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„Böhmermann, du dummes Arschloch!“* Reflexionen über Freiheit und Beschränktheit

Das Neo Magazin Royale vom 31. März 2016 war ein paar Minuten kürzer als die anderen Folgen dieser Unterhaltungssendung. Was ist der Grund für diese Unregelmäßigkeit in dem ansonsten so professionell durchgeplanten Produkt? Die Beschwerde des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, der offenbar mit seinen politischen Aufgaben nicht ausgelastet ist und noch Zeit hat, nachts durchs globale TV-Programm zu zappen.


„Der Boss vom Bosporus“

Recep Tayyip Erdoğan schaut zwar viel fern, aber er lacht nicht gern. Schon gar nicht über sich selbst. Der mächtigste Mann in ganz Eurasien kontrolliert den sogenannten Flüchtlingsstrom, der flussabwärts Richtung Mitteleuropa fließt und er ist seit Neusten auch der stellvertretende Programmchef der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland. Zum ersten Mal machte er von seiner Macht Gebrauch, nachdem am 17. März 2016 das NDR-Satiremagazin extra 3 einen Song mit dem Titel „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ ausstrahlte. Erdoğan ließ daraufhin den deutschen Botschafter in das türkische Außenministerium bestellen und verlangte von diesem, dass die Bundesregierung die weitere Verbreitung des Satire-Songs verhindert. Es handelt sich um dieses Video hier:

Quelle: YouTube

Erdoğan bestätigte dadurch den Inhalt des Liedes, in dem behauptet wird, dass „der Boss vom Bosporus“ Presse- und Meinungsfreiheit missachte. In der deutschen Presse entbrannte eine hitzige Debatte darüber, was Satire darf (#witzefrei) und wie weitreichend die Befugnisse von Erdoğan sind. Diese Debatte und Erdoğans undemokratisches Verhalten waren dann der Anlass für Jan Böhmermanns Schmähkritik im besagten Neo Magazin Royale am 31. März. Auch hier wurde Erdoğan aktiv und verlangte von der Bundeskanzlerin höchstpersönlich, dass der entsprechende Teil dieser Sendung aus ‚dem Internet‘ entfernt werde. Erdoğan und Merkel gehören noch zu der Generation, die gelernt hat, unbequeme Dokumente einfach vom Aktenvernichter zerschreddern zu lassen. In der digitalen Welt ist das aber nicht mehr so einfach.

Die ungekürzte Version der Sendung hat sich glücklicherweise wieder angefunden, denn im Internet geht ja nichts verloren:

Quelle: Vimeo

„Was jetzt kommt, darf man nicht machen.“

… sagte Böhmermann in der Sendung und macht es dennoch: Er trägt ein Gedicht mit dem Titel „Schmähkritik“ vor. Darin sagt Böhmermann, dass Präsident Erdoğan Mädchen schlage, Sex mit Ziegen habe, einen kleinen Schwanz habe und vieles mehr. Böhmermann nutzt dieses Gedicht als Beispiel, um zu zeigen, was nicht durch Artikel 5 des Grundgesetzes gedeckt sei. Sein Sidekick weist ihn auch darauf hin, dass das Gedicht aus der Mediathek entfernt werden könne und, dass es juristische Konsequenzen haben könne. „Was jetzt kommt, darf man nicht machen.“ ist also kein einfacher Aussagesatz, sondern zusammen mit dem Gedicht und der Löschung des Videos ein performativer Akt.

Die Löschung des Videos war jedoch nicht genug – die türkische Regierung hat wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts am 10. April „ein förmliches Verlangen nach Strafverfolgung“ gegen Böhmermann eingereicht. Nun muss die Bundesregierung entscheiden, ob sie diesem Verlangen nachkommt. Hätte Böhmermann nur einen Tag gewartet, dann hätte er das Gedicht als Aprilscherz deklarieren können!

Inflation der Meinungen

Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber nicht alles, was jemand von sich gibt, ist überhaupt eine Meinung. Wenn ich sage „Ich glaube, dass es bald regnen wird.“ habe ich meine Meinung zum Wetter geäußert. Wenn der Nachrichtensprecher im Radio den Wetterbericht vorliest, hat er damit aber nicht seine Meinung geäußert. Der Geltungsanspruch der Sätze und die Rollen der Sprecher sind in beiden Fällen ganz verschieden. Die Wetterprognose kann an der Wirklichkeit scheitern und sich somit nachträglich als falsch herausstellen. Meine Meinung kann aber nicht im strengen Sinne falsch werden, denn als ich sie geäußert habe, habe ich ja wirklich geglaubt, dass es bald regnen werde.

Was ist nun der Unterschied zwischen Satz 1: „Ich bin der Meinung, dass Sex mit Ziegen verboten werden sollte.“ und Satz 2: „Ich bin der Meinung, dass Erdoğan Sex mit Ziegen hat.“? Satz 2 scheint ein ungewöhnlicher Sprachgebrauch von „Meinung“ zu sein. Das ist etwas, über das man gar keine Meinung haben kann. Es ist eine Behauptung, die sich je nach Beweislage als wahr oder falsch herausstellen kann. Satz 1 kann hingegen nicht wahr oder falsch sein, denn es ist ja nun einmal meine Meinung. Eine Meinung kann unbegründet, altmodisch oder unpassend sein, aber nicht wahr oder falsch. Die Meinungsfreiheit sollte für Sätze von Typ 1 gelten und nicht für Sätze von Typ 2 (das war jetzt eine Meinungsäußerung).

Jan Böhmermanns Äußerung „Erdoğan hat Sex mit Ziegen.“ ist gar kein Fall, in dem die Meinungsfreiheit greifen kann. Es ist aber auch nicht die Behauptung eines Nachrichtensprechers und sicherlich auch nicht die Äußerung eines Wissenschaftlers. Es ist der Satz, den ein Künstler in einem fiktionalen, distanzierten Kontext äußert. Die ganze Inszenierung macht das schon deutlich. Böhmermann trägt die Sätze in Reimform vor und wird von Musik begleitet – und zwar in einer Unterhaltungssendung. Er äußert weder seine persönliche, subjektive Meinung noch ist es eine Behauptung, mit der ein objektiver Geltungsanspruch verbunden ist. Böhmermann agiert hier wie ein Schauspieler, der in einer Rolle seinen Text spricht.

Die distanzierenden Anführungszeichen müssen bei der Rede eines Schauspielers implizit mitgehört werden. Es handelt sich um uneigentliche Rede. Das, was der Schauspieler sagt und das, was er denkt, müssen in gar keiner Beziehung zueinander stehen. Nicht die Meinung der Schauspieler steht im Drehbuch, sondern – wenn überhaupt – die Meinung einer fiktiven Figur. In diesem Fall ist es nur schwieriger zu erkennen, weil der Schauspieler Böhmermann den Fernsehmoderator Böhmermann spielt. Also geht es in der Causa Böhmermann gar nicht um Meinungs-, sondern um Kunstfreiheit. Wird es dadurch einfacher?

