Schlagwort: Kunstfilm

Freiheitsstatue im Lockdown

„vanderkurth“ – unter diesem Künstlernamen ist das Multitalent Tomas Kurth seit Jahrzehnten in seiner Heimatstadt Stuttgart aktiv. „Bildender Künstler“ ist zu eng gefasst, und selbst „Maler, Bildhauer, Musiker, Fotograf, Bühnenbildner“ beschreibt nur einige seiner vielen Tätigkeiten. Nach hunderten von Gemälden, tausenden von Zeichnungen und einer Unmenge an Radierungen hat vanderkurth sich seit zwei Jahren auf Statuen spezialisiert. Während des Lockdowns 2020 / 2021 schuf er seine „Freiheitsstatue“ und enthüllte sie letzten Sommer. Alexander Tuschinski, Regisseur und Filmemacher, porträtiert den Künstler in seinem abendfüllenden Dokumentarfilm „Statue of Liberty“, der sich in den letzten Zügen der Postproduktion befindet.

von Alexander Tuschinski


Tom, bei unserem ersten Treffen beeindruckte mich sofort, dass du seit Jahrzehnten ununterbrochen Kunst erschaffst. Manches verkaufst du, anderes bleibt bei dir. Selbst neben einem „Brotjob“ findest du immer Zeit für eigene Arbeiten. Viele Künstler fangen zwar mit einem ähnlichen Elan an, aber nur wenige halten ihn so lange durch. Woher stammt die Energie für dein kreatives Schaffen?

Gott sei Dank ist das, was ich tue, zurzeit nicht strafbar. Wäre ich ein Triebtäter mit kriminellem Hintergrund, würde die Justiz einen forensischen Psychiater auf mich ansetzen, um die Gründe für mein Treiben zu ergründen. Als Künstler genieße ich einen Freiraum; der Volksmund nennt ihn „Narrenfreiheit“. Das deutsche Grundgesetz hat für Leute wie mich in Artikel 5, Absatz 3 das Kunstrecht festgeschrieben.

Das erklärt, so hoffe ich, dass ich meinen künstlerischen Trieb – und um nichts anderes handelt es sich hier – hemmungslos und ohne Rücksicht auf die eigene Vernunft auslebe, Opfer und Verzicht inklusive. Das Maß der Energie ist genetisch und biologisch bedingt,  dafür bin ich meinen Eltern dankbar.

Zwischen Kunst und Ukulele – vanderkurth:

Wann wurde dir klar, dass du deine freie Kunst zum Lebensinhalt machen willst? Hattest du auch überlegt, andere Berufe zu ergreifen?

Uuuh je! Klarheit kenne ich nur vom Hörensagen. Ich bin ein vom Leben getriebener. Ich balanciere auf einem schmalen Seil, den Abgrund kann ich mir nicht leisten. Der „Lebensinhalt“ ist das Leben selbst; komme, was da wolle!

Auch der Nebel ist real existent; da muss man durch, will man die Sonne sehen. Klar habe ich mir andere Berufe überlegt. Ich wollte Vorstandsvorsitzender von Mercedes Benz werden – hat leider nicht geklappt.

Viele deiner Werke sind sehr humorvoll, oft gesellschaftskritisch, und praktisch nie in der aktuellen Tagespolitik verhaftet. Wie beschreibst du deinen Stil?

Ja, Humor ist mein zweiter Vorname, der dritte: Wasser. Die real existierende Wirklichkeit, so, wie sie sich mir in den Weg stellt, ist für mich nur mit Humor zu ertragen. Und mit Kritik. Wer einmal gedanklich aus dem, was wir „Bewusstsein“ nennen, auch nur für kurze Zeit ausgestiegen ist, für den gibt es kein Zurück. Die Tagespolitik macht mich fassungslos, da sollen andere ran, dafür ist mir meine Zeit zu schade.

Natürlich hätte ich gerne, dass man*in einstens sagt: „ah, der VANDERKURTH, war das nicht der, der den Stilismus erfunden hat?“ Doch dazu bin ich nicht eitel genug. Ich male Bilder, erschaffe Plastiken, singe Lieder, schreibe Texte und mache blöde Sachen. Mehr nicht.

