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„Es starben den Heldentod für Kaiser und Reich in Deutsch Südwestafrika…“

Lara Favarettos „The Stone“ aus der Reihe „Monumentary Moments“ steht im Rahmen der Münsteraner Skulptur Projekte in unmittelbarer Nähe zu einem verwitterten Kolonialdenkmal und weist auf Leerstellen der postkolonialen Erinnerungskultur im Umgang mit Imperialmonumenten in der Bundesrepublik hin.


„Kolonialamnesie“ war den Deutschen lange unterstellt worden. Angesichts des Zivilisationsbruchs des Holocausts und der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs haben die Geschehnisse der 30 Jahre andauernden kolonialen Episode des Kaiserreichs, die mit dem Verlust der Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg endete, zumindest in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik lange Zeit keine große Rolle gespielt. Wurden die der Folgezeit während der Weimarer Republik überall aufgestellten Kolonialdenkmäler nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR aus antiimperialistischer Motivation heraus demontiert, so blieben sie im Westen bestehen und ragten so lange Zeit wie erratische Monumente aus einer längst vergessenen und versunkenen Epoche ohne sichtbare Funktion in die Gegenwart hinein.

Das Train-Denkmal in Münster (1925)

Jedoch: Seit langem fordern Aktivisten und Nachkommenverbände die Anerkennung kolonialer Verbrechen, insbesondere des Völkermordes an den Herero und Nama. Im Zuge der Bundestagsdebatte um den Völkermord an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich bezeichnete Bundestagspräsident Norbert Lammert auch das Vorgehen gegen die Herero und Nama in der damaligen Kolonie Süd-West, dem heutigen Namibia, als Völkermord. Jahrelang hatten sich Bundesregierungen davor gedrückt, das Vorgehen gegen die namibischen Bevölkerungsgruppen als das zu bezeichnen, was es war.

Im Januar 1904 hatten sich unter der Führung Samuel Mahareros einzelne Herero-Gruppen gegen die deutschen Kolonialherren erhoben. Schnell wurde deutlich, dass sich der Kampf der Herero gegen die kolonialen Unterdrückungsstrukturen allgemein richtete. Der schon zuvor bereits beim „Boxeraufstand“ in China eingesetzte Generalleutnant von Trotha ging skrupellos gegen die Aufständischen vor, ließ die Überlebenden nach der „Schlacht am Waterberg“ in die Omahekewüste treiben und den Zugang zu Wasserstellen abriegeln sowie auf Angehörige der Herero schießen, sollten diese sich zeigen. Dieser „Vernichtungsbefehl“ wurde vom Reichskanzler aufgehoben, sobald er in Berlin bekannt geworden war. Für tausende Herero, die zu diesem Zeitpunkt bereits in der Wüste umgekommen waren, kam diese Kehrtwende zu spät.

Zieht man Trothas Tagebuchaufzeichnungen hinzu, so treten seine Absichten, „dass die Nation [der Herero] als solche vernichtet werden muss“ unmissverständlich hervor. Ende 1904 erhoben sich unter der Führung Hendrik Witboois auch die Angehörigen der Nama. Bis 1908 zogen sich die Kampfhandlungen hin und kosteten mindestens 50000 Afrikaner das Leben. Die gegenwärtige Forschung geht davon aus, dass die deutsche Kriegsführung und der Umgang mit Kriegsgefangenen dazu geführt hatten, dass 50 Prozent der Gesamtbevölkerung der Herero und Nama zwischen 1904 und 1908 den Kriegshandlungen zum Opfer gefallen sind.

Lange verdrängt, hat sich vieles inzwischen geändert. Das Gedenken an den Völkermord ist im Begriff institutionalisiert zu werden und bereits Bestandteil vieler Schulcurricula. Die deutschen Kolonialverbrechen können öffentlich weder marginalisiert noch in Abrede gestellt werden. Dass sich die gesellschaftliche Wahrnehmung der Kolonialvergangenheit in einer Transformationsphase befindet, offenbart auch die letztjährige große Ausstellung zum deutschen Imperialismus im Deutschen Historischen Museum. Und auch ein anderer Aspekt an der Ausstellung ist interessant: Am Ende der Ausstellung stieß der Besucher auf das in den 1960er Jahren demontierte und beschmierte Denkmal des für seine Strafexpeditionen gefürchteten ehemaligen Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika, Hermann von Wissmann. So offensichtlich die Herrenreitersymbolik des Denkmals dem Besucher entgegentritt, so ratlos entlässt es ihn mit offenen Fragen aus der Ausstellung: Wie soll mit den öffentlich immer noch sichtbaren Versatzstücken imperialer Herrenmenschenhybris im öffentlichen Raum umgegangen werden?

Quelle: Twitter

Nach wie vor gibt es in deutschen Städten nach Carl Peters benannte Straßen, ja sogar eine „Mohrenstraße“. Auch der Umgang mit vielen steinernen Monumenten der Kolonialzeit erscheint in diesem Zusammenhang mehr als fragwürdig. Da die Denkmäler nach dem Zweiten Weltkrieg auf nichts mehr verwiesen, und man sich als nicht unmittelbar betroffener Akteur der Dekolonisierung auch nicht von postkolonialen Debatten betroffen fühlte, ließ die westdeutsche Politik die Denkmäler lange vor sich hinschlummern. Sie hatten ihre Funktion für das kulturelle Gedächtnis so oder so verloren und fanden bis in die 1980er Jahre hinein nicht viel Beachtung.