„Eine Zensur findet nicht statt.“

… heißt es in Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Artikel wird in der Debatte um Zensur und Verbote immer wieder angeführt. Er ist ein mächtiger, aber auch ein verschieden interpretierbarer Artikel. Das Problem liegt in seiner Struktur, die aus drei Absätzen besteht: Im ersten Absatz werden Meinungs- und Pressefreiheit garantiert, im dritten Absatz die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Kann also jeder – auch Böhmermann – sagen, was er will? Ganz so einfach ist es nicht, denn diese Rechte gelten nicht schrankenlos. Im zweiten Absatz werden die Rechte eingeschränkt: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Aber auf welche Rechte bezieht sich „Diese“? Sind nur die Rechte des vorherigen Absatzes gemeint? Oder sind neben diesen Rechten auch jene gemeint, die erst im folgenden Absatz genannt werden? Sind nur die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt oder auch die Freiheit von Kunst und Wissenschaft? Mir als juristischen Laien erschließt sich das nicht aus der Lektüre des Artikels. Das ist ärgerlich, denn ich bin nicht nur ein Staatsbürger mit einer Meinung und als Autor bei postmondän tätig, sondern auch Künstler und Wissenschaftler. Ich bin also gleich vierfach von Artikel 5 betroffen und würde mir daher mehr Klarheit darüber wünschen, in welcher Rolle ich was sagen und tun darf und was nicht.

Der eigentliche Skandal, der sich im Neo Magazin Royale abspielte, wurde durch die Diskussion um Meinungs- und Kunstfreiheit natürlich ganz überschattet: Der eingeladene Studiogast, Ronja Rönne, hat in der Sendung eine Zigarette geraucht! Das ist sicherlich nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Eigentlich hätte sie dazu vor die Tür gehen müssen. #rauchfrei

*Der Titel dieses Artikels ist keine Beleidigung, denn er steht zwischen Anführungszeichen.

Was kostet’s dich, Mensch? – Reiz der Fotografie

Die Frage nach unserer Verortung und Vernetzung in der globalisierten Welt ist allgegenwärtig. Die 56. Biennale in Venedig hatte sich bereits diesem Themenkomplex zugewandt. Damit am Puls der Zeit zu sein, dachte sich auch gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie 2015/16, ein nun zwölf Jahre altes Projekt für zeitgenössische Fotografie. Aktuell ist die durch Deutschland und Europa reisende Ausstellung unter dem Motto Quo vadis, Welt? – Reflexion und Utopie in den Hamburger Deichtorhallen im Haus der Photographie zu sehen.


Wer sich mit Kunst beschäftigt, übt sich automatisch in Kompromissbereitschaft und Toleranz. Das, was ich wahrnehme, muss mir nicht gefallen, muss sich nicht mit meinen Interessen oder Ansichten decken. Ich kann es scheiße oder belanglos oder beides finden – über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Solange der Künstler für seine Arbeit eine adäquate Form gefunden hat, die mir seine Sichtweise ermöglichen kann, ohne meine Phantasie dabei einzuschränken, hat er oder sie alles richtig gemacht. Zumindest bleibt es auf diese Art spannend, denn ich kann meine Perspektive wechseln, ohne meine eigene wirklich zu verlassen. Bei aller Lobpreisung der Toleranz durch Kunst: the magic moment lautet Zeitgeist. Wer ihn trifft, hat einfach nur Schwein. Van Gogh ist nur einer von vielen, den man darum bedauert, dass seine Kunst erst nach seinem Tod erfolgreich wurde. Ob er darüber glücklich wäre, heute in jeder zweiten Arztpraxis und in jedem dritten Café zu hängen, wird sich wohl nie klären. Dafür können wir hinterfragen, warum zum Beispiel Jeff Koons vor allem bei den Oligarchen so gut ankommt. Manchmal sind Hype und Zeitgeist nicht zu trennen.

Kommen wir zurück zu den guten Aussichten, die uns das gleichnamige Projekt verspricht. Klingt ein bisschen naiv, wenn man den Titel nicht auf die Gewinner des Wettbewerbs, sondern auf das diesmalige Motto bezieht; diese heitere Betonung wäre andererseits ein Stoß in die Rippen der kritischen Gesellschaftsbeobachter, deren Sorgenfalten auf der Stirn allmählich lächerlich zu wirken scheinen. Ja, die Welt verändert sich, aber das hat sie immer schon getan. Heute haben wir die Möglichkeiten, jederzeit überall zuzusehen und da bleibt ein gepflegter Brainfuck auf Dauer nicht aus.

Die Relevanz des Handwerks

Die Fotografie als künstlerisches Medium hat im Laufe ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte viel erlebt. Magie ging immer schon von ihr aus. Ob frühe Kunstfotografie, wie Man Ray sie betrieb, sinnliche, provokative Modefotografie à la Helmut Newton oder Fotografie als Cindy Shermans Spiel mit Inszenierung und Identität. Wozu noch malen? Die US-amerikanischen Fotorealisten eigneten sich in den 1960er/70er Jahren die Exaktheit der abgebildeten Realität mit Pinsel und Farbe an. Martin Kippenberger war einer, der in den 1980ern dann auf die derzeit wieder verpönte Malerei schiss, indem er erst recht malte. Und zwar scheiße (im Sinne von nicht altmeisterlich). Absichtlich. „Seine Bilder vom mickrigen Alltag duldeten keine malerische Idylle. ‚Schlechte Themen‘, sagt er, ,erfordern gute Malweise.‘“, schrieb Jörg-Uwe Albig in der art 7/86.

Gut, aber was ist mit der Fotografie? Welche künstlerische Relevanz hat sie in Zeiten von Pop-Journalismus, durchdesignten Lifestyle-Magazinen und tumblr? Will uns gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie etwas zeigen, was nur die Fotografie kann oder geht es rein um das, was reflektierte, weltgewandte Fotografen heute beschäftigt?

Sieht aus wie abstrakter Print, ist aber Fotografie: Digits of Light zeigt variierende schwarzweiße und bunte geometrische Muster auf kleinen ungerahmten und großen gerahmten Formaten, die Kolja Linowitzki mithilfe des Smartphones ganz klassisch analog in der Dunkelkammer erzeugt hat. Alte und neue Technik verschränken sich auf reduzierte, irgendwie poetische Weise.

Gelungen, denke ich mir, bis ich einen kleinen Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand entdecke, der ein zweiminütiges Video präsentiert, in dem ich Linowitzkis Arbeitsprozess in Zeitraffer aus der Vogel-klebt-in-der-Ecke-Perspektive bewundern oder viel eher nachvollziehen kann.

Überflüssig, denke ich mir, denn das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Dokumentation seiner Arbeitsweise. Wertet das die Arbeiten auf oder ab? Genügt es nicht, dass der Betrachter die Information der Herangehensweise nachlesen kann, falls es ihn interessiert?

