs Kunst kapitulieren Labels wie „realistisch“, oder „phantastisch“; das lässt sich gut mit Blick auf die Konzeption eines Gemäldes begreifen, welches Nabokov in Pnin Victor, den „Wassersohn“ des Protagonisten entwerfen lässt. Dieses ist so hingebungsvoll – detailliert gegenständlich, dass die Gegenständlichkeit selbst befremdend wird:
„[W]enn Degas eine calèche unsterblich machen konnte, warum sollte dann Victor nicht dasselbe mit einem Automobil gelingen? Eine Möglichkeit, dies zu bewerkstelligen, bestehe darin, das Fahrzeug von der Landschaft durchdringen zu lassen (…). Nun heißt es, das Gehäuse des Wagens in Kurven und Flächen aufzuteilen, und es dann in Spiegelbildern zusammenzusetzen. (…) Diese mimetische und integrierende Darstellung nannte Lake die ‚Notwendige Naturalisierung der Menschenwerke‘.“ (93f)
Nabokovs Romane sind solche Gemälde, und noch ein wenig mehr, wie im Folgenden an Auszügen aus eben diesem Pnin zu bedenken gegeben werden soll.
II – Das bürgerliche Trauerspiel
„‚Sie mögen lachen, aber ich behaupte, der einzige Weg, dem Chaos zu entrinnen (…) besteht darin, daß man den Student in eine schalldichte Zelle sperrt und den Hörsaal schließt (… Schallplatten über jedes erdenkliche Thema werden dem Studenten zur Verfügung stehen (…)‘ – ‚Und die Persönlichkeit des Dozenten‘, fragte Margaret Thayer. ‚Zählt die denn gar nichts?‘ – ‚Nein!‘ schrie Hagen. Das ist ja die Tragödie! Wer zum Beispiel will ihn?‘ Dabei deutete er auf den strahlenden Pnin: ‚(…) Die Welt will eine Maschine, keinen Timofej.“ (157f)
Es ist der letzte Akt des Bürgerlichen Trauerspiels, in dem der Mensch wutschnaubend seine eigene Abschaffung konstatiert, deren Möglichkeit ihm erst am Andren auffällt (die Wut ist dabei zu großen Teilen doch Angst). Diese Möglichkeit treibt die meisten dazu, ihre Pfründe zu sichern, und einige schicken, wie hier der Protektor Pnins, Professor Hagen, eine flammenden Anklage gegen die ungerechte Welt hinterher. Die Einzelnen, und noch die Bedrohtesten, kennen weder die Genese des Stückes, in dem sie auftreten, noch das Script, nachdem sie spielen. Alles ist „eine Tragödie“ (wie oft haben wir diesen Ausruf schon gehört), und ist die Rolle jedes Einzelnen auch komischer Weise immer die des Tragischen Helden, so will sie doch gespielt werden. Hagen echauffiert sich über Pnins Absetzung, die er doch hätte verhindern können, wenn, ja wenn da nicht eigene, dem widerstrebende Interessen wären, und die anderen nicken wissend, traurig, auch Einsichtig (die, die sich freuen, sind abwesend), und im nächsten Moment löst sich die Anspannung bereits in zwanglosem Geplauder. Am Zwanglosesten plaudert Pnin, Thema des Gespräches, er kann sich gar nicht vorstellen, dass es um ihn gehen könnte.
„Diese Welt lebte geistesabwesend, und Pnin hatte die Aufgabe, sie zu sich zu bringen. Sein Leben war ein unablässiger Kampf mit unvernünftigen Dingen, die auseinanderfielen, ihn überfielen, ihre Bestimmung verleugneten oder sich tückisch verflüchtigten, sobald sie in seinen Lebensbereich gerieten.“ (11)
So sieht sich Pnin zu Beginn des Romans, und so sieht er sich unerschütterlich bis zum Schluss. Streit, Grabenkämpfe, Entscheidungen über Budget und ideologische Ausrichtung, deren Spielball er meist ist (man führt den Rückgang slawistische Lehrstühle u.a. auf den McCarthyismus zurück), tangieren ihn nur als passiv Erfahrenes, als Ereignisse.