Wer sich dennoch mit ihnen beschäftigt, stößt auf Geschichten, die beispielhaft für den Umgang der Bundesrepublik mit ihrer Kolonialvergangenheit sind. Eines der Denkmäler, das sogenannte „Train-Denkmal“, steht unscheinbar auf einer Promenadenwiese am Ludgeriplatz im Westfälischen Münster. 1925 errichtet vom Traditionsverein des Westfälischen Trainbataillons Nr. 7, sollte es dem Gedenken der Gefallenen der Einheit im Ersten Weltkrieg dienen. Waren schon bei der Einweihung des Denkmals revanchistische Reden zu vernehmen, so erfuhr das Denkmal 1928 seine endgültige Umdeutung zum Kolonialdenkmal durch die Einlassung von zwei Platten, die an zwei Gefallene – vom „Heldentod für Kaiser und Reich“ spricht die Inschrift – der Einheit im Kolonialkrieg 1904 – 1907 und einen gefallenen Trainsoldaten bei der Niederschlagung des Boxeraufstandes erinnern.

Widmungstafel am Train-Denkmal (1928)

Höchstwahrscheinlich waren beide Gedenktafeln zuvor in der Kaserne des Bataillons angebracht. Warum die Tafeln erst relativ spät Teil des Denkmals wurden, ist nur schwer zu rekonstruieren. Neben dem wachsenden Revisionismus der späteren Weimarer Republik ist jedoch auch zu beachten, dass der Dienst bei den Schutztruppen im Kaiserreich nicht sonderlich gut angesehen war. Außerdem war das katholische Münster eine Hochburg der kolonialkritisch ausgerichteten Zentrumspartei.

Die nachträgliche Anbringung wirft also nicht nur ein Schlaglicht auf das Gedenken an die Gefallenen des Hererokrieges sondern auch auf die Revanchegelüste der Rechten in der Weimarer Republik, die sich nach dem Verlust der Kolonien 1921 „im Schmollwinkel der Außenstehenden“ (Horst Gründer) befunden hatten. Die zur gleichen Zeit an Auftrieb gewinnenden Nationalsozialisten nahmen diese Steilvorlage gerne auf: Sowohl bestanden Schnittmengen im sozialdarwinistischen Menschenbild, als auch in der Überzeugung, dass das deutsche Volk mehr Raum benötige. Auch wenn Hitler nie vorhatte, an die Kolonialgeschichte in Afrika anzuknüpfen, so machte man sich die Kolonialbegeisterung der 20er Jahre, beispielweise durch die Stilisierung fragwürdiger Figuren wie Carl Peters zu nationalen Helden, doch zu Nutze. Vorzeigepersonen des öffentlichen Lebens, wie der Tierplastiker Fritz Behn, stellten ihr Schaffen bald in den Dienst der nationalsozialistischen Sache.

Doch wie ging es mit dem Train-Denkmal nach dem Zweiten Weltkrieg weiter? Da nur ein sekundäres Kolonialdenkmal, fand es zunächst keine Beachtung in der frühen Bundesrepublik. Erst ab den 1980er Jahren wurde es problematisiert und Forderungen nach Erklärungstafeln laut, gegen die sich die städtische Verwaltung unter Berufung auf den historischen Quellengehalt des Denkmals lange wehrte. Erst 2010 setzte eine Mehrheit im Rat durch, dass eine Gedenktafel am Train-Denkmal angebracht wurde, auf der „auch der zehntausenden Toten der unterdrückten Völker“ gedacht wird. Den Begriff „Völkermord“ sucht man auf der kleinen und inzwischen ziemlich beschädigten Tafel vergeblich.

Gedenktafel zum Train-Denkmal (2010)

Im Zuge der Skulptur Projekte 2017 ist wieder Bewegung in die Sache gekommen. Bereits 2015 hatte der Münsteraner Bundestagsabgeordnete Ruprecht Polenz die Auseinandersetzung im Rahmen des kulturellen Großereignisses angeregt.

Auf der nordöstlichen Promenadenwiese, in direkter Sichtlinie zum Train-Denkmal, steht nun Lara Favarettos „Momentary Monument – The Stone“. Aus Granit gearbeitet und über vier Meter hoch, korrespondiert es optisch mit dem äußeren Umriss des Train-Denkmals. Dies bleibt jedoch die alleinige Parallele – denn verweist das Train-Denkmal sowohl auf die Toten des Ersten Weltkriegs und der Kolonialzeit, so verweist „The Stone“ bewusst auf nichts: Der hohle Monolith, ohne Reliefs und äußeren Schmuck, wirkt auf den ersten Blick eher wie ein Findling. Wäre auf einer Seite nicht ein kleiner Schlitz, in den Spendengeld eingeworfen werden kann, vorhanden, so wäre das Kunstwerk zunächst eher schwer als solches wahrnehmbar.

Das Verhältnis von Kunst, institutionalisierter Denkmalpflege und Politik, in dessen Spannungsverhältnis „The Stone“ steht, tritt erst unverkennbar hervor, sobald der Besucher erfährt, dass das Kunstwerk nach Ende der Skulptur Projekte dekonstruiert und das eingenommene Geld einem wohltätigen Zweck zugeführt werden wird. Somit steht das „Momentary Monument“ der Denkmalkultur des Kaiserreichs, der auch das Train-Monument noch zuzuordnen ist, diametral entgegen: Die bisweilen gigantischen Denkmäler des Kaiserreichs wurden durch hohe Summen finanziert, die vorab von Vereinen gesammelt worden waren, um die Denkmalsarbeit dann von zumeist berühmten Künstlern ausführen zu lassen. Beachtet man die lange Lebensdauer und Deutungsgeschichte allein des Train-Denkmals, so wird deutlich, in welchem symbolischen Kontrast es zur kurzen Lebensdauer der Arbeit Favarettos steht.