In diese Dokumentations-Falle können Künstler, die ergebnisorientiert arbeiten, schnell tappen. Dieses mulmige Gefühl, dass es den Werken an Überzeugung und Präsenz mangeln könnte. Diese stichelnde Sorge, dass nicht jeder die Intension verstehen könnte. In Folge der Torschusspanik zieht er oder sie das Ass der Ehrfurcht vor dem Handwerk aus dem Ärmel und hofft die Zweifel endlich zu bezwingen. Oh mann. Immerhin hätte ich das Video fast übersehen. Das hinter Digits of Light stehende Konzept ist ausgetüftelt, im Grunde jedoch simpel. Schön anzusehen sind die filigranen, komponierten Belichtungsspuren allemal.

Das Ideal der Ruhe

Unser Alltag ist anstrengend, chaotisch, vor allem ungewiss und irgendwann ist auch mal mit der ganzen Feierei Schluss – Ruhe. Wir suchen Ruhe. Die Ruhe, die einst Caspar David Friedrich malte und heute durch diverse Photoshop-Filter gejagt wird, um dann tumblr mit dem Endergebnis zu fluten. Eins mit uns selbst durch die Natur, indem wir eins mit ihr sind. Spiritualität als scheinbarer Gegensatz zum urbanen Zombieismus. Jewgeni Roppel suchte die Spiritualität auf seine Reise durch West-Sibirien. Einige Fotografien hat er gerahmt, hoch und tief gehängt, andere direkt auf die Wand geklebt. Gegenüberstellungen von Mensch und Natur. Verschmelzung von Mensch und Natur. Auch in seiner Videoarbeit gibt es Überblendungen, Überlappungen von Naturaufnahmen, vorbeiziehenden Zügen, Gesichtern und Funkenflug. Während der visuelle Part nur fünf Minuten dauert, ist der auditive Teil zwei Stunden lang. Interessante Idee! Leider habe ich keine Zeit und offen gesagt auch keine Lust, mir die wispernde, mäandernde Soundcollage vollständig anzuhören. Ob mir dabei was entgeht? Auch wenn die Stimmung im Haus der Photographie einer kathedralen Stimmung nahesteht, fällt es mir schwer, mich im Rahmen einer Ausstellung auf ein spirituelles Erlebnis einzulassen. Magnit hat Roppel seine Reihe genannt, wie eine russische Supermarktkette. Das wirft ein etwas differenziertes Licht auf die Sache.

Tellerrandgeschichten

Franz Beckenbauer hatte gar nicht mal die Unwahrheit über Katar gesagt; also zumindest laufen die Bauarbeiter dort nicht mit Kugeln an den Beinen rum. Nicht auf Gregor Schmidts brillanten Aufnahmen. Ein Airforce-Testflug, in knallgelben Overalls an der Straße stehende Arbeiter oder sich aus dem Wüstenstaub schälende Silhouetten von halbfertigen Gebäuden fangen katarische Momente einprägend ein. Die Fotografien sind irgendwie schön. Kompositorisch schön, farbig schön. Und dahinter lauert die Tristesse, der Geruch von Korruption und eingefahrenen Gesellschaftsstrukturen. Hätte FIFA und der Korruptionsskandal nicht auf dieses arabische Emirat medienwirksam aufmerksam gemacht, würden die meisten Betrachter wahrscheinlich mit Fragezeichen über den Köpfen vor Schmidts Reihe Waiting for Qatar stehen. Große, gerahmte Abzüge, die zwischen stiller, politischer Bestandsaufnahme und ästhetischer Fotografie stehen.

Auch Lars Hübner hat seinen fotografischen Fokus aufs Ausland gerichtet. Die Abzüge sind in schlichte, helle Holzrahmen gefasst; Bäume wurden entwurzelt und zurechtgedrechselt, um in Innenräumen nackt als Präsentationsmedium zu dienen… Zugegeben etwas dramatisch gedacht, doch die Rahmung unterstützt in gewisser Weise die Fotos selbst. Hier gibt es nichts weiter zu sagen. Nothing to declare thematisiert Taiwans kapitalistisch bedingte Zerrissenheit zwischen Alltag und Freizeit, zwischen Traditionen und westlichen Einflüssen. Davon gibt es leidlich viele Länder, warum speziell Taiwan? Hat Hübner eine bestimmte Bindung zu diesem Land oder einfach einen günstigen Flug erwischt? Ich muss unwillkürlich an Slavoj Žižeks Auseinandersetzung mit dem heutigen Kapitalismus denken, den ich noch unbedingt lesen will. Lars Hübner hat es bestimmt schon getan.

Kyun-Nyu Hyuns einfach betitelte und doppeldeutige Konzeptarbeit Nahrungsaufnahme dokumentiert akkurat jede ihrer vom 1. Januar bis zum 6. August 2015 zu sich genommenen Mahlzeiten. Die jeweils postkartengroßen Aufnahmen sind preiswert produziert und in strenger, mosaikartiger Anordnung auf die Wand geklebt. Abbild der Mahlzeit; Datum; Uhrzeit. Die Algorithmen der großen sozialen Netzwerke wüssten wahrscheinlich anhand dieser Datenfülle 99,9% über Hyuns Dasein. Beiläufigkeit, Transparenz und Kontrolle liegen heutzutage näher als vor der digitalen, barrierefreien Vernetzung. Andererseits brauche ich kein Algorithmus zu sein, um die Person ein gutes Stück näher kennen zu lernen, die hier freizügig ihre Mahl-Zeiten preisgibt. Die Welt war noch nie so klein wie morgen.

Hipster blättern gerne durch die NEON. Ich blättere gerne durch die NEON. Ein Zugeständnis?

Wer weiter oben konservative Kritik am üppigen visuellen Angebot einer populären Plattform gewittert hat: Nein, ernsthaft, ich mag tumblr. Ich denke, Reizüberflutung an sich ist nicht das Problem und massenhafter Bilderkonsum auch nicht. In der Regel will das niemand wirklich zugeben, der sich für etwas kritischer, kultureller oder künstlerischer hält als der Durchschnitt – aber Hand aufs Herz: Liegt das Problem vielleicht nicht eher in der Unfähigkeit einer adäquaten Bewertung? Was ist eine adäquate Bewertung überhaupt, wer bildet die Maßstäbe? Warum werde ich den Eindruck nicht los, dass ich eine Ausstellung besucht habe, die im Großen und Ganzen so aussieht wie ein aufgeschlagenes NEON Heft? – Ah, richtig. In der diesmaligen Jury von gute aussichten saß auch Amélie Schneider, Bildchefin besagten Magazins.