III- Pnin und die Welt
Im Klappentext zur Rowohlt Ausgabe von 1987 heißt es:
„Der zerstreute Professor Timofej Pnin ist ein einsamer Individualist, den der American way of Life tief verstört. Er wirkt auf seine Umgebung wie ein komischer Versager; aber seine Würde, sein Ernst, seine Persönlichkeit lassen trotz seiner Schrullen die Umwelt lächerlich erscheinen, sie versagt an ihm.“ Pnin sei: „Ein Meisterwerk tiefsinnigen Humors“.
Doch Pnin ist mehr, Pnin ist Exponat eines ins pathologische übersteigerten liebevollen Zynismus, der nicht zuletzt auch im Alltag Strategie ist, mit der es sich leichter über Leichen geht (wir kommen dazu). Die Güte des Verlierers, erinnert als Schrulle, wird lächelnd aufbewahrt und kann nur so entschärft werden. Der Klappentext trägt dazu weit mehr bei, als der Roman selbst.
Pnin wirkt über weiten Strecken wie ein Haken, der ins Fleisch einer Welt gegraben wird, die ihre Pnins für gewöhnlich, weil es nun einmal nicht anders gehe, ausstößt. Zeit seines Lebens versucht Pnin, der als öffentliche Person immer schwerer zu Rande kommt, das worauf er im Privaten zugriff hat, zu pninisieren:
„Später wurde ihm zu alleinigen Benutzung Büro R. zugewiesen, das früher eine Rumpelkammer gewesen, jetzt aber vollständig renoviert war. Im Laufe des Frühjahres hatte er es liebevoll pninisiert. Er hatte dies mit zwei scheußlichen Stühlen, einem Anschlagbrett aus Kork, einer Dose Bohnerwachs, die vom Hausmeister vergessen worden war, und einem bescheidenen Stehpult aus unbestimmbarem Holz bewerkstellig…“.
Objektiv schreitet die Entpninisierung voran. Die Schranken zwischen Öffentlichem und Privatem fallen, der Anpassungsdruck dem Pnin sich gar nicht ausgesetzt glaubt verfolgt ihn bis in die letzte Ecke seiner Gelehrtenstube. Exemplarisch dafür der Umgang der Universitätsangestellten untereinander, die vielfachen Verflechtungen zwischen Freunden, Mietern und Vermietern, die stets zugleich persönlich und unpersönlich sind weil jede Geste, jeder Händedruck im Privaten auch Akt im öffentlichen Raum Universität, Bildungsbetrieb ist. Das drückt sich in Kleinigkeiten aus, etwa darin, dass Pnin, die ‚amerikanische‘ Gewohnheit Kollegen beim Vornamen zu nennen, die ihm zuerst zuwider ist, bald selbstverständlich annimmt. Oder dass er, nachdem er seine erste Fahrprüfung nicht besteht, weil er mit dem Prüfer über die Demütigung, an einer Ampel halten zu müssen, wo die Straße doch frei sei, sich bei der zweiten Prüfung eben zurücknimmt. Und es endet mit einem fast unverstellten Blick auf den ‚Unbewegten Beweger‘, wenn das eigene, pninsche, Häuslein außer Reichweite rückt, weil Pnin zu sehr Pnin ist, um ein moderner Professor zu sein. Und damit Geld zu verdienen.
Für Pnin sind diese Veränderungen wieder nicht der Rede wert. Er erfährt sie, ohne dass sie sich aufdrängen. Einige treibt er selbst voran, soziale Anpassung, die er in seltsamer Analogie zur Kunsttheorie Lakes und Victors (s.o.) ‚Naturalisierung‘ nennt, erscheint ihm nicht als Zwang. Und sie wäre tatsächlich mit einem Schulterzucken hinzunehmen, fände sie nicht in einem gesellschaftlichen Kontext statt, in dem die Annehmlichkeit des Zurechtkommens die Gewalt verschleiert. Etwa lässt sich Pnin in einem so materiellen wie symbolischen Akt voll Enthusiasmus alle Zähne ziehen und ein Gebiss einsetzen: „Eine Offenbarung, ein Sonnenaufgang. Ein Mundvoll zuverlässigen, alabasterweißen, humanen Amerikas“ (35). Nein, Anpassung an sich ist nicht zu kritisieren, manchmal ist fraglich, ob sie überhaupt in einer Weise existiert, in der sie für Pnin wahrzunehmen ist:
„In dankbarer Überraschung kam Pnin zu dem Schluß: Wenn keine russische Revolution, keine Flucht, kein Exil in Frankreich, keine Naturalisation in Amerika stattgefunden hätte, wäre alles, im besten, allerbesten Falle, Timofej! – ziemlich auf dasselbe herausgekommen.“ (141)
Störend ist dass der beste Fall nicht eintreten kann, das die Alternativen, die sich zu gleichen Scheinen, alles Schlechte sind; dass jeder Kompromiss, jeder Erfolg rückblickend nur Aufschub des Unvermeidlichen ist.