Seit Juni ist deine „Statue of Liberty“ enthüllt. Wie fühlst du dich damit, und wie kamst du auf die Idee zu diesem neuen Werk?

Seit drei Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Statuenserie „Denkmäler“, die gewöhnliche Menschen auf ein Podest stellt. Als 2020 die Lockdowns begannen, fielen plötzlich viele Auftrittsmöglichkeiten, Ausstellungen und Aufträge weg. Zur gleichen Zeit trennten sich auch noch meine langjährige Frau/ Freundin und ich auf dem Weg zum Traualtar.

Da freundete ich mich erstmal wieder mit mir selbst an und stellte mich auf einen Sockel. Dort stand ich dann eine Weile wie ein Trottel. Das war befreiend.

Aber zurück zu deiner Frage: Das deutsche Wort „Einfall“ beschreibt ganz gut den Vorgang. Ideen kommen meist aus heiterem Himmel und fallen von dort oben direkt in das Gehirn des Künstlers da unten. Und sie sind äußerst flüchtig. Wohl dem, der einen Skizzenblock oder ähnliches zur Hand hat! Und ich hatte ihn griffbereit, als die Freiheitsstatue herunterfiel, deshalb blieb dieser Einfall der Nachwelt erhalten. Möge sie an der Hafeneinfahrt von Stuttgart, gleich ihrer New Yorker Namensvetterin vor hundert Jahren, die ankommenden Migranten ermahnen, dass hier eine große Aufgabe auf sie wartet. Freiheit kann auch anstrengend sein, ist sie doch gleichzeitig mit Verantwortung verbunden. Aber jetzt werde ich schon wieder zu ernst.

Unser Film „Statue of Liberty“ entstand oft ganz spontan. Ich drehte meist auf dem Smartphone und hatte nach jedem Drehtag neue Ideen, wie er weitergehen könnte. Meist setzte ich einfach nur Zeit und Drehort fest. Am Set fielen uns beiden oft komplett neue Dinge ein und wir setzten sie direkt um. Beim Schneiden schuf ich dann daraus Tag für Tag den Film. Wie empfandest du den Dreh?

Mir liegt spontanes Arbeiten sehr. Ich habe schon bei vielen verschiedenen Filmproduktionen mitgewirkt, meist als Setbauer. Dein Dreh war aber anders als alle, bei denen ich bisher war. Es fühlte sich an, als ob wir jeden Tag zusammen ein Gesamtkunstwerk schaffen. Die Kreativität hat „gesprüht“, alles schien möglich, es gab keinerlei äußere Vorgaben. Nicht einmal die Laufzeit war von Anfang an klar. Zuerst schien es ein Kurzfilm zu werden, doch dann wurde er abendfüllend. Du kamst oft auch einfach spontan vorbei. Wir hatten an manchen Tagen gar nicht vor, zu drehen, und dann entstanden trotzdem neue Szenen, meistens die besten!

Am Set hatte das Gefühl, mich entfalten zu können, du nahmst mich künstlerisch auf Augenhöhe ernst. Ich merkte immer wieder, dass du an jedem Tag schnell eine genaue Vorstellung hattest, was du jeweils drehen wolltest – aber du mochtest es dabei trotzdem, immer wieder spontan ganz neue Ideen zu integrieren. Und ich war immer wieder beeindruckt, wie du im Schnitt dann aus unseren lustigen Tagen ein kohärentes Werk geschaffen hast. Oft hatte ich Deine Anwesenheit gar nicht wahrgenommen, das möchte ich als Kompliment verstanden wissen. Der Film ist eins meiner Highlights der letzten Jahre.

vanderkurth mit Alexander Tuschinski beim Dreh (v.r.n.l.):

Deine „Denkmäler“ haben einen eher comichaft-stilisierten Look, den du auch bei der Freiheitsstatue beibehalten hast. War das eine bewusste Entscheidung?