Sie sind einfach cool, diese Fotografien in der NEON. Sie zeigen das Leben wie es cool ist und wer sich damit nicht so recht identifizieren mag, kann immerhin noch sagen, dass es gute gemachte Fotografien sind: Schön scharf mit Blitz, schön verwackelt ohne Blitz, so lässig professionell eben. Am wichtigsten erscheinen aber das Motiv und seine Inszenierung. Am besten so, dass der Betrachter gar nicht erst das Gefühl bekommt, es sei in Szene gesetzt. Hashtag Authentizität. Meine alten NEONs habe ich immer ausgeschlachtet, meistens, um aus den Bildern Collagen zu machen, die mir als Skizzen oder Ideenzunder dienen. Dadaisten wie Hannah Höch oder John Heartfield machten im Gegensatz dazu Collagen, die in die Kunstgeschichte eingingen. Maja Wirkus‘ Collagen sind schon mal durch gute Aussichten in die Deichtorhallen gekommen. Graustufige Flächen, die sich bei genauerem Hinsehen als Gebäude- oder innenarchitektonische Fragmente enttarnen. Wie bei Aras Göktens Arbeiten bin ich mir nicht sofort sicher, ob es analoge oder digitale Collagen sind. Gökten verunsichert noch mehr, denn der Unterschied zwischen Collage und Realitätsabbild ist nicht mehr auszumachen. Seine Fotografien wirken zum Teil entmenschlicht, wie unbewohnte Neubauten.

Angenommen, gute aussichten ist der Spiegel dessen, was den momentanen deutschen Zeitgeist ausmacht, der durch die Linse auf die Welt schaut – dieser Weltblick wäre genau der, der ihn in seiner Gestalt beschreiben würde: Es geht nicht mehr nicht-global. Unsere Augen sind überall, während uns als Gesamtpaket schlichtweg jegliche Kapazitäten fehlen, um überall zu sein. Wir sehen quantitativ viel mehr als die Menschen vor hundert Jahren und damit auch mehr, was uns begeistert, was uns abstößt und uns Angst macht. Die für 2015/16 ausgewählten Positionen von gute aussichten – Junge deutsche Fotografie sind so individuell wie westlich-universell. Sie zeigen nichts, was uns durch die Medien nicht schon bekannt wäre und bemühen sich zugleich um eine einzigartige Perspektive.

Globalize! Die Kunst der Partizipation

„All The World‘s Futures” lautete das Motto der inzwischen zu Ende gegangenen Biennale di Venezia. All die kleinen und großen Konflikte zwischen global und lokal, zwischen traditionell und individuell sind weltweit brandaktuell und so ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass die diesmalige, älteste internationale Kunstausstellung besonders politisch akzentuiert war. Chefkurator war Okwui Enwezor, der auch die documenta 11 kuratierte und sich aktiv daür einsetzt, die afrikanische und asiatische Kunst mit in das Boot der westlichen Kunst zu holen. Oder sollte man besser sagen, ebendieses Boot aus dem Spotlight zu rücken? Manche Länderpavillons hatten mich tatsächlich daran zweifeln lassen, ob ich mich wirklich auf der Biennale befand oder in einem ethnologischen Museum. Okwui, bei aller Liebe, aber das habe ich nicht so ganz verstanden.

Horizonte definieren

Nicht-westliche Künste sollten dieselbe Achtung bekommen wie die euroamerikanisch geprägten. In dem Punkt lobe ich Enwezors Bemühen um einen ganzheitlichen Blick. Wenn ich mir aber nochmal den mosambikanischen oder indonesischen Pavillon ins Gedächtnis rufe, kann ich nicht anders, als verwirrt zu sein… Generell nichts Schlechtes, jedoch hatte ich nicht das Gefühl, dass das die Absicht des Kurators oder gar der jeweiligen Pavillons war. Darüber hinaus ist ein Unterschied, ob man die Einbindung solcher Ausstellungen als Erweiterung des westlichen Horizonts versteht oder als Ausbreitung desselben. Ein großes Thema, das ich aber nur kurz anschneiden möchte. Das westliche Kunstverständnis gleicht einem riesigen Server, der vielfältige und komplexe Informationen verschiedenster Wissenschaften und Disziplinen aus Vergangenheit und Gegenwart speichert und damit hantiert. Künstler unserer Zeit haben permanent auf diesen Server zuzugreifen, um zu vergleichen, zu reflektieren, zu werden. Das ist die Devise. Aber schließt dieses Verfahren, um es mal kurz so simpel zu bezeichnen, Künstler nicht-westlicher Kulturen aus oder bekommt es in Zeiten der Globalisierung nicht zwangsläufig einen erweiterten Charakter? Kulturelle Identitäten und der Umgang mit ihnen scheinen derzeit präsenter und empfindlicher denn je. Stuart Hall, ein Begründer der Cultural Studies, schrieb bereits vor 23 Jahren:

„Auch in den spätesten Formen der Globalisierung sind es nach wie vor die Vorstellungen, Artefakte und Identitäten der westlichen Moderne, die von den Kulturindustrien der westlichen Gesellschaft einschließlich Japans geschaffen werden (…). (…) Doch waren Gesellschaften der Peripherie immer für westliche Kultureinflüsse offen und sind es mehr denn je. Die Idee, sie seien ‚abgeschlossene‘ Räume – ethnisch rein, kulturell traditionell, bis gestern noch nicht von den Brüchen der Moderne aufgewühlt – ist eine westliche Illusion über die ‚Anderen‘: Es ist eine vom Westen aufrechterhaltene ‚koloniale Illusion‘ über die Peripherie, ihre Eingeborenen ‚rein‘ und ihre exotischen Plätze ‚unberührt‘ haben zu wollen.“

Quelle: Die Frage der kulturellen Identität, S. 214

Ein interessanter wie erschreckender Gedanke, den Hall hier aufwirft: Denken wir selbst heute noch kolonialer als wir glauben? Und was würde Okwui Enwezor dazu sagen? Letzten Endes bringt uns das jetzt in der Betrachtung von „All The World’s Futures“ auch nicht weiter. Beleuchten wir stattdessen den wahren, perfiden Gegner der Kunst: den Kunstmarkt!

Schatten beleuchten

Es ist kein Geheimnis, dass der Kunstmarkt gut und gern mal die Fäden in der Hand hat, wenn es um den Aufstieg und den Fall eines Künstlers geht. Gerade internationale Veranstaltungen mit derartigem Ruf, wie ihn die Biennale in Venedig trägt, bieten einen Nährboden für Kunsthype und horrende Verkaufssummen. In Bezug auf die 56. Biennale äußerte sich Enwezor dazu folgendermaßen:

„Die klare Unterscheidung zwischen den Begriffen ‚Idee‘ und ‚Ware‘ ist meine Positionierung zum Thema Kunstmarkt. Und mit dieser Unterscheidung agiere ich im Interesse der Öffentlichkeit und nicht im Interesse des Marktes, der privaten Interessen folgt. (…) Wir kommen nicht mehr weit, wenn wir die Kunst als Schmuck begreifen.“

Eine standfeste Position, aber keine Kriegserklärung, wie er selbst klarstellt. Eher ungewöhnlich für einen Kuratoren, brachte Okwui Enwezor sogar eine eigene künstlerische Idee ein, dessen Auseinandersetzung mit dem Kunstmarkt poetischer Natur ist, wie er selbst sagt. Über die gesamte Laufzeit der Biennale ließ er Marx‘ Das Kapital verlesen.