Verweist ein Denkmal klassischerweise auf Ereignisse in der Vergangenheit, so verweist die Spendenintention hinter „The Stone“ auf die Gegenwart, lädt hingegen durch die räumliche Nähe zum Train-Denkmal gleichzeitig noch einmal zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Monument auf, das auch nach Ende der Skulptur Projekte dauerhaft Bestandteil des Stadtbildes sein wird. So ist es steinerner Restbestand kolonialer Vergangenheit und deutet nicht mehr die Verluste der Kolonien, sondern vor allem auf das erlittene Unrecht und die Genozide im kurzen Kapitel des deutschen Imperialismus hin.

„The Stone“ v. Lara Favaretto aus der Reihe „Monumentary Moments“, Skulptur Projekte Münster (2017)

Das Train-Denkmal, seine Geschichte, und die jüngste künstlerische Auseinandersetzung mit ihm lassen deutlich hervortreten, dass auch die Bundesrepublik eine postkoloniale Gesellschaft ist, die die Leerstelle des Umgangs mit den Monumenten kolonialer Vergangenheit im öffentlichen Raum langsam schließt. Hervorzuheben ist, und dies zeigt sich beispielhaft am Münsteraner Train-Denkmal, dass die Impulse kritischer Auseinandersetzung oft von zivilgesellschaftlichen Initiativen ausging und von staatlicher Seite oft ablehnend auf diese Erinnerungskultur „von unten“ reagiert wurde.

Die Antirassismus- und Friedensinitiativen der 1980er Jahre, die die fehlende Auseinandersetzung mit dem kolonialen Denkmalserbe angestoßen hatten, wollten oftmals auf die Kontinuität rassistischer Denkmuster bis in die Gegenwart hinweisen. Im Zeitalter der massenhaften Migrationsbewegung erscheint dieses Problem aktueller denn je.

Im gesamtgesellschaftlichen Kontext bleibt weiterhin offen, wie wir uns als postkoloniale und postheroische Gesellschaft generell zur zeremoniellen und symbolträchtigen Erinnerungskultur verhalten wollen und was diese im digitalen Zeitalter zu leisten vermag, um das bis in die Gegenwart doch eher randständige Gedenken an die Kolonialgeschichte und ihre zeitgenössischen Implikationen mehr ins Bewusstsein breiterer Gesellschaftskreise zu rücken.

Auch hinsichtlich der Kolonialgeschichte ist es wichtig, sich der Selektivität ritualisierten Erinnerns bewusst zu bleiben. Dies lässt sich am Beispiel Afrikas in zweifacher Hinsicht illustrieren: Kurz nach dem Witbooi-Aufstand brach aufgrund der Zustände auch in Deutsch-Ostafrika eine Rebellion aus, die sich bald zum sogenannten Maji-Maji-Krieg ausweitete. Nicht zuletzt aufgrund einer Politik der verbrannten Erde seitens der deutschen Kampfverbände geht die Forschung inzwischen von etwa 300.000 Opfern durch Kämpfe und Hungersnöte aus. Trotzdem spricht weder Politik noch Geschichtswissenschaft von einer auf Genozid ausgerichteten Form der Kriegsführung.

Kaum Beachtung findet zudem deutsche Kolonialgeschichte jenseits von Afrika. Dies offenbart sich schon an der Tatsache, dass Deutschland in allen sechs afrikanischen Nachfolgestaaten Botschaften unterhält, in den sechs pazifischen Staaten hingegen keine einzige. Nach wie vor ist auch nicht klar, wie Angehörige der Opfer in das Gedenken mit eingebunden werden sollen, von den Forderungen nach Reparation und Wiedergutmachung ganz zu schweigen. Es wäre ein großer Verlust für das kulturelle Gedächtnis, wenn die gerade in Bewegung geratene Erinnerungskultur im ritualisierten Zeremoniell erstarren sollte, ohne diese Fragen zu berücksichtigen.

Samuel Maharero gelang es 1904, allerdings mit lediglich 1.500 Überlebenden, durch die Wüste nach Britisch-Beschuanaland (Botswana) zu entkommen. Das gesammelte Geld aus „The Stone“ übrigens, welches in unmittelbarer Nähe zur Ausländerbehörde am Ludgeriplatz steht, wird einer Einrichtung für Geflüchtete in der Nähe von Büren gestiftet. „The Stone“ wird im Anschluss an die Skulptur Projekte dekonstruiert werden. Ob das Train-Denkmal nach dem Ende der Skulptur Projekte in Münster, immerhin der „Stadt des Westfälischen Friedens“, wieder in Vergessenheit geraten wird, bleibt abzuwarten.

 

Bilder: © Dominik Gerwens

Irritat-451 mit Augäpfelgelee – ein Interview mit Zeha Schröder

1968 wird C(hristoph) H(enrik) Schröder in Wuppertal geboren, 1987 schlägt er die Familienlaufbahn als Bandwirker und Gummiumspinner aus und inszeniert mit 19 Jahren erstmals am Stadttheater seiner Heimatstadt. Ab 1989 Studium von Musikwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Altgriechisch. Nach bundesweiter Arbeit als freischaffender Regisseur gründet er 1999 mit F(reuynde) + G(aesdte) eines der wenigen „reinrassigen“ Location-Theater Deutschlands. 2012 erhält er mit F + G einen Innovationspreis der bundeseigenen Stiftung „Land der Ideen“. 2013 präsentiert er zu Büchners 200. Geburtstag dessen Gesamtwerk. Er lebt in einem Steinhaus an der Ems und einem Holzhaus am Polarkreis. Und außerdem in diesem Irritat-451 von einem Interview.