IV – Die Welt und Pnin
Aber halt? Legte man uns nicht weiter oben nahe, dass die Welt an Pnin versage? Ist es nicht rührend, wie Pnin seiner ehemaligen Frau Lisa die Überfahrt in die USA finanziert, wo diese ihn zum zweiten Mal für seinen ewigen Nebenbuhler verlässt? Ist es nicht herzzerreißend, wie Pnin ohne mit der Wimper zu zucken deren Sohn Victor finanziell absichert, da dieser für seinen biologischen Vater nichts übrig hat, und jener für Victor noch weniger? Und haben wir uns nicht bereits auf den ersten Seiten in einen Pnin verliebt, den wir kennen gelernt haben, wie er im falschen Zug sitzt, mit dem falschen Manuskript in der Tasche, sicher einen schnelleren und besseren Weg zu einem Vortrag ausgeheckt zu haben, den wir nie zu hören kriegen?
Ist nicht Pnin ein Quixote, der sich unverzagt über die Realität aufschwingt, und so einer, der gar nicht verlieren kann? Ja und Nein. Denn obschon Pnin Idealist bleibt, erkennen wir seine Niederlage, und noch wichtiger: Wir erkennen Gewinner, wenn wir sie sehen. Und Gewinner, das sind die andren.
„‚Sie wissen, dass ich nicht unterscheiden kann, was ein Reklamebild ist, und was nicht (…)‘ ‚Unmöglich, solch eine kleine Insel, noch dazu mit einer Palme, kann es in einem so großen Meer nicht geben‘
‚Mag sein, aber hier gibt es das eben‘
‚Eine unmögliche Isolierung beharrte Pnin‘.“ (57)
Pnin erfährt die Welt nicht einfach in einem überalterten oder stark vergeistigten Modus. Er negiert unter dem Blickwinkel der Kunst zum Beispiel die Realität der Werbung völlig. Noch darauf hingewiesen, dass er selbst die Position vertrete, die Welt des Geistes beruhe auf einem Kompromiss mit der Logik, bleibt Pnin stur: „Mit Einschränkungen…‘“ (ibid.) Er ist tatsächlich weltfremd, und seine Einstellung kann auf Dauer das Überleben nicht sichern. Wissen und Wahrheit sind, wie wir gelernt haben, dem Realitätsprinzip unterzuordnen; unsere Sympathie für Pnin ist daher fragil. Wollten wir sie erhalten, wir hätten harsch mit der Welt ins Gericht zu gehen. Und kollidiert das nicht bereits mit dem Realitätsprinzip?
Denkbar der Tag, an dem Pnin uns ganz und gar unverständlich werden wird.
Der Erzähler N., nach eigenen Angaben ein alter Freund des Protagonisten, kommt in der Gesellschaft besser zurecht. Er ist dem Pnin nicht ganz unähnlich, hätte in einem anderen Leben vielleicht das Zeug zum Doppelgänger, und ist wie so viele Erzähler Nabokovs ein wenig Alter Ego des Autors. Er ist nicht unmoralischer, sondern erfolgreich, er ist nicht indifferent, doch geht zuerst seinen Weg (eigentlich ist er wie alle Andern, nur reicht seine Verbindung zu Pnin länger zurück, was uns eine tiefere ‚Bedeutung’ der Beziehung annehmen lässt). Dieser „alte Freund“, ein „prominente[r] anglo-russische[r] Schrifststeller[…]“ (136), ein „wahrhaft faszinierender Dozent[…]“ (156), nimmt Pnins Posten am W. College ein.