„Die Konzepte von Karl Marx sind nicht einfach, aber gegenwartsrelevant. (…) Es ist, als ob die Zeit flüchtig ist, und die Themen bleiben. Seit fast einhundertfünfzig Jahren reibt sich die Kunst am Kapital und begleitet die Umwälzungen im Namen des kapitalistischen Fortschritts.“

Quelle: fr-online

Die Message entspringt einem klugen Kopf – Enwezor weiß, wovon er redet. Wer den Artikel der Frankfurter Rundschau zur Konzeption der Biennale ein wenig aufmerksamer gelesen hat, dem wird nicht entgangen sein, dass der Kurator auf die Erschöpfung des Ausstellungsbesuchenden abgezielt hat, um eine Fokussierung zu provozieren. Etwas, was uns gerade im medialen Zeitalter immer schwerer zu fallen scheint. Eine raffinierte Idee, die Enwezor gelungen ist. Andererseits birgt eine große Grundidee aber auch die Gefahr, sich in den Vordergrund zu drängen, sodass die Fragmente – in diesem Fall die einzelnen künstlerischen Positionen – einem spürbaren Druck ausgesetzt sind und dadurch an Geltung verlieren können. Anders gesagt verspachtelt zu didaktische Kunst schnell Spielräume im Fühlen und Denken. Das ist „All The World’s Futures“ auch gelungen. Es sind nicht die für (oder gegen) Okwui Enwezor als Chefkurator sprechenden Fakten, die das Gesamtbild der 56. Biennale abschließen, letzten Endes ist es der Eindruck des Besuchers.

Absurdes hinterfragen

Jedem, der die Biennale in Venedig mal besuchen möchte, kann ich nur empfehlen, es im November zu tun. Jedem, der etwas Geld sparen, dem geballten Tourismus ausweichen und sich ausschließlich auf die Biennale und nicht auf Venedig konzentrieren will (Notiz am Rande: Letzter Punkt bezieht sich auf das Wetter, denn mein Aufenthalt dort wurde begrüßt, begleitet und verabschiedet von sehr dichtem Nebel…). Allein das Ausmaß der gesamten Kunstausstellung ist überwältigend: Will man sich den Giardini mit den Länderpavillons, die ein herrliches Retro- äh, Kolonialfeeling aufkommen lassen, und die Arsenale ansehen, sollte man sich pro Bereich einen Tag Zeit nehmen. Für die übrigen, in der Stadt verstreuten Lokalitäten kann man getrost einen dritten Tag einplanen. Damit Kunst selbst in diesem Artikel nicht zu kurz kommt, möchte ich mich abschließend einem meiner Favoriten widmen.

Quelle: YouTube

„Never Say Goodbye“, zu der die Arbeit „Farewell, Spring and Autumn Pavilions“ gehört, wurde vom taiwanesischen Künstler Wu Tien-chang im Palazzo delle Prigioni präsentiert. Die Videoinstallation wirkt in jeder Hinsicht absurd und trotzdem verliert sie dadurch nicht an Substanz. Das romantisierte, fetischisierte Abbild eines jungen Matrosen (er trägt wohlbemerkt einen Matrosenanzug aus weißem Latex), ist in einen kitschigen, blinkenden Rahmen gesetzt und wird von ebensolcher Musik begleitet. Der Matrose bleibt jedoch kein Matrose, der träumend durch seine Heimat geht. Als Soldat wird er sein Land verlassen und vielleicht nicht wiederkehren. Wu Tien-chang erzählt hier wortwörtlich in Bildern, an denen wir hängen bleiben. Nicht, weil uns der Kern, seine Botschaft trifft, sondern weil diese Bilder aus Fragmenten zusammengesetzt sind, welche selbst in Bildern sprechen. Die Metaphorik verlinkt uns erst zu den Aussagen seines Werks, das sich unter anderem mit dem taiwanesischen Verständnis von Leben und Tod und im weiteren Sinne auch mit der Globalisierung befasst.

„People say that art is subjective but to me, art is objective. It’s precise. That’s why I advocate a ‘seamless seam’. There is a seam between two things in opposition. (…) I think that localization is not opposed to globalization. There is a seam between them. The ‘seamless seam’ is to be accomplished by outstanding artists.”

Wu Tien-chang, Quelle: YouTube

Kunst hat drei Buchstaben: TUN – Khine Min Tun

Was hat Malerei mit Freiheit zu tun und wieso interessiert uns eine kleine Kunstgalerie in Mrauk U, Myanmar? Moderne Kunst ist für szeneaffine Hipster und weltoffene Berliner alles andere als in Öl gemalte Landschaftsbilder – Bilder von Wiesen und Tempeln gehören in Oma Trudes Stube, mit Politik und Gesellschaft haben sie nichts am Hut. Wir wollen Ai Weiwei, wilde Mobs am Alex, irgendwas, das sexuell anstößig ist- wenn es das noch gibt. Dass auch „naive Malerei“ kritisches Potential und gesellschaftliche Relevanz besitzt, liegt vielleicht daran, dass Kunst mehr kann, als der Künstler weiß.


Kunst hat drei Buchstaben: TUN – Khine Min Tun,

Sohn des Künstlers Shwe Maung Thar aus Mrauk U an der Westküste Myanmars. Ein Land, das unlängst Schlagzeilen machte, weil am 8.11.2015 die ersten freien Wahlen seit 25 Jahren stattfanden – mit dem Ergebnis, dass die National League for Democracy eine absolute Mehrheit erreichte. Wenngleich ein politischer Umbruch des Landes dadurch nicht getan, scheint die militärische USDP in ihre Schranken verwiesen und die Weichen für eine demokratische Zukunft gestellt. Wo Aung San Suu Kyi als politische Leitfigur der National League for Democracy (NLD) seit Jahrzehnten für politische Freiheit kämpft, findet man in dem für Touristen schwer zugänglichen Mrauk U eine kleine Oase, in der Freiheit ebenfalls eine große Rolle spielt – die Freiheit künstlerischen Tuns. In der kleinen L‘ Amitié Art Gallery im Westen Myanmars befanden sich bis vor kurzem zahlreiche Ölgemälde, die dem Betrachter die unberührten Landschaften eines Landes zeigen, das die wenigsten von uns aus der Nähe kennen. Insbesondere Mrauk U, zeichnet sich durch die aus dem Nebel ragenden Tempelruinen aus, deren Spitzen die sattgrüne, bergige Landschaft überblicken. Welche gesellschaftliche Bedeutung einer kleinen Galerie zukommt, deren Ausstellungsstücke nichts anderes zeigen als malerische Abbilder der Umgebung, wird vielleicht erst auf den zweiten Blick klar. Denn so trivial es einer postmondänen Berlinerin scheinen mag, einen Pinsel in die Hand zu nehmen und eine Form von Kunst zu schaffen, die hierzulande von der Szene schon mal als antiquiert und langweilig belächelt wird, so bedeutsam ist jedes Gemälde, das in den diktatorischen Verhältnissen von Myanmar an den Wänden der L‘ Amitié Art Gallery zu sehen war.