Die Fragen stellt Daniel Ableev.


Für 2014 steht ja Kafkas Verwandlung auf dem „F + G“-Programm. Glaubst du, das ist ein guter Aufhänger für ein Gespräch über das Experimentelle in der Kunst?

 

Schwer zu sagen. Kafka selber ist sicher in mancher Hinsicht ein Experimenteller. Speziell bei der Verwandlung bleibt mir die Spucke weg, wie er groteske Phantastik und Familiendrama und schwarzen Humor miteinander verquirlt. Das ist in Sachen Style schon ziemlich „niedagewesen“. Aber was mache ich als Regisseur daraus? Wo ist die Balance zwischen Respekt vor dem Text und dem eigenen, neuen, letztlich respektlosen Kniff? – Wir sprechen uns nach der Premiere! …

Wie viel Experimentalitätshunger hattest du, als du F + G gründetest, abgesehen von dem Grundkonzept „Theater an ungewöhnlichen Orten“?

Genau 6417 Gramm bei Geburt des Theaters … Also, puh, ich  mein, wie soll man das quantifizieren? Es war definitiv so, dass ich Sachen radikal anders machen wollte, als ich es vorher als freischaffender Regisseur bei anderen Ensembles erlebt hatte. Aber das bezog sich größtenteils auf Organisationsstrukturen, Teamwork und so. Klar, solche Locations wie ein Burgturm, eine Kneipe oder eine Seebühne, die wir ja ganz anders „bespielen“ müssen als einen normalen Bühnenraum, die haben per se immer viel Experimentelles und vor allem Unwägbarkeiten mit reingebracht. Aber rein künstlerisch wollten wir nicht das Theaterrad neu erfinden. Mir kommt das immer etwas suspekt vor, wenn Künstler sagen: in all den Tausenden Jahren abendländischer Kultur hat’s das noch nie gegeben, was ich hier vorhabe! Ich definier das Experimentelle lieber umgekehrt: wir gehen mal los ins Unbekannte und gucken, was wir da finden. Wenn es komplett neu ist: klasse. Wenn es mich zu eher „konventionellen“ Inszenierungslösungen bringt: auch in Ordnung. Wichtig ist, dass es gut ist und passend – nicht um jeden Preis neu und unerhört.

Völlig einleuchtend. Dennoch: Was war aus deiner Sicht das (inszenatorisch/inhaltlich, oder auch logistisch) Kühnste, was ihr bis dato gemacht habt?

Darf ich drei aus 52 nennen? Logistisch: eine schräge Musicalinszenierung im Freilichtmuseum, bei der die Handlung sich ständig verzweigte und die parallelen Handlungsstränge nach 5 oder 7 Minuten wieder sekundengenau aufeinander treffen mussten. Ästhetisch: eine Moby-Dick-Version, bei der wir im Innenraum einer denkmalgeschützten Kirche ein 2000-Liter-Bassin mit Milchwasser gefüllt haben, das durch einen Glasboden von unten elektrisch beleuchtet wurde. (Jeder Elektriker wäre ausgerastet.) Inhaltlich: eine Stückrecherche auf den Spuren des Tunguska-Events, wo wir 2009 mit vier sibirischen Trappern eine Woche lang knietief durch die Sümpfe gestapft sind auf der Suche nach nem abstürzten UFO. Na ja, oder nach sonst irgendwelchen mysteriösen Funden. Und ich hab sogar was Spektakuläres entdeckt, aber das hab ich erst zuhause kapiert.

Was ich dich unbedingt mal fragen wollte: Hast du in Tunguska eigentlich irgendwas Spektakuläres entdecken können?

Hahaha! … Ja. Aber das hab ich erst zuhause kapiert. – Du willst nicht zufällig wissen, was …?

Ich bin zwar nicht so der Fan von revolutionären Entdeckungen, Paradigmenwechseln und dergleichen, aber wenns unbedingt sein muss … Oder um es mit den Worten meines unironischen Ichs zu sagen: VERRAT ES SOFORT!!!

Nee, lieber nicht. Pause. Na gut, ausnahmsweise. Lange Pause. Aber es ist ein Geheimnis!! – Also, ich muss ein bisschen ausholen: Im Vorfeld unserer Recherche hatten wir damals Gerüchte gelesen, dass seit dem Tunguska-Event von 1908 irgendwas mit dem Magnetfeld in der Region nicht ganz richtig tickt. Die Rede war von drehenden Kompassnadeln, stehenbleibenden Quarzuhren usw. Als wir unsere Trapper darauf ansprachen, die ja zum Teil schon seit Jahrzehnten da durch die Wälder streifen, hieß es: „Alles Quatsch und Legendenbildung, nie was Außergewöhnliches bemerkt.“ Okay, gut so weit. Wieder zuhause in Deutschland, hab ich ein zerbrochenes Fahrtenmesser auf einen Tisch gelegt, das ich da im Wald gefunden hatte und das bestimmt ein paar Jahre da rumgelegen hatte, bevor es in meine Tasche gewandert ist. Auf dem Tisch lag fünf Zentimeter weiter eine kleine Metallfeder, so ähnlich wie die Federn in Kugelschreibern. Und das Ding ist regelrecht zum Messer rüber gesprungen und hat sich an die Klinge geklebt. Das Messer ist nach ein paar Jahren ruhigem Liegen in der Region zum Powermagneten mutiert. Cool, oder? Oder nicht? Ist das zu banal? Und was hat das mit experimenteller Kunst zu tun?