Ja, klar! Da ich endlich berühmt werden will, müssen ich und meine Statuen in einem Look daher kommen, den alle verstehen und lieben. Man kann es auch den größten gemeinsamen Nenner nennen, um einmal mehr zu kalauern. (>siehe Humor weiter oben)

Vor den Denkmälern gab es immer wieder bestimmte Phasen in deinem Schaffen. Wie weit planst du diese im Voraus?

Ich plane nix, ich bin ein von den Phasen Getriebener.

Ouzo, das griechische „Nationalgetränk“, inspirierte deine „Ouzographien“: Hunderte humorvolle Zeichnungen von Ouzogläsern, die über Jahre oft spontan in einer Kneipe entstanden. Darin verdichten sich extrem viele kreative und lustige Ideen auf kleinstem Raum. Ich finde, sie sind eins deiner Hauptwerke. Erzähl bitte darüber.

Ja, auf die bin ich auch sehr stolz, auch wenn die Entstehung für die Gesundheit nicht gerade zuträglich war. Du hast ihnen in deinem Film den Raum gegeben, den sie verdienen, obwohl ich anfangs nicht so begeistert davon war. Aber als ich von Deinem Hintergrund als Historiker erfuhr, habe ich mich demütig gebeugt und die Dose der Pandora geöffnet. Sie sind nur Zeugnis meiner Zeichentechnik, durchdekliniert an einem einzigen Sujet.

Du arbeitest oft gegenständlich, „figürlich“. Abstrakte Werke finden sich selten in deinem Schaffen. Wie kommt das?

Als ich in den 80ern an der Kunstakademie in Stuttgart studierte, war in der Kunstwelt figürliches Arbeiten verpönt. Die Malerei wurde für tot erklärt. Bildhauern, die figürlich arbeiteten, haftete der Ruch des „Dekorativen“ an. Meine Kollegen, die abstrakt arbeiteten, taten das nur, um hurtig fertig zu werden und schneller wieder in die Kneipe zu kommen. Das war nicht mein Ding, obwohl ich nichts gegen Kneipen habe. (> siehe OUZOGRAFIE)

Du spielst viele Instrumente, gerade hauptsächlich die Ukulele. Schon 1975 hattest du mit „Flick Flack Huckepack“ ein Album produziert. Wie waren deine musikalischen Anfänge? Hattest du als Jugendlicher Musikunterricht?

Ja, aber mein Musiklehrer konnte mich nicht besonders leiden. Meistens musste ich vor der Türe im Gang stehen. Das „Picknick im Neandertal“, so heißt das Opus, war meine Rache. Schön, dass die Musik vierzig Jahre später nun in deinem Film als Soundtrack zu Ehren kommt.

In „Statue of Liberty“ hast du oft sehr lustige Sprüche und Darbietungen improvisiert. Bei Testvorführung haben dich einige Zuschauer mit Bob Ross verglichen, wenn du geduldig in einigen Szenen die Statue mit Putz bestreichst und dabei erzählst. Hast du dich je als Schauspieler versucht?

Nicht wirklich, aber meine Gesangslehrerin hat mir einige Kniffe beigebracht. Eines Tages wollte Sie, dass ich mir eine Figur ausdenke. So kam es, dass ich den „singenden Tankwart“ gebe; so trete ich auch in deinem Film auf. Das Publikum will unterhalten werden und das ist auch OK. Auf Bob Ross bin ich neidisch, der hat mir das Merkantile voraus.

In den 70ern hattest du im Schwarzwald eine Art kreative, alternative Wohngemeinschaft in einem historischen, ehemaligen Gasthof gegründet. Wie lief das ab?

Uh, ja. Die jugendliche Elite zog es damals aufs Land. Wir wollten die Welt retten. Wir waren die Keimzelle der GRÜNEN. Wir bauten unser eigenes Gemüse an und backten unser eigenes Brot aus biologisch-dynamischem Mehl. Die Dorfbewohner schüttelten den Kopf und sagten: „Die Bauern sind weg, jetzt kommen die Experten!“

Ich bin Einzelkind und meine Jugend war aus verschiedenen Gründen eher problematisch. Da war es sehr wohltuend, eine eigene Wahlfamilie mit Gleichgesinnten zu haben.