Khine Min Tun 3

Mrauk U, Myanmar

In einem Land vor unserer Zeit

Zurückgeworfen in eine Zeit, in der Meinungsfreiheit nicht alltäglich ist, hineinversetzt in ein Land, das durch mystisch anmutende Landschaften lockt, konfrontieren uns die Bilder von Shwe Maung Thar und Khine Min Tun mit einem Aspekt von Kunst, der auch in einer in höchstem Grad modernisierten Gesellschaft oft zu kurz kommt: innere Freiheit. Freiheit auch, die eigene Haltung zu bewahren, in Zeiten, in denen Medien durchzogen sind von Angstbotschaften, Terrorwarnungen, Hiobsbotschaften, die unsere Gesundheit betreffen und Anleitungen, wie der moderne Mensch sich fitzuhalten hat. In Myanmar, wo die militärische USDP ihre Bevölkerung in nahezu allen für uns selbstverständlich gewordenen Bereichen einschränkt, ist künstlerische Praxis die vielleicht einzige Antwort auf den im Innern sich regenden Widerstand gegen Zwänge, Armut und die Fesseln des Alltags, in dem alternativen Lebensformen kein Raum gegeben wird. Die Rechnung ist einfach: Wo die Freiheit der Person nicht gelebt werden kann, realisiert sie sich in künstlerischem Tun.

Khine Min Tun 2

Shwe Maung Thar

Kunst und Freiheit

Der 1955 in Mrauk U geborene Künstler Shwe Maung Thar hat sich zeitlebens dafür eingesetzt dieses Tun auch in Mrauk U am Leben zu halten. In seiner kleinen Galerie konnten seine Bilder seit 2008 betrachtet und diskutiert werden. Und trotz seiner Ausstellungen in Canberra, Melbourne, Wien und Yangon, ist es jene Galerie an der Westküste Myanmars, die diesen Artikel motivieren. Denn die L’Amitié Art Gallery bot mehr, als dass sie unseren visuellen Sinnen schmeichelte. Sie war Begegnungsstätte, in der man sich austauschen, ästhetische Maßstäbe, herausarbeiten und Kritik üben konnte. Praktiken, die für funktionierende Demokratien unabdingbar sind und die zugleich Funktionen darstellen, die untrennbar mit Kunst verbunden sind. Mag ein Kunstwerk noch so naiv daherkommen, die Aufforderung an den Betrachter zu reflektieren ist immanent: sich von dem distanzieren, was als unhinterfragt Gegebenes vorgefunden wird, sich in ein neues Verhältnis zu Kunstwerk und Welt zu setzen. Diese Form kritischer Praxis ist eine Errungenschaft, eine Säule unserer Gesellschaft, die aus dieser nicht wegzudenken ist. Eine Form kritischer Auseinandersetzung, die auch in Myanmar zu reifen beginnt. Schon deshalb ist das Lebenswerk von Shwe Maung Thar mehr als „nur“ schöne Kunst – in einem der abgeschiedensten Landstreifen Myanmars wurde der Grundstein gelegt für ein freies Leben von Menschen, die sagen dürfen, was sie zu sagen haben. Dazu gehört auch, sich die Freiheit zu nehmen an Werten und Traditionen festzuhalten. Die unberührten Landschaften Mrauk U’s nicht der touristischen Ausbeute preiszugeben und dennoch eine politische Veränderung zu fordern, die auf eine gerechtere Verteilung von Gütern und Bildungschancen abzielt, auf die Etablierung eines funktionierenden Gesundheitssystems und den für den Vielvölkerstaat wichtigen Punkt der Religionsfreiheit. Forderungen, die durch kritische Praxis aus dem Privaten ins Öffentliche gezogen und so politisch werden. In dem ganz basalen Sinn, dass ein jeder die Möglichkeit hat, sich eine Meinung zu bilden, sich an Diskussionen und Volksversammlungen zu beteiligen und sich durch Proteste gegen herrschende Parteien zur Wehr zu setzen.

Khine Min Tun 6

Überschwemmt

Schaung Mar Thars Einsatz für den Erhalt künstlerischer Praxis in Mrauk U war und ist deshalb von gesellschaftlicher Relevanz, die den Rahmen Schöner Kunst sprengt. Umso trauriger ist es, dass der Künstler im Januar 2015 plötzlich an einem Herzinfarkt verstarb und die L`Amitié Art Gallery seinem Sohn Khine Min Tun überlassen musste. Auch für Khine ist Kunst eine nicht wegzudenkende Lebensaufgabe und -grundlage, weshalb er sich der Aufgabe stellt, das Lebenswerk seines Vaters fortzuführen. Eine Aufgabe, die zunächst die einmalige Chance beinhaltete die Bilder seines Vaters in der Schöneberger Kunstgalerie „Kuhn und Partner“ im Juni 2015 zu präsentieren. Eine Aufgabe, die Khine voll Freude und Dankbarkeit nutzte und die zahlreichen Besucher mit den Werken seines Vaters begeisterte. Eine Aufgabe, die im Spätsommer zu einer enormen Herausforderung wurde, als zahlreiche Fluten die Westküste Myanmars großräumig zerstörten. Darunter auch die in mühsamer Arbeit aufgebaute und leidenschaftlich am Leben gehaltene L‘ Amitié Art Gallery, von der dieser Artikel handelt. Eine Galerie, die von unerschöpflichem Wert für die Bevölkerung von Mrauk U und die junge Familie von Khine Min Tun ist, die allen Schwierigkeiten zum Trotz an ihren Wiederaufbau glauben. Seit Monaten kämpfen sie tatkräftig  für die Wiederbelebung der Kunst, ließen sich auch von einer zweiten Flut nicht entmutigen, die abermals enorme Schäden anrichtete. Ein Einsatz, der Unterstützung braucht, weil auch das Wohnhaus von Khines Familie im Zuge der Fluten verschütt gegangen ist. Der eigenen Lebensgrundlage entrissen, steht der Sohn von Shwe Maung Thar nun alleine der Problematik gegenüber, das Lebenswerk seines Vaters fortzuführen. Ein Vorhaben, das von allen Freunden und Bekannten, Myanmarreisenden, Künstlern, Verfechtern von Freiheit und Kritik, und postmondän-Fans auf Unterstützung hofft. Dieser Artikel endet deshalb mit dem Appell: Einen Euro in die Reisekasse und so bald wie möglich Myanmar erkunden, einen Euro an Khine Min Tun – für die Kunst und die Freiheit.