Nun, ist vielleicht kein unheimlicher Fall für die X-Akten, aber spannend und ein bisschen gruselig ist das schon – ich hatte so ein Erlebnis jedenfalls noch nicht. Experimentalität dürfte vielleicht in der Sprungkurve zu suchen sein, die die plötzlich angezogene Metallfeder hingelegt hat.

Interessant. Willst du damit andeuten, dass die Experimentalität eines Vorgangs durch seine Sprungkraft, also letztlich durch die Direktionskonstante bestimmt wird? Dann wäre nach dem Hooke’schen Gesetz die Direktionskonstante D, also die Experimentalität, definiert als Quotient aus der künstlerischen Kraft F und der Länge des Kunstwerks ΔL. Sprich: D gleich F durch Delta L. Das würde auch bedeuten: je mehr künstlerische Wucht sich auf je weniger Theaterminuten verteilt, desto experimenteller. Was wiederum eine schlüssige Erklärung dafür wäre, warum Hooke selber sich so in die Micrographia gestürzt hat: möglichst viel Art Power fokussiert auf ganz kleine Objekte. – War es das, was du damit sagen wolltest?

Eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass es sich bei Peter Greenaway möglicherweise um einen sog. Rühlvogel handelt. Diesbezüglich zwei Fragen: Was ist für dich ein Rühlvogel? Und was macht Greenaway, der nicht nur zur Avantgarde, sondern auch zu deinen Favoriten zählt, in deinen Augen so besonders?

Also, dass Greenaway ein führender Rühlvogel sein soll, sogar Leiter der europäischen Sektion, das hab ich schon öfter gehört – halte ich aber für ein böses Gerücht. Ich mein, ich sehe da kaum Parallelen, außer eben, dass er sich wie ein Rühlvogel von Eklektizismen ernährt. Aber das tun wir beide ja auch, ohne welche zu sein. (Oder bist du etwa einer?) Was allerdings stimmt: er gehörte, neben Bausch und Ciulli, zu meinem persönlichen Dreigestirn – damals, als ich noch klein war, also Anfang der Neunziger. Ich hab ihn mal darauf angesprochen, dass er Linkshänder ist, genauso wie der Draughtsman im Kontrakt des Zeichners. Seine Antwort war: „Kein Wunder, das ist ja auch immer meine eigene Hand, die in den Naheinstellungen zu sehen ist.“ Und das wäre wohl auch meine Antwort auf deine Frage: das Spezielle an Greenaway oder genauer: das, was geblieben ist, obwohl ich mich von dem Tableaukino und Bildertheater des Dreigestirns inzwischen meilenweit entfernt habe – das ist seine persönliche Codierung. Viele Künstler gerade in den Darstellenden Künsten versuchen ja, allgemeinverständlich und globalwirksam zu sein. Das ganze System Hollywood baut darauf auf, und das funzt ja auch und hat seine Berechtigung. Aber dann gibt es die anderen: ein Greenaway-Film ist eine verschlüsselte Nachricht, und der Dechiffrierungscode, den niemand komplett kennt, das ist er selbst: der Künstler. Ich mag das, auch in der eigenen Arbeit. Ich finde das wichtiger als einen bestimmten konstanten Stil, also die sog. „künstlerische Handschrift“.

Ich komme mir hin und wieder auch wie ein Rühlvogel vor, ehrlich gesagt. Deine kunsttheoretischen Ausführungen finde ich interessant. Und schade, dass Greenaway nichts über das Schicksal von Prof. Klandestine Fallobst zu berichten wusste. Ein hartes Versäumnis?

Na ja, einerseits andererseits. Ich meine, dafür hat er immerhin das Leben von Tulse Luper haarklein rekonstruiert. Also, der arme Mann kann sich ja nicht um alles kümmern! – Wusstest du übrigens, dass Luper mit vollem Vornamen „Tulse Henry Purcell“ heißt? Immerhin DER Purcell, der mit seiner Frostgeistarie den Grundsound für Greenaways Koch, Dieb usw. geliefert hat. Und dessen Dido, geschrieben 1689 für ein ohlala Mädchengymnasium, gute dreihundert Jahre später meine allererste Operninszenierung war. So schließt sich der Kreis …

Du hast eine Oper inszeniert?! Und was war eigentlich das anspruchsvoll zu timende Musical, von dem du vor ein paar Fragen gesprochen hast?

Ähm, ja. Nein. Drei Opern. Aber reden wir jetzt nicht zu viel über mich und zu wenig über das Experimentelle?

Du verlierst ein paar Worte über deine Operntätigkeit, und ich mache im Gegenzug einen auf Metawechsel und frage dich: Welchen konversationsdramaturgischen Move (oder Kniff, oder „Rühl“) sollte ich an dieser Stelle wagen, um unser Gespräch zu einem wahrhaft experimentellen Interview werden zu lassen?

Also gut, mit den Opern war das so — oh! ah! holy fu**! Puh, das war knapp, das hätte böse enden können. Sorry, ich war kurz abgelenkt, mir sind nach deiner Frage zwei Rentiere im Dunkeln fast auf die Motorhaube gesprungen, daraufhin hab ich mich spontan gegen Rentierfrikassee und auch gegen das entgegenkommende Auto entschieden und bin zwei Meter tief im Straßengraben gelandet, wo ich dann eine halbe Stunde im Schneesturm auf den Trecker warten musste, der mich da rausgezogen hat. DAS IST KEIN WITZ! Ähm … Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, die Opern. Also, Purcells Dido und Aeneas, das war wirklich experimentell, das hab ich mit Sprechschauspielern und ohne Sänger als eine Art Playbackoper inszeniert. Der Soundtrack lief die ganze Zeit durch, und die Darsteller haben dazu agiert, teils pantomimisch oder mit Taubstummenzeichen, teils auch sprechend. Die beiden anderen Opern waren Webers Freischütz und Rossinis Barbier von Sevilla als Hochschulprojekte mit Studenten der Berliner Universität der Künste (was damals noch die HdK war). Da bestand das Experimentelle eher darin, mit Sängern so zu arbeiten, dass sie aus der typischen Arienstatik mal rauskommen und sich natürlich bewegen und verhalten. Der Hauptdarsteller hat damals wochenlang gewettert, dass da so ein Sprechtheaterfuzzi seine Finger drin hat und dass das, was ich vorhabe, gar nicht klappen kann. (Wobei, bitte, ich hatte zumindest ein komplettes Musikwissenschaftsstudium auf dem Buckel.) Aber immerhin, nach der Premiere – und nach dem Applaus von 1.200 entzückten Leutchen – ist er zu mir gekommen und hat so was gesagt wie: „Okay, du hattest recht, hat doch geklappt.“ Das fand ich sehr sportlich von ihm … So. Und jetzt dein Move!

Ist es nicht ziemlich experimentell, wenn ein selbsternannter Seltsamkeitsforscher mit 32 Jahren zum ersten Mal Kafkas Verwandlung liest?

Denkst du dabei an jemand bestimmten? Und wie ist es dir beim Lesen ergangen?

Na ja, streng genommen hab ich noch nicht zu Ende gelesen … Aber ich behaupte mal, dass Herr Kafka die tolle Eigenschaft hat, einen psychologisch vielschichtigen und feinsinnigen, regelrecht dokumentarischen Surrealismus (vielleicht nicht ganz das richtige Wort) zu pflegen, dessen zwei Hauptpotentiale – zu verstören und zu berühren – zueinander in wechselseitiger Beziehung zu stehen scheinen. Apropos – warum fühlst du dich vom Genre der Mockumentary eigentlich so angezogen?

Huch – tu ich das?! Könnte sein. Denkst du an was Konkretes, abgesehen von der Verwandlung?

Ib blaube, bich entbinnen zu bönnen, dass du Zelig sehr mochtest und Fraktus sehen wolltest. Ich kenne bisher nur den ersteren. Schon mal daran gedacht, eine Pseudoku auf die Bühne zu bringen?

Na gut, ertappt; und die X-Files, meine Darlings, haben ja auch durchgängig was „Mockumentarisches“ … Also, dran gedacht schon, aber bisher ist der richtige Stoff noch nicht aufgetaucht. (Oder ich hatte Tomaten auf den Augen und hab ihn nicht erkannt.) Andererseits sind die echten Dokus, die ja rund zwei Drittel unseres Spielplans ausmachen, auch immer eine großartige Sache. Auf der Recherche für ein Stück durch die Sahara zu streifen oder auf den Äußeren Hebriden in umtosten Felsklippen zu hängen, macht ja auch nicht wenig Spaß!

Wie ist das bei dir? Würdest du sagen, dein Pinguinmädchen Alu ist eine Mockumentation? Vielleicht sogar eine autobiografische Mockumentation?

Autobiografisch, ja. Damals floss das Aluminium noch aus allen Öffnungen, so ähnlich wie das Spice in Dune. Aber das einst Erlebte ist endgültig zu Kunst erstarrt, so ähnlich wie der Masterstorch im Gebärmutterprisma. Damit wären wir auch schon beim Thema: Welche Synonyme für „experimentell“ fallen dir ein?

Uff. Deine Fragen, Kollege … Also, Word hat mir gerade „versuchsweise“ und „probeweise“ angeboten, aber auch „geprüft“ und „bestätigt“. Letzteres sehe ich radikal anders. Könnte „ungeprüft“ ein Synonym sein? Ich sag’s mal so: Mein Synonym für das Experimentelle wäre kein Wort, sondern ein Bild – die Taube auf dem Dach. So gesehen, sollte eh alle Kunst experimentell sein. Der Spatz in der Hand – das, was wir schon können, was „geprüft und bestätigt“ ist – das ist künstlerisch uninteressant. Wenn Yves Klein hundertmal dasselbe blaue Bild malt, dann bete ich für ihn, dass er dabei immer noch nen neuen Dreh hat. Also entweder in jedem einzelnen Gemälde nen neuen Strich. Oder von mir aus besteht das Experiment auch in der Serie, im steten Tropfen, im Versuch, hundertmal exakt denselben Strich zu ziehen. Aber wenn nur das erste Blaubild ein Experiment war und der Rest fürs Konto: dann kommt er ins Künstlerfegefeuer und der Fitzliputzli zwingt ihn, viertausend Jahre lang gelbe Bilder zu machen. Selbst schuld!!

Aber wenn gerade jene von dir mit Vorsicht bis Abscheu „genossenen“ epigonalen Geometrien den Kern des Künstlerisch-Experimentellen bilden, was dann? Oder ist der Gedanke, Stumpfsinn zur neuen Originalität zu erklären, zu fies (oder gar viehisch)?

Nun ja … – ja.

Und wie doof (oder gar bestialisch) würdest du mich finden, wenn ich dich darum bäte, Argumente dafür zusammenzutragen, warum Musik/Tonkunst nichts weiter als primitive Scheiße ist? Immerhin sind das bloß Schallwellen, die unsere beknackten Innenorgane kitzeln und unseren beschissenen Hirnchen irgendwelche erlesenen Feinheiten suggerieren usw.

Ist das ein FSK18-Interview?!? Hoffentlich. Falls ja: Das schweinische Kitzeln aller möglichen inneren Organe ist ja an sich schon ein Wert, ob nun Prommelfell oder Trostata. Erst recht, wenn Musik im Spiel ist. – Oh, und jetzt, wo ich sowieso im Fettnapf steh, lass uns über Peinlichkeit sprechen. Peinlichkeit und Experimentalität wohnen ja eh quasi Wand an Wand … Einer meiner peinlichsten musikalischen Momente war der, als ich mit, weiß gar nicht, 16 oder 17 Jahren in München in der Philharmonie gesessen und relativ viel Unruhe generiert hab, weil mich Celibidaches Dirigat von Bruckners Vierter in eine, ähm, peinlich, mehr oder minder konvulsivische Trance versetzt hat. Da saß also dieser langhaarige leptosome Teen im ersten Rang, zuckend und japsend und mit geschlossenen Augen, und drumherum eine Schar von wohlbetuchten bajuwarischen Konzertabonnenten, die sich von mir gelinde gesagt auf die Füße gepisst fühlten wie weiland Henry Hathaway von John Wayne. Und ich? Hab davon nix mitgekriegt, ich war wirklich in einer anderen Welt, in Brucknistan oder was weiß ich. Komplett weggebeamt. Das und nichts anderes ist Musik: die größte Macht der fühlenden menschlichen Welt. Ich kann über Tonfolgen ins Heulen kommen, buchstäblich, keine Metapher. Ich mach nur deshalb ersatzweise Theater, weil ich so ein elend dilettantischer Musiker bin. Wenn ich deine Instrumentbeherrschung hätte, würdest du keine einzige Inszenierung von mir sehen können. Ergo: Prostata, Bruckner, Heulkrampf – genug Argumente?

Dein leidenschaftliches Plädoyer für jenes Phänomen, das ich soeben für überbewertet erklären wollte, lässt mich augenblicklich verstummen. Doch will ich als starker Vertreter der Denkschule der Psychopathischen Skepsis anmerken, dass ich – von informationellem Flüsterschwachsinn umgeben – nichts unhinterfragt lassen will, daher die Frage: Hatte dein Bruder schon mal Sex mit Außerirdischen?

Nun ja … – nein.

An dieser Stelle sei ein Intermezzo zwecks Sagung von „dass dieses unser Gespräch erdenklich positiv ist“ erlaubt: Es ist erhellend, ergiebig, erstaunlich, erogen, erheiternd, erratisch, erfreulich, und natürlich – erdogan. Daher wäre es erwünschenswert, wenn es noch möglichst lange währen würde. Übrigens waren mir vorhin die beiden Wörter „Celibidaches“ und „Dirigat“ nicht geläufig, sodass ich im ersten Moment annahm, es handle sich bei den beiden um Namen eines fremdländischen Musikers, immerhin reimt sich Dirigat auf Montserrat. Erst das genauere Hinsehen gab mir die Erkenntnis, dass „Dirigat“ von „dirigieren“ kommt, analog zu Eregat/erigieren, Manipulat/manipulieren oder Systemat/systematisieren. Thymian.

Oh pardon. Ich wollte dich mit meinem Irritat nicht irritieren. Apropos, wusstest du übrigens, dass es sich bei den Irritieren um die verstörendsten Kreaturen des Universums handelt? Das männliche Irritier erreicht nur ein Vierhundertstel von der Größe des Weibchens, ist aber dabei zwölf Mal so schwer. Seine graphithaltigen Borsten werden auf manchen Planeten geerntet und als Bleistifte verwendet, und das Augäpfelgelee ist eine Delikatesse, die nur Halbgöttern und jungfräulichen Königinnen vorbehalten ist. Sowie Theaterregisseuren, natürlich.

Es ist ja so, dass heutzutage jegliche Kunst (darunter auch die Irritiere) in binärer, digitaler Form (Brits 8 Brytes) vorliegt. Empfindest du es nicht auch als eine extrem unökonomische Masche, dass beispielsweise eine mp3 erst in Elektrizität umgewandelt wird, dann über den Lautsprecher oder Kopfhörer in Schall, dann zurück in Elektrizität und schließlich in ein gehirnfähiges, im Folgenden provisorisch als *.geh bezeichnetes Informat? Könnte man nicht diese ganzen „Mittelsmänner“ umgehen, indem man jegliche der oben beschriebenen Umwandlungen für obsolet erklärt? Ist es nicht ein legitimer menschlicher Wunsch, alles Wiss- und Erfahrbare, also egal ob Star Wars oder das Preisschild an einem neuen Mountainbike bei Fahrrad Franz, zu uniformieren, um anschließend diesen ultramassiven Entropiebrei über irgendeine Form von Schlauchapparat zu internalisieren? Eins sein mit der Existenz und all ihren …?

Sehr interessante Frage, großartige Frage. Deine Fragen werden immer besser, sie erreichen allmählich die kritische Temperatur von Irritat 451. Insbesondere die letzte Rückumwandlung von Ohrschall in Hirnstrom hatte ich erfolgreich verdrängt. Und wir kennen das ja aus der Wechselstube: Wenn du Drachmen in Pesos in Drachmen in Pesos in Drachmen wechselst – dann sind wegen der Wechselgebühren hinterher keine Drachmen mehr übrig, siehe Griechenland. Fortgesetztes Hin- und Hertransformieren von Hertz in Watt hätte also letztinstanzlich entweder totale Stille oder totale Debilität zur Folge. Kein Schall mehr. Oder aber kein Hirnstrom. Lieber intelligent im ewigen Silentium oder hirntot im Klangparadies? Ich wähle Tor zwei. Was war nochmal deine Frage?

Wollt ihr das Totale Hirntot?! Eigentlich hätte ich hier 3 Experimentalnüsse in petto, die ich dir zum Knacken anbieten möchte, damit du sagst, was deiner Meinung nach drin ist: Nuss 1: „Menschelnde Würmer“, Nuss 2: „1 Kilo Zucht“ & Nuss 3: „Umbro ist ein idiotisches Wort, das einem wohl einfällt, wenn man zu wenig geschlafen hat und überarbeitet ist …“. Und wenn du vorhin auf die Frage „Hatte dein Bruder schon mal Sex mit Außerirdischen?“ mit „Ich habe keinen Bruder geantwortet hättest“ … öhm, ich meinte: „Ich habe keinen Bruder.“ geantwortet hättest, dann hätte ich „Also ja.“ entgegnet, um damit einen unaussprechlich grotesken Akt anzudeuten, der mit dem Verschwinden bzw. Niegewesensein eines Menschen/Kindes in unmittelbarem Zusammenhang steht.

Na gut. Diesmal wähle ich Nuss Drei. Das Problem beim Umbro wie generell bei jedem schlötbaren Neologismus ist ja, dass er sich im Moment der Niederschrift bereits in ein Hapaxlegòmenon verwandelt, bzw. durch meine reziproke Reprise bereits in ein Bislegòmenon. Er geht gewissermaßen vom Labor direkt in den Bestand, zumindest ins Archiv, er existiert aus eigenem Recht. Die Schöpfung negiert mithin den Schöpfer, da geht es dem Dichter nicht besser als dem Herrgott. Die einzige Möglichkeit, diesem kataklysmischen Verhältnis der Sprache zu ihrer Herkunft zu entkommen, bestünde darin, das eigene Heureka zu taggen wie Vespucci das neue Indien: Amerika. Dann würdest du aber keinen Umbro gebären (Trislegòmenon!), sondern allenfalls einen Ableff. Wäre das etwa besser als das Niegewesensein?

Dann frage ich mich, wie wohl ein selbstrefentielles Tagging aussehen würde, wenn ich einen Ableff entdecken würde? „Abafall“? Und wie sähe ein korrekter Metadatensatz für die Interviewfrage „Was hältst du als ‚Freier’ eigentlich von Stadttheatern?“ aus?

Letzteres ist eine so provokante wie tiefsinnige Frage. Offen gestanden, es ist wahrscheinlich die kühnste Interviewfrage, die mir als Freier, wie auch als Freiem, je gestellt wurde. Eine ehrliche Antwort darauf würde den Schlüssel liefern nicht nur zu meinem gesamten inszenatorischen Schaffen, sondern zum Verständnis experimenteller Kunst allgemein und auch des Universums. Umso bedauerlicher, dass ich dieses zugegeben erdogane Tastaturtelefonat nun umgehend beenden muss. Einerseits wegen der ridikulösen, ja nachgerade (stadt-)theatralischen Ferngesprächstarife, andernteils auch aufgrund der Tatsache, dass das Essen fertig ist. Der Theoretisch ist schon gedeckt, was wiederum sehr praktisch ist. Es gibt gesottenen Ableff und Augäpfelgelee vom männlichen (!) Irritier: exquisit lecker, wenn auch sehr schwer im Magen liegend. – Abschließend kannst du mich aber gern noch fragen, ob ich dir verrate, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut.

Wie, das solls gewesen sein? Dabei hatte ich doch noch so viele Fragen an dich: Was ist deine wildeste und möglicherweise geheimste (Theater-)Vision, die du eines Tages zu realisieren hoffst? Verrätst du mir, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut – nen Platten auflegen? Was ist das experimentellste Stück Kunst, das du je gesehen hast und gut fandest?

Okay, okay, diese drei noch. Meine wildeste Theatervision: längst geschehen, ich hab doch schon hundert Inszenierungen aufm Buckel. Das experimentellste Stück (Theater-)Kunst: Oscar Wildes Salome als Berliner Puppentheater mit Müllobjekten, extrem weird! Und was war nochmal die dritte Frage? Na komm, sei nicht so!

Danke dir, lieber Zeha, für dieses amüsante Gespräch, das zwischen Tief- und Unsinn tunnelt wie ein experimenteller Thunfisch.

Wie, und die Antwort interessiert dich nicht???????????????????????????

DOCH!

Ja dann, anders klappt es leider nicht, frag mich nochmal, ob ich dir verrate —

Verrätst du mir, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut?

tut, tut, tut, tut, tut, tut, tut …

A B C D E F G H I J ……………….

(Fühlst du, wie das „K“ lauert?!)

;oP