Bei der Oscar-Verleihung war die Ansage des falschen Gewinners in der Kategorie “Bester Film” das große Thema, im Mittelpunkt hätte aber der grandiose Siegerfilm Moonlight stehen müssen, der es durch kluge und subtile Filmsprache schafft, eine Außenseitergeschichte kitschfrei auf die Leinwand zu bringen.
In den Slums von Miami
Liberty City, Miami ist kein angenehmer Ort – das macht uns die Introszene von Moonlight unmissverständlich klar. Juan, ein örtlicher Drogenboss, fährt lässig mit seiner Pimp-Karre vor und beobachtet einen typischen Austausch an einer der Häuserecken in der Nachbarschaft. Ein älterer schwarzer Mann versucht eine jüngere Ausgabe von ihm davon zu überzeugen, ihm doch noch irgendwie für ein paar Dollar Drogen zu verkaufen. Juan, ein kräftig gebauter Gangster mit Durag und Kippe hinterm Ohr zeigt sich amüsiert. Alltag in den Slums von Amerika. Eingeführt werden wir in diese Welt mit einer Kameraführung, die uns in die Mitte des Geschehens nimmt. Eine unaufgeregte Folgekamera wechselt mit kreisenden Kameraschwenks um die Figuren.
Doch dann wechselt das Tempo abrupt. Juan beobachtet, wie eine Gruppe Jungs im Alter von etwa acht Jahren eine Treibjagd auf einen ihrer schmächtigeren Mitschüler anregt. Die Kamera begleitet den Verfolgten, der sich später als Hauptprotagonist des Films herausstellen soll, in seinem verzweifelten Versuch zu entkommen. Auch hier brilliert Moonlight mit einer immersiven Kameraführung, die mit ungewöhnlichen Perspektiven und Unschärfe spielt und uns erlaubt den Figuren früh schon sehr nah zu kommen. Wir springen mit dem Verfolgten über Hindernisse, quetschen uns durch Zaunlücken und retten uns zusammen mit ihm in ein verlassenes Haus, das nach näherer Inspektion wohl auch einigen Junkies als Unterkunft diente.
Drogenboss Juan nimmt sich des verlorenen Jungen an und will ihn zu seiner Mutter zurückbringen, doch schnell stellt sich heraus, dass die Hauptfigur dieses Filmes weder besonderes Interesse an verbaler Kommunikation hat, noch daran nach Hause gebracht zu werden.
Trailer Moonlight Quelle: Youtube, A24 all rights reserved.
Who is you, Chiron?
Juan erwirbt schließlich doch noch das Vertrauen des Jungen namens Chiron und wird zu einer Art Ziehvater für ihn. Den kann Chiron auch gebrauchen, denn er kommt aus zerrütteten Familienverhältnissen und hat einige Probleme mit seinen Mitschülern und seiner drogenabhängigen Mutter.
Moonlight erzählt die Geschichte eines Jungen, der in äußerst widrigen Verhältnissen seine Identität sucht. Dabei ist nicht nur die Frage “Wer bin ich?” zu beantworten, sondern auch die Frage “Wer will ich sein?”, wie Juan Chiron in einem Gespräch offenbart.
“At some point you’ve got to decide who wanna be.
Can’t let nobody make that decision for you.”
Chirons Entwicklung wird in Moonlight in drei Teilen dargestellt, in denen wir ihn als Kind, als Jugendlichen und als jungen Mann begleiten. Schon früh wird klar, dass Chirons Leben nicht nur schwer ist, weil er als junger schwarzer Mann in einem der ärmsten Viertel in den USA aufwächst, sondern weil er auch innerhalb dieser abgeschlossenen Welt ein Außenseiter ist. Chirons Leben ist voller Unsicherheit und emotionaler wie physischer Brutalität. Moonlight ist in vielerlei Hinsicht ein Coming-of-Age-Film auf Crack – alle Fragen, die dazugehören (Wer bin ich? Wen liebe ich? Wer will ich sein?) werden gestellt, aber in einem extremen Kontext.
Moonlight – Die hohe Kunst der Subtilität
Man hätte mit dieser Grundkonstellation nun einen schrecklich kitschigen und pathetischen Film machen können – eigentlich sind alle Grundzutaten da: Der arme schwarze Junge erlebt Schicksalsschlag nach Schicksalsschlag und wird von fast allen Seiten misshandelt, bis er schließlich unter dem Druck zerbricht und mit viel Lärm ausflippt. Aber Moonlight ist ein zu kluger Film, um in diese offensichtliche Falle zu tappen. Er bewahrt sich seine Subtilität, indem er eine empathische Bildsprache mit sehr bedachter Narration verbindet. Die stärksten emotionalen Reaktionen werden nicht mehr großem Pathos vermittelt, sondern durch starke schauspielerische Leistungen und die besondere Art des Erzählflusses.
Was Moonlight hoch angerechnet werden sollte, ist, die emotionale Intelligenz des Zuschauers nicht zu unterschätzen. Die Szenen wirken, weil sie die Kunst der Auslassung (Schweigen des Protagonisten, unscharfe Kamera, sehr emotionale Ereignisse der Handlung werden nur indirekt thematisiert etc.) perfektionieren und nicht der Versuchung erliegen, Tiefe mit dem Holzhammer erzwingen zu wollen. Auf diese Weise schafft es der Film, wirklich jeden Zuschauer – egal ob er sich die Situation eines Chiron vorstellen kann oder nicht – auf der Basis seines Mensch-Seins zu erreichen und die Identitätsfrage zu stellen, ohne ihn zu verschrecken.
Und so ist die Antwort, die Chiron auf diese Frage gegen Ende des Filmes findet, sehr bezeichnend für diesen wunderbaren Film:
“Who is you, Chiron?
I’m me man. I ain’t trying to be nothing else.”
Beitragsbild: Standbild aus dem Trailer von Moonlight; A24 all rights reserved.