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Khine Min Tun 1

Khine Min Tun

Fiktion als Kritik oder warum wir mehr Science Fiction schauen sollten

Poster Silent Running

1972 wagten sich ein paar kreative Köpfe daran, einen Science-Ficition-Film zu produzieren. „Silent Running“ ist ein gelungenes Beispiel für kritische Kunst. Noch viel wichtiger, der Film trifft mit seiner Thematik genau ins Schwarze der gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdebatten.


Am 30. November diesen Jahres beginnt die 21. UN-Klimakonferenz. Es werden ca. 40.000 Gäste erwartet. Unter ihnen Vertreterinnen der 194 Mitgliedstaaten, unabhängige Beobachterinnen und auch Teilnehmerinnen aus der Zivilbevölkerung. Hauptsächlich aber werden Experten und Politiker über Zahlen und Fakten diskutieren, Zugeständnisse von dem anderen erwarten und selbst Kompromisse eingehen müssen. Die Ziele sind hochgesteckt:

„The aim is to reach, for the first time, a universal, legally binding agreement that will enable us to combat climate change effectively and boost the transition towards resilient, low-carbon societies and economies.“

Quelle: COP 21 Main Issues

Eine allgemeingültige, verbindliche Vereinbarung aller Mitgliedsstaaten bezüglich ihrer jeweiligen CO2-Emissionen. Die so festgelegten Werte sollen die Staaten dann durch entsprechende politische Maßnahmen erreichen. Dass zunächst einmal die Akteure der Wirtschaft und öffentlicher Institutionen mit diesen neuen Regelungen konfrontiert werden und diese in ihr künftiges Handeln integrieren müssen, ist wahrscheinlich der erste Schritt politisch-praktischer Umsetzung. Wie aber kann das, was auf dieser Konferenz beschlossen wird, auch zum einzelnen Individuum vordringen?

Dass es jedes Jahr einen Klimagipfel gibt, wissen wir, aber wer weiß schon, was jedes Jahr dabei herauskommt? Welche Zahlen und Fakten werden für die Entscheidungen zu Grunde gelegt und wie viel der Entscheidungsfindung besteht eigentlich nur aus der Instandhaltung und Festigung bestehender Machtverhältnisse im weltpolitischen Spiel der Großen? Aber ich möchte wieder zurück zum/zur kleinen Mann/Frau. Denn was dort verhandelt wird, betrifft uns alle. Jeden einzelnen Menschen auf der Erde, jedes Tier. Regulierungen solcher Art müssen nicht nur auf makro- und meso-ökonomischer Ebene, sondern auch auf der Ebene des individuellen Handelns des einzelnen Subjekts etabliert werden. Zuvor allerdings müssen diese Regulierungen auch als notwendig wahrgenommen werden. Damit ein neuer Aspekt in meinem alltäglichen Handeln Berücksichtigung findet, muss ich für diesen Aspekt sensibel sein, ihm einen Wert zusprechen und er muss gerechtfertigt sein.

Die Verbindung zwischen einem Anstieg des Klimas verursacht durch vermehrten CO2-Ausstoß und einem irreversiblen Rückgang der Biodiversität lässt sich schon lange nicht mehr ernsthaft bestreiten. Es gibt unzählige Studien, wissenschaftliche Papers und Vorträge zu dem Thema. Aber die werden eben hauptsächlich von denen gelesen, die selbst solche Texte schreiben und diese Forschung betreiben. Was ist mit dir und mir? Und vor allem mit denen nach uns? Damit unsere ganzen Bemühungen nicht einfach nur als kurzes Aufflackern praktizierter Verantwortung im Kosmos erlöschen, müssen diese auf wissenschaftlichem Weg erschlossenen Erkenntnisse über die Folgen unseres invasiven Treibens auf der Erde auch eine Entsprechung in unserer praktischen Vernunft, das heißt in unserem ethischen Denken finden. Ich spreche hier von dem Begriff der Nachhaltigkeit. Seit Jahrzehnten ein scheinbar magisches Wort, mit dem sich alle gern schmücken, es aber nur wenigen gelingt, sich seiner wahren Bedeutung durch tatsächliches Handeln zu nähern.

Kunst als Kritik

In den 1970er Jahren gab es bereits Menschen, die sich mit dieser Thematik auseinander gesetzt haben. Keine Wissenschaftler, sondern Filmemacher. Keine rohen Texte voll gespickt mit Zahlen und Argumenten, sondern Bilder, Musik und Personen, die handeln. Das Filmdebüt „Silent Running“ (1972) des damals 28-jährigen amerikanischen Spezialisten für Spezialeffekte Douglas Trumbull ist ein gelungenes Beispiel für kritische Kunst (das Beitragsbild zeigt ein originales Filmplakat). Trumbull, der zuvor für die Spezialeffekte in Kubricks 2001 zuständig war, steckte sein ganzes technisches Können und die Wagnis das erste Mal Regie zu führen in diesen Science-Fiction-Film (The making of, 26:00-26:40). Der Titel ist eine Anspielung auf ein 1962 veröffentlichtes Buch der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson. In „Silent Spring“ belegt Carson akribisch die verehrenden Folgen des Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft und gibt somit den Startschuss für die erste große Umweltbewegung in den Staaten.

Quelle: Youtube

Das 21. Jahrhundert (damals in den 70ern noch weit, weit entfernt). Die Erde bewohnt von einer einzigen Art, dem homo technicus. Alle anderen Arten, sei es Flora oder Fauna, existieren nicht mehr. Das heißt fast. Denn die kleine vierköpfige Crew des American-Airlines-Frachters Valley Forge beherbergt einen großen Schatz: Mehrere Plateaus mit großen transparenten Kuppeln bieten Schutz für unzählige Pflanzen und Tiere. Eine Idylle unter einer gigantischen Käseglocke könnte man sagen. Gehegt und gepflegt von dem etwas hippieesk anmutenden Botaniker Lowell, der jedes Mal seinen blauen Astronauten Overall gegen eine weiße Kutte tauscht, wenn er in den Plateaus nach dem Rechten sieht.

Es wird schnell klar, dass seine drei Kollegen irgendwie doch lieber den optimierten „Astronautenfraß“ essen als Lowells liebevoll erzeugte Kürbisse oder Melonen. Es stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Haltungen gegenüber: hier die sensible, mit der Natur verbundene Person, die jedem Lebewesen den gleichen Wert beimisst und dort die anderen, rational Denkenden, die einfach nur ihren Job machen wollen. Das kann nicht lange gutgehen. Und man spürt schnell, dass sich zwischen diesen Einstellungen ein Konflikt entfalten wird. Wie sich dieser Konflikt dann entlädt, lässt den zuvor dahinplätschernden, bildgewaltigen Film in Richtung Thriller gleiten. Aber nur für kurze Zeit.