Mit dem Hinzutreten N.s als Charakter werden Pnins „Würde, sein Ernst, seine Persönlichkeit“ (s.o.), bald fragwürdiger. Die Welt, wie sie ist, wird „naturalisiert“ (da ist das Wort wieder) als Welt, wie sie nicht anders sein kann. Pnin dagegen wirkt wie ein Fehlgriff der Natur; das Scheitern an der Aufgabe „[die Welt] zu sich zu bringen“ (ach was, bereits, sich diese Aufgabe zu stellen!) muss als notwendiges Versagen vor der Realität angesehen werden, und spätestens, wenn Pnin noch das Angebot des Erzählers ablehnt eine Stelle als dessen Assistent anzutreten, ist es vorbei mit unsrem Mitgefühl und unsrer Sympathie für den armen Pnin.
Geht das Notwendig jedem so? Oder ist der Stolz, den Pnin in der Niederlage zeigt nicht die einzig wirkliche „würdevolle“ Handlung im gesamten Roman? Der lächerliche Mut „Ich“ zu sagen (und das bar jeglicher Komik), das Bestehen auf Pnin, wo doch ein Pnin nicht bestehen kann? Es ist immerhin die einzige konsequente Handlung die als solche kenntlich wird, wo Menschen in Pnin doch meist als Getriebene auftreten – auch noch wenn es sie zum Erfolg treibt.
VI – Exorzismus & Lachen: Wie man über Leichen geht
Schließlich verschwindet Pnin, ganz wie die Helden der Arbeiterromane des 19. Jahrhunderts, wie ein John Barton (Mary Barton) und ein Stephen Blackpool (Hard Times). Diese standen dem versöhnlichen Ausklang des jeweiligen Werkes im Wege, nachdem sie dessen Dynamik (die gesellschaftliche Dynamik nachvollzieht), angestoßen haben. Was mit Pnin wird, das wissen wir nicht.
Es hat etwas Unversöhnliches: Tod sei, so der Erzähler, „Entkleidung. Tod ist Gemeinsamkeit. (…) Freilich ist es das Ende unsres verzärtelten Ichs“ (18). Pnin gönnt uns die Erleichterung nicht, die das Ableben seines Protagonisten bringen könnte. Sein Verschwinden ist einfach Verschwinden, Tilgung eines Störfaktors ohne zufriedenstellenden Schluss, unvollendet. Die „Varieté-Nummer“ (184), mit der Jack Cockerell die Kollegen („Freunde“) an Pnin erinnert, gleicht einem Exorzismus, in dem noch jede alltägliche Handlung Pnins, jede Gebärde, sogar „der feine Gradunterschied zwischen Pnins Schweigen und Thayers Schweigen (…) wie wenn sie im Dozentenclub nebeneinander saßen, und genossenes Geistesgut schweigend wiederkäuten“ (184) qua Wiederholung neutralisiert werden. Immer wieder bricht in dieser Szene im Lachen die Gewalt hervor, die Pnin als ‚natürliche’ entgegenschlug, hier bekennt man sich spielerisch zur eigenen Unerbittlichkeit, die sonst verleugnet, der Welt zugeschoben wird. Auch N. nimmt Teil und schweigt, wenn auch unter Schmerzen:
„In das Lächeln, das ich aufrecht zu halten versuchte, begannen sich Symptome labialer Verkrampfung einzuschleichen. Schließlich artete das ganze in gähnende Langeweile aus, so dass ich mich fragte, ob diese Pnin Affäre sich für Cockerell durch einen poetischen Racheakt nicht zu jener Art verhängnisvolle Besessenheit ausgewachsen hat, bei der der Lacher am Ende zum Verlachten wird“. (185)
Das Verlachen läge in N’s Macht. Allein: er lacht nicht. Er bemüht sich, mit den Exorzisten zu lächeln.