Mit meinen Künstlerbiographien möchte ich Menschen inspirieren, selbst ihre Kreativität auszuleben. Was möchtest du Lesern und Zuschauern mitgeben, die gern kreative Projekte erschaffen möchten, aber noch Hemmungen haben?

Es ist beglückend, etwas Sinnvolles getan zu haben, ist ein Werk gelungen. Man sollte sich allerdings keine Illusionen machen. Meist ist es Arbeit, und man muss auch mit dem Scheitern klarkommen. Ich werde oft gefragt: „Ja, kann man*in denn davon leben?“

Da ist hilfreich, man hat einen gutverdienenden Partner oder einen pfiffigen Manager, der einen nicht über den Tisch zieht. Oder man*in ist Bob Ross und ist ein Genie der Selbstvermarktung. Ein Superstar zu werden ist den wenigsten vergönnt. Gelingt es dennoch – umso besser!

Aber nur zu, Mut hat noch keinem geschadet. Hemmung dagegen schon.

Ein Vorschmack auf Alexander Tuschinskis „Statue of Liberty“:

Quelle: YouTube

Mehr über Regisseur und Filmemacher Alexander Tuschinski im Interview von Schauspieler Thomas Goersch.

 

Bilder: © Alexander Tuschinski

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Moonlight – Die hohe Kunst der Subtilität

moonlight

Bei der Oscar-Verleihung war die Ansage des falschen Gewinners in der Kategorie “Bester Film” das große Thema, im Mittelpunkt hätte aber der grandiose Siegerfilm Moonlight stehen müssen, der es durch kluge und subtile Filmsprache schafft, eine Außenseitergeschichte kitschfrei auf die Leinwand zu bringen.


In den Slums von Miami

Liberty City, Miami ist kein angenehmer Ort – das macht uns die Introszene von Moonlight unmissverständlich klar. Juan, ein örtlicher Drogenboss, fährt lässig mit seiner Pimp-Karre vor und beobachtet einen typischen Austausch an einer der Häuserecken in der Nachbarschaft. Ein älterer schwarzer Mann versucht eine jüngere Ausgabe von ihm davon zu überzeugen, ihm doch noch irgendwie für ein paar Dollar Drogen zu verkaufen. Juan, ein kräftig gebauter Gangster mit Durag und Kippe hinterm Ohr zeigt sich amüsiert. Alltag in den Slums von Amerika. Eingeführt werden wir in diese Welt mit einer Kameraführung, die uns in die Mitte des Geschehens nimmt. Eine unaufgeregte Folgekamera wechselt mit kreisenden Kameraschwenks um die Figuren.

Doch dann wechselt das Tempo abrupt. Juan beobachtet, wie eine Gruppe Jungs im Alter von etwa acht Jahren eine Treibjagd auf einen ihrer schmächtigeren Mitschüler anregt. Die Kamera begleitet den Verfolgten, der sich später als Hauptprotagonist des Films herausstellen soll,  in seinem verzweifelten Versuch zu entkommen. Auch hier brilliert Moonlight mit einer immersiven Kameraführung, die mit ungewöhnlichen Perspektiven und Unschärfe spielt und uns erlaubt den Figuren früh schon sehr nah zu kommen. Wir springen mit dem Verfolgten über Hindernisse, quetschen uns durch Zaunlücken und retten uns zusammen mit ihm in ein verlassenes Haus, das nach näherer Inspektion wohl auch einigen Junkies als Unterkunft diente.

Drogenboss Juan nimmt sich des verlorenen Jungen an und will ihn zu seiner Mutter zurückbringen, doch schnell stellt sich heraus, dass die Hauptfigur dieses Filmes weder besonderes Interesse an verbaler Kommunikation hat, noch daran nach Hause gebracht zu werden.

Trailer Moonlight Quelle: Youtube, A24 all rights reserved.

Who is you, Chiron?

Juan erwirbt schließlich doch noch das Vertrauen des Jungen namens Chiron und wird zu einer Art Ziehvater für ihn. Den kann Chiron auch gebrauchen, denn er kommt aus zerrütteten Familienverhältnissen und hat einige Probleme mit seinen Mitschülern und seiner drogenabhängigen Mutter.

Moonlight erzählt die Geschichte eines Jungen, der in äußerst widrigen Verhältnissen seine Identität sucht. Dabei ist nicht nur die Frage “Wer bin ich?” zu beantworten, sondern auch die Frage “Wer will ich sein?”, wie Juan Chiron in einem Gespräch offenbart.

“At some point you’ve got to decide who wanna be.

Can’t let nobody make that decision for you.”

Chirons Entwicklung wird in Moonlight in drei Teilen dargestellt, in denen wir ihn als Kind, als Jugendlichen und als jungen Mann begleiten. Schon früh wird klar, dass Chirons Leben nicht nur schwer ist, weil er als junger schwarzer Mann in einem der ärmsten Viertel in den USA aufwächst, sondern weil er auch innerhalb dieser abgeschlossenen Welt ein Außenseiter ist. Chirons Leben ist voller Unsicherheit und emotionaler wie physischer Brutalität. Moonlight ist in vielerlei Hinsicht ein Coming-of-Age-Film auf Crack – alle Fragen, die dazugehören (Wer bin ich? Wen liebe ich? Wer will ich sein?) werden gestellt, aber in einem extremen Kontext.

Moonlight – Die hohe Kunst der Subtilität

Man hätte mit dieser Grundkonstellation nun einen schrecklich kitschigen und pathetischen Film machen können – eigentlich sind alle Grundzutaten da: Der arme schwarze Junge erlebt Schicksalsschlag nach Schicksalsschlag und wird von fast allen Seiten misshandelt, bis er schließlich unter dem Druck zerbricht und mit viel Lärm ausflippt. Aber Moonlight ist ein zu kluger Film, um in diese offensichtliche Falle zu tappen. Er bewahrt sich seine Subtilität, indem er eine empathische Bildsprache mit sehr bedachter Narration verbindet. Die stärksten emotionalen Reaktionen werden nicht mehr großem Pathos vermittelt, sondern durch starke schauspielerische Leistungen und die besondere Art des Erzählflusses.

Was Moonlight hoch angerechnet werden sollte, ist, die emotionale Intelligenz des Zuschauers nicht zu unterschätzen. Die Szenen wirken, weil sie die Kunst der Auslassung (Schweigen des Protagonisten, unscharfe Kamera, sehr emotionale Ereignisse der Handlung werden nur indirekt thematisiert etc.) perfektionieren und nicht der Versuchung erliegen, Tiefe mit dem Holzhammer erzwingen zu wollen. Auf diese Weise schafft es der Film, wirklich jeden Zuschauer – egal ob er sich die Situation eines Chiron vorstellen kann oder nicht – auf der Basis seines Mensch-Seins zu erreichen und die Identitätsfrage zu stellen, ohne ihn zu verschrecken.

Und so ist die Antwort, die Chiron auf diese Frage gegen Ende des Filmes findet, sehr bezeichnend für diesen wunderbaren Film:

“Who is you, Chiron?

I’m me man. I ain’t trying to be nothing else.”


Beitragsbild: Standbild aus dem Trailer von Moonlight; A24 all rights reserved.

Leos Carax: Holy Motors – Hermetisches Bild- und Konzeptwunder auf zelluloid Beinen

Holy-Motors

Kaum zu glauben, dass der Regisseur des zugegebenermaßen nicht biederen, aber doch relativ straighten Filmklassikers Die Liebenden von Pont-Neuf von 1991 rund 20 Jahre später einen der seltsamsten Filme seit langem drehen würde: Holy Motors.


Obwohl „zelluloid“ kein Wort ist, das man leichtfertig zur Angabe von Beinanzahlen benutzen sollte und zudem nur noch als Kino-Metapher dient im Zeitalter von Megabits und mechatronischem Internet, muss doch vorweggenommen werden, dass die fast einhellige Begeisterung über Leos Carax’ neuen Film Holy Motors nicht von ungefähr kommt, sondern einfach von der Tatsache herrührt, dass dieser von dem wandlungsfähigen, physisch sehr begabten Denis Lavant getragene Bizarro-Batzen ein geniales Cooliosum mit philosophischen Obertönen ist. Man kann durchaus Kritikpunkte finden, etwa dass das Limo-Finale keineswegs die Gewieftheit der vorhergehenden Episoden in sich hat und somit unnötig schwächelt – überhaupt ist die hemmungslose Mindfuck-Attitüde der ersten Hälfte ein wenig Schattenspender für den Rest des Films. Ins Zentrum ist aber vor allem die vielseitige Kühnheit des Projektes zu rücken, das ein wenig wie eine waghalsige Mischung aus Die fabelhafte Welt der Amélie, Mulholland Drive – wobei deutlich unprätentiöser – und Raymond-Roussel’schem Locus-Solus-Enigma anmutet, weil auch hier einfach alles möglich zu sein scheint. Man stelle sich also auf Bewusstseinsverrückungen mittels Wahnwitzparade ein.

Zum Plot: Ein professioneller Schauspieler/Aktionskünstler namens Monsieur Oscar, der anscheinend ganz ohne Kameras (na ja, fast ohne) in immer wieder neue, disparate Rollen schlüpft, macht Paris mit seinen Verwandlungen zum kultigen Episodenkarussell. Von tragikomisch bis phantasmagorisch, von Ansatzweise-SF zu Voll-Melodram, von anarcho zu schnarcho experimentiert hier der exzentrische Kinomagier Carax freakreich, unter anderem damit, dass er die beiden bisher eher wenig experimentellen Damen Eva Mendes und Kylie Minogue gecastet hat. Konsequenz: Holy Motors krallt sich ins Kopffleisch und lässt die alte Denkmurmel nicht los. Man fragt sich, warum nicht alle Filme so erfrischend sind, und hofft leise, dass der „Alles schon mal dagewesen“-Umstand noch viel mehr Filmemacher, und überhaupt Künstler aller Richtungre, dazu anspornt, kleinere und größere Jenseitigkeiten zu realisieren, um einer Verkrustung des quantitativ längst nicht mehr zumutbaren Weltkunstwusts entgegenzuwirken. Andererseits – wie würden Culture Vultures wohl reagieren, wenn jährlich nicht eine Umwerfung von diesem Format auf sie zukäme, sondern 18080? Jedenfalls ist der Wunsch, das Hirn des Rezipienten durch einige gut platzierte Wunder („Platzwunder“) zu (t)rösten, und in diesem Falle die Augen gleich mit, lobenswert.
Weiter so, ihr Leosse und Caraxe dieser Welt, nur her mit dem Gigablast!

Verrissverriss-Epilog: Wenn der Spiegel-Redakteur Jörg Schöning seiner Heckleriade von einer Rezension die Überschrift „Hokuspokus“ gibt, dann ist natürlich schon klar, was folgen wird. Da wird Carax wenig benutzerfreundlicher Kryptizismus vorgeworfen und die „radikalsubjektive Sicht“ des Films allen Ernstes als „anachronistisch“ (?) bezeichnet. Die Filmideen dieser „Sinnhuberei“ seien „antiquiert“, den Regisseur umgebe der „Nimbus eines Taschenspielers“ usw. Wow – so ein schlechtgelaunter Rezensent mit 0,00 Bock auf Schrägheiten darf eigentlich nicht an die Tastatur ran – als durchfleischter Prog-Metaller rezensiere ich ja auch keine Oi!-Punk-Platten. Aus jeder Pore des Schöning’schen Textkörpers strömt der uncoole Duft von aggressiver Voreingenommenheit, dass einem schwin- & -dlig wird. Selbst Lavants vierte Filmfigur, der stilbildende Kanalisationsleprechaun (of the Assis) namens Monsieur Merde, ist da weniger Troll. Ungern möchte man die Philister-Karte ausspielen, aber was bleibt einem angesichts der Unverschämtheit des hier dargebotenen Hater-Grusels übrig?

Alexej Balabanow: Cargo 200 (Груз 200)

An “Cargo 200” von Alexej Balabanow scheiden sich die Geister der Kritik, was ist angebracht: Psychotheraphie oder Auszeichnungen?


 

 

Die Handlung von Alexej Balabanows – seines Zeichens Zyniker und „Makaberettist“ – bereits vor Abschluss der Dreharbeiten berüchtigtem, laut Vorspann auf wahren Begebenheiten basierendem Film „Cargo 200“ spielt 1984, nicht lange vor Anbruch der Perestrojka, im Industriekaff Leninsk. Wie ein Menschenfleischwolf spuckt der Afghanistan-Krieg nach Input/Output-Manier jene im Titel euphemistisch bezeichneten Metall-Kisten mit gefallenen Soldaten in die Heimat aus, nur um im gleichen Atemzug neue aufzunehmen (vgl. entsprechende markante Filmstelle). Ein exemplarischer Leichnam in Form von Offizier Gorbunow wird aus dem Transport-Sarg gezerrt und neben eine nackte, ans Bett gefesselte junge Frau geworfen. Als die gequälte Seele in dem Toten ihren „zurückgekehrten“ Verlobten erkennt und daraufhin zu schreien beginnt, ist es weder das erste noch das letzte Mal, dass ihr Unmenschliches widerfährt.

Nach dem Besuch der Dorf-Russendisco macht der draufgängerische junge Alkoholiker Walera (Leonid Bitschewin) zusammen mit seiner Bekannten Anschelika (Agnia Kusnetzowa) gegen ihren Wunsch einen Abstecher zu einem Spiritus-Eremiten (Aleksej Serebrjakow), der in einer abgelegenen Hütte am Rande der Stadt mit Ehefrau und einem vietnamesischen Hausdiener lebt und hochprozentiges Eigenprodukt vertreibt. „Sunka“, so der slawisierte Spitzname des Asiaten, verfügt über eine schlichte Bescheidenheit, die in Kombination mit der unvollkommenen Beherrschung der russischen Sprache für einen raren humoristischen Akzent sorgt. Zugegen ist ebenfalls der Polizeikapitän Schurow (Aleksej Polujan), der schon frühzeitig ein unheimliches, da mit keinerlei menschlichen Gefühlsregungen einhergehendes Interesse an dem mitgekommenen Mädchen bekundet. Da ihr verantwortungsloser Begleiter Walera unmittelbar nach der Demonstration einer im Einsatz erlernten Alkoholabusus-Methode bewusstlos umkippt, ist das Mädchen den sadistischen Perversionen von Polizist/Soziopath Schurow ausgeliefert. Zwar versucht die taffe Frau des Hauses, Anschelika zu helfen, doch schließlich hält den Widerling nichts davon ab, amoralische Willkür walten zu lassen: Er erschießt den gutartigen Vietnamesen kaltblütig und vergewaltigt danach das Mädchen (mangels eines potenten organischen Pendants) mit einer Flasche – die Entartung nimmt ihren Lauf. Erste drastische Bilder werden hier realisiert, die so manchem Zuschauer den Weg aus dem Kinosaal weisen werden. Bekannte russische Schauspieler wie Ewgenij Mironow sind durch das Drehbuch vergrault worden und schlugen das Rollenangebot ab, was laut Balabanow auf Angst und mangelndes Vertrauen zurückzuführen sei. Durchaus beeindruckend ist die lakonische Rigorosität, mit der Balabanow die Abscheulichkeiten inszeniert. Die krassen Gewaltszenen erinnern entfernt an den einen oder anderen für Kinder ungeeigneten Kultfilm (z. B. „Fargo“ oder „Man Bites Dog“), mit dem Unterschied, dass hier kaum ein Lachen angeboten wird, um im Halse stecken zu bleiben. Auch die Darstellung des Polizisten, der mit seiner degenerierten und abstoßenden, über idiotische Sowjetcomedy-Auftritte eines Petrossjan lachenden Mutter in einer heruntergekommenen Wohnung lebt und das gewaltsam entführte Mädchen die ganze Zeit über angekettet lässt, ist peinlich darauf bedacht, die Schraube der Gewaltästhetik feste zuzudrehen. Die zwischen Hass und Horror hin- und hergerissene Anschelika schimpft, droht und winselt um Gnade, doch das Gesicht des wortkargen und irreparabel geschädigten Entführers, der in seiner pathologischen Leidenschaft ständig von „Ehefrau“ und „unerwiderter Zuneigung“ spricht, bleibt so monströs unbeeindruckt und regungslos, dass der Begriff des Inhumanen einer Untertreibung gleichkommt.

Nachdem Schurow ironischerweise die Ermittlungen im Entführungsfall übertragen werden, holt er beim Vater des Opfers, einem hohen Parteifunktionär, Gorbunows Briefe an dessen Verlobte ab, vorgeblich im Namen des Gesetzes agierend, aber in Wirklichkeit sich erneut über jedes Recht hinwegsetzend, was schon bald die hinterhältigste Szene des Films einleitet: Mit teuflisch monotoner Stimme verliest der Bösewicht die persönlichen Liebesbekundungen des anwesenden Toten, während die mehrfach verstörte und mit Leichen im Bett residierende junge Dame schluchzt und heult.

In einer Epoche unermesslichen Sittenverfalls und debiler Besäufnisse, deren Maßlosigkeit Selbstgebranntes als die russischste aller Seelen ausweist, hilft nur wenig. Dass Artöm (Leonid Gromow), Professor für wissenschaftlichen Atheismus, nach einem Disput über Gottes Stellung im Kommunismus am Schluss des Films in eine Kirche geht und darum bittet, getauft zu werden, ist nur ein schwacher Trost. Es ist ein wuchtiger Film, der die Seele so schwer belastet wie der nicht nur ein semantisches, sondern zu einem gewissen Grad auch onomatopoetisches Gewicht implizierende Originaltitel „Grus 200“. Den Soundtrack zu diesem Filmmonstrum bildet (mit Ausnahme der alternativen Kultsongs von Кино) ein tendenziell trashiges Pop-Liedgut, dessen gnadenloser Optimismus diese grausige (Polit-)Groteske bekräftigt.

Rund zehn Jahre plante Balabanow dieses Projekt, das auf radikale, subversiv-verachtende Weise mit der ethisch und ästhetisch entstellten Sowjet-Ära abrechnet. Doch solche künstlerische Kompromisslosigkeit wird nicht nur belohnt, was unter anderem die zuweilen feindseligen Reaktionen nach der Weltpremiere auf dem Filmfestival „Kinotawr“ in Sotschi zeigten: Statt den Film mit einer Auszeichnung zu ehren, wurde dem Regisseur eine Psychotherapie ans Herz gelegt. Auch traute sich kein Verleiher an die gefährliche „Fracht“ heran. Allerdings gab es auch günstiger gestimmte Kritiker, die Lob in den allerhöchsten Tönen walten ließen: Vom besten Regisseur Russlands, von einem genialen Meisterwerk und vom bedeutendsten Film der letzten Jahre war die Rede. In der Tat steht der sardonische Psychothriller den erschütternden Arbeiten eines Lars von Trier („Dogville“), Gaspar Noé („Irréversible“) oder Bruno Dumont („Twentynine Palms“) in nichts nach.


 

Daniel Ableev

Daniel Ableev, *1981 in Nowosibirsk; lebt als freier Seltsamkeitsforscher in Bonn. Veröffentlichungen in On- und Offline-Zeitschriften und –Anthologien; ausgezeichnet mit dem „KAAS & KAPPES“-Theaterpreis 2011 für D’Arquette; Mitherausgeber von „DIE NOVELLE – Zeitschrift für Experimentelles“. www.wunderticker.com / www.wunderticker.de