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In Vergangenem gefangen – Balzanos „Das Leben wartet nicht“

Der deutsche Titel und Klappentext von „Das Leben wartet nicht“ versprechen eine Feel-Good-Geschichte. Das wird dem Roman des italienischen Autors Marco Balzano aber nicht gerecht.


Ninetto ist in Gedanken. Er ist gedankenverloren. Während die Erinnerungen an Vergangenes lebhaft – mal bunt, mal grau – vor seinem inneren Auge vorbeiziehen, bleiben vom Gegenwärtigen nur dumpfe, schleierhafte Umrisse. Was soll man auch tun, wenn man nicht nur in seinen Gedanken, sondern auch im Gefängnis, in dem jeder Tag gleich aussieht, gefangen ist? „Ninetto, was hast du getan?“ – Diese Frage beschäftigt die Leser٭innen des Roman „Das Leben wartet nicht“ von Marco Balzano von Beginn an. Aber sie müssen sich gedulden. Denn der Ich-Erzähler macht keine Anstalten, den Grund für seinen Gefängnisaufenthalt zu verraten. Stattdessen folgen ihm die Leser٭innen auf der Gedankenreise durch seine Vergangenheit:

Italienische Landflucht

Diese beginnt Ende der 1950er in einem kleinen italienischen Dorf, in dem der kleine Ninetto in Armut, aber mit guten Freunden und dem Unterricht des geliebten Lehrer Vincenzo, aufwächst. Mundraub und Kinderarbeit stehen hier an der Tagesordnung. Schon früh muss auch Ninetto auf die Schulbesuche verzichten und die Familie mit seiner Arbeit unterstützen. Sein Wunsch, Dichter zu werden, wird somit schneller zunichte gemacht, als er reifen kann. Da aber auch die Arbeit im Dorf nicht reicht, macht er sich mit neun Jahren und einem erwachsenen Bekannten auf den Weg nach Mailand. So wie viele Kinder in dieser Zeit aus den ländlichen Gegenden Süditaliens in die Großstädte flüchten, um dort Arbeit zu finden.

Furchtloser Junge mit Gewaltfantasien

Eine Geschichte über einen „furchtlose[n] Junge[n] mit der Sonne des Südens im Herzen“, der „nach Mailand kommt und unerschrocken sein Glück sucht“, verspricht der Buchrücken. Der Text klingt wie die Zusammenfassung einer leichten Sommerlektüre. Davon kann jedoch bei „Das Leben wartet nicht“ keinesfalls die Rede sein. Ja, furchtlos und unerschocken ist der Protagonist. Aber er ist nicht der stets fröhliche und optimistische Held, wie es der Klappentext glauben machen möchte: Ninetto kann sich keine Gedanken um das Glücklichsein machen. Seine tägliche Routine ist ein harter Kampf ums Überleben in den ärmsten Arbeitervierteln in und um Mailand herum. Und mag er anfangs vergnügt sein, treiben ihn doch auch Gewaltfantasien umher: Immer wieder erfühlt er das Klappmesser in seiner Tasche. Oder er malt sich aus, wie er dem Verlobten der schönen Angestellten in der Wäscherei, für die er als Fahrradbote arbeiten, die Gabel in den Handrücken rammt.

Die letzte Ankunft

Dass es nicht nur bei den Gewaltfantasien bleibt, ahnen die Leser٭innen. Die Frage nach dem Grund des Gefängnisaufenthalts soll die Spannung des Romans aufrecht erhalten. Doch die Auflösung lässt zu lange auf sich warten. Den Leser٭innen bleibt nichts anderes übrig, als mit den Gedanken des Protagonisten diesen Teil seiner Vergangenheit zu umschiffen und sich mit Andeutungen zufrieden zu geben. Aber auch wenn der Roman stellenweisen seine Längen hat, überzeugt er doch durch eine empathische und bildliche Sprache.

Mit „Das Leben wartet nicht“ gibt Balzano, 2015 mit dem Literaturpreis „Premio Campiello“ ausgezeichnet, einen melancholischen Einblick in die Geschichte der Kinderemigration in Italien Ende der 1950er, Anfang der 1960er und damit den damaligen Geflüchteten eine Stimme. Und so bleibt die Fragen: Warum hat man sich bei der deutschen Übersetzung für einen Titel entschieden, der bereits ein Ratgeberbuch benennt? Der Originaltitel ist doch so viel passender: „L’ultimo arrivato“.

„Ich schaffe es nicht mehr, meine Geschichte weiterzuerzählen. Ich bin blockiert“, sagt Ninetto und dann erzählt er sie doch – bis zur letzten Ankunft.

Titelbild: © Marco Balzano