Wäre Pnin einfach nur Störfaktor, Relikt vergangener Zeit, die Erzählung könnte nun zur Ruhe kommen, die Welt wäre mit sich im Reinen. Doch es steht uns noch immer Pnins ‚Geist‘ im Wege. Wie ein schlechtes Gewissen (etwa das des Erzählers?) lässt Pnin sich im Alltag ausklammern, und bestimmt doch den Blick auf das Ganze. Mit Pnin, dem Protagonisten, enthält die Austreibung des Pninischen, die Entpninisierung der Welt eine (wenn auch unzulängliche, kaum greifbare) Ahnung davon, dass mit der Welt etwas nicht stimmen könnte. Das von Victor erträumte Gemälde eint Natur und Technik durch die „Naturalisierung des Technischen“, dadurch dass diese durch jene erscheint. Gesellschaft, die etwas anderes als Technik ist, ist diesem Gemälde äußerlich. Es ist realistisch bis an die Grenzen des Phantastischen, und dabei harmonisch. Der Roman sträubt sich gegen eine solche Vereinfachung; Pnin ’naturalisiert‘ die Gesellschaft, während die Gesellschaft Pnin ’naturalisiert‘. Pnin hat seine Wahrheit, ungeachtet im Roman geäußerter Anschauungen darin, dass er die „Naturalisierung“ als künstlich, als menschlich entlarvt, als erpressende Versöhnung im Hinblick auf das Ganze. Pnin selbst stellt, ganz unkritisch, nach der distanzierten Art des Wissenschaftlers fest: „Hagen, wenn wir von Ungerechtigkeit sprechen, vergessen wir armenische Metzeleien, Folterqualen, die in Tibet erfunden wurden, Kolonisten in Afrika … die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Qual“ (165). Und gleichzeitig wird er, so viele Schläge er auch hinnehmen muss, immer daran festhalten: „Intrigen sind etwas fürchterliches. Andererseits wird ehrliche Arbeit sich immer durchsetzen“ (ibid.).
Nein, Pnin ist beileibe kein politischer Roman. So wenig Menschen fähig sind, den Kampf widerstreitender Interessen, das Überschreiten des Gegebenen als politisch zu begreifen, so wenig kann ein Roman aus der Mitte dieser Menschheit im Guten wie im Schlechten noch ‚politisch‘ sein. Doch es wohnt ihm eine Transzendenz inne, die den Schlüssel zu Erkenntnissen, die das Überschreiten einer vollends „naturalisierten“ Menschenwelt, zur Handlungsfähigkeit im weitesten Sinne, zumindest erinnert. Unsere Erzählung beginnt mit Pnin, und sie endet mit Pnin, obwohl dieser abwesend ist, und nur, um wieder mit Pnin zu beginnen:
„‚Und nun‘, sagte er, ‚werde ich ihnen die Geschichte erzählen, wie Pnin zu einem Vortrag im Cremoneser Frauenclub das Posium besteigt und feststellt, daß er das falsche Manuskript mitgebracht hat.“ (188)
Wird reine Zirkularität als Sinnbild des Vollkommenen gedacht, so beschreibt in Wahrheit Pnin (das hat er mit andren großen Modernen Romanen, dem Ulysses, der Rechèrche, gemein), eine Spiralbewegung. Könnten wir uns nun die Zeit nehmen, den Roman noch mal und noch mal zu lesen, die Bewegung nachzuvollziehen, mit ihm dahinzutaumeln, müssten vor der Orientierungslosigkeit, die sich unweigerlich einstellt, erschrecken. Hinter dem Schreck steht die Hoffnung auf eine Welt, die unsre Pnins nicht ausstößt (wie all die andren Überflüssigen, die nicht zu Verwertenden).
Aber für gewöhnlich nehmen wir uns diese Zeit nicht, nehmen Teil am Exorzismus, liebevoll und mit Hingabe, so wie Pnins (Ex-)Kollegen, denn uns hat die Welt noch nicht ausgestoßen. Und dann bleibt Pnin unser schlechtes Gewissen, und die ‚intentionslose‘ Kunst erscheint als nutzlose. Und wir loben sie, gerade weil wir uns nicht berühren lassen, und loben damit unsre Fähigkeit, nicht hinzusehen.
VI – vom Ende
„Manche Leute – und ich gehöre zu ihnen“, lässt uns der Erzähler wissen, „hassen Happy Ends. Man fühlt sich betrogen. Ein schlimmes Ende ist normal“ (23). Ob Pnin schlimm endet, ob Pnin überhaupt endet, das bleibt unentschieden. „Das Verhängnis sollte nicht stehen bleiben. Die Lawine, die es sich ein paar Meter über dem Dörfchen am Berghang anders überlegt, benimmt sich nicht nur unnatürlich, sondern auch amoralisch“. Das Verhängnis Pnins bleibt mit dem Ende, das auf den Anfang verweist, gewissermaßen stehen. Das ist, weil das Verhängnis jede Zeile des Romans durchdringt, weil Verhängnis kein Ende braucht, weil die natürliche, moralische Lawine eine Fixe Idee ist, die in der Welt gemachten Unglücks keinen Platz hat.
Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. Seine Kolumne HeimSpiel erscheint bei DieKolumnisten.
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