Die Belegschaft des Frachters bekommt die Anweisung, alle Plateaus vom Frachter zu lösen und ins Weltall zu schießen. Lowell gerät in einen moralischen Konflikt, denn er sieht keine Möglichkeit durch Gespräche seine Kollegen davon zu überzeugen, die Plateaus weiterzubetreiben: Nun sieht er sich vor der Entscheidung entweder seine bisherige Arbeit, seinen Traum und vor allem etwas aufzugeben, das alles andere an Wert übertrifft, nämlich die biologische Artenvielfalt, oder er verhindert das Abschießen der Plateaus um jeden Preis. Der Preis ist hoch, denn Lowell tötet schließlich im Ringkampf den einen Kollegen und schießt die anderen zwei mit einem Plateau einfach in die Unendlichkeit.

Die Krise des Zuschauers

Lowell bleibt jedoch, obwohl er schreckliche Taten zur Erreichung seines Ziels einsetzt, der „Gute“. Man identifiziert sich mit ihm am Anfang ganz einfach, weil er vieles von dem verkörpert, was wir als erstrebenswert ansehen: er ist achtsam und respektvoll anderen Individuen gegenüber, er scheint beflissen und verantwortungsvoll seine Arbeit zu verrichten. Man identifiziert sich aber auch dann noch, wenn er zu Mitteln greift, die wir als unmoralisch beschreiben würden. Dass Lowell nicht einfach gestrickt ist und den Tod seiner Kollegen als eine erstrebenswerte Art der Problemlösung ansieht, dass er sich also in einem ernsthaften moralischen Konflikt befindet, zeigt sich in folgender Szene. Er schickt die drei Hilfsroboter zum noch am Kampfort liegenden Kollegen. Sie sollen ein Grab für ihn ausheben und im letzten Plateau „beerdigen“. Während dessen beobachtet Lowell alles über einen Monitor im Raumschiff und gibt den Robotern Anweisungen. Sein Gesicht im close-up, die Worte kommen nur stockend:

„Put him, put him down in it. And then remain there because i would like to say something before you cover him over. […] There weren`t exactly my friends but I did like them. And, uh, I don`t think that I will ever be able to excuse what it is that I did, but I had to do it.“

“Silent Running”, Min. 40:50-42:04

Was hier geschieht, ist von existenzieller Bedeutung. Denn ein Mensch muss seine bisherigen Wertvorstellungen gegeneinander abwägen. Er kann sich nur für a oder b entscheiden. Beides, also die Biodiversität erhalten und seine Kollegen am Leben lassen, geht nicht. Es ist ein utilitaristisches, auf den größtmöglichen Nutzen ausgerichtetes Prinzip, welches Lowell letztendlich zu seiner Handlung antreibt: Drei Menschenleben wiegen nicht so viel, wie die diversen Arten auf den Plateaus. Der Wert der Plateaus wird sogar noch gesteigert, indem der Umstand hinzukommt, dass der Erhalt der Biodiversität in der Zukunft viel mehr Menschen nutzen könnte, falls man diese wieder auf der Erde oder auf einem anderen Planeten siedeln ließe.

Wir können Lowells Entscheidung/Handlung verstehen, aber dass sie nicht auf die Art und Weise gerechtfertigt ist, wie wir es gerne von rationalen und „richtigen“ Entscheidungen/Handlungen fordern, wird uns mit Lowells Gram und Trauer vor Augen geführt. Und genau an dieser Stelle entfaltet der Film seine kritische Potenz. Was die Stärke des Films ist, ist seine Darstellungsform. Wir sehen und hören den Protagonisten, wir erleben ihn und unsere Spiegelneuronen geben ihr Bestes, um in unserem Gehirn ein passives Miterleben zu erzeugen. Wir sind sozusagen mittendrin, fast ist es so, als müssten wir selbst uns verantworten. Der Zuschauer wird, genau wie der Protagonist, in eine Krise geführt, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Gar nicht so „simple-minded“ wie Vincent Canby in seiner Kritik nach den ersten Vorstellungen in der New York Times schrieb .

Science-Fiction

Was macht diesen Film noch so besonders? Es ist das Genre, in dem er sich bewegt, das wie gemacht dafür scheint, ethische Fragen zu Umweltveränderungen durch menschliches Handeln und die Zukunft uns folgender Generationen abzubilden. Science-Fiction war lange Zeit ein Spartengenre, bevölkert von Nerds und Phantasten. Aber spätestens seit Stanislav Lem und Isaac Asimov ihre kurzen und langen Geschichten in diesen (gar nicht so) fiktiven Zukunftswelten ansiedelten, hat sich Science-Fiction immer mehr Platz in den Bücherregalen der „Normalos“ erkämpft.

Wissenschaft und Technik bedingen sich gegenseitig. Dinge werden erforscht, um sie nutzbar zu machen, sie in ein technisches Vokabular zu überführen. Und genau dieses scheinbar zwanghafte sich gegenseitig Hervorbringen ist die Grundannahme in Science-Fiction. In „Silent Running“ gerät der Protagonist durch die Umwelt zerstörenden Folgen angewandter Wissenschaft in die Ausgangssituation der Story: Lowell hat den Auftrag mit riesigen Raumschifffrachtern in der Nähe des Saturn zu fliegen und während dessen sämtliche Tier-und Pflanzenarten für die Nachwelt zu erhalten, weil die Menschen Bedingungen geschaffen haben, die ein natürliches Leben unmöglich machen. Das, was zum Problem geführt hat, wird auf der anderen Seite wieder zur Problemlösung genutzt. Denn die Technik (Das Raumschiff und die Plateaus) ermöglicht es auch, dass die Biodiversität unter für sie hinreichenden Bedingungen weiter existieren kann.

“[Social] science fiction is that branch of literature which is concerned with the impact of scientific advance on human beings.”

Isaac Asimov, Science Fiction Writers of America Bulletin, 1951

Dennoch spielt die Science im Film „Silent Running“ und auch in den meisten anderen Science-Fiction Geschichten nicht die entscheidende Rolle – denn entscheiden können letztendlich nur Menschen. Wissenschaft und Technik bilden den Handlungsrahmen für Individuen, die sich darin mit vorher nie gedachten Problemen und Konflikten zurecht finden müssen. Man könnte sagen, dass Science-Fiction in einem besonderen Maße auch Geschichtsschreibung ist. Geschichtsschreibung für die Zukunft. Denn es wird versucht, im Gegensatz zu Fantasy, die Grenzen der Physik auszudehnen, aber nicht völlig auszuhebeln. Es werden mögliche Welten erdacht, die vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, die Konsequenzen unseres gegenwärtigen Treibens auf der Erde aufzeichnen. Insofern kann man Science-Fiction – sei es im Buch oder Film – auch in dieser Hinsicht ein aufklärerisches Potenzial zusprechen.

Was hat das jetzt alles mit der UN-Klimakonferenz zu tun? Hier die Antwort: Die Themen, die auf solchen kostspieligen Konferenzen besprochen und nach denen dann bestimmte Regulierungen festgesetzt werden, betreffen am Ende uns alle. Für viele Menschen scheint es aber einen grundsätzlichen Graben zu geben zwischen dem, was die da oben beschließen und dem, was wir hier dann bitte schön tun sollen. Die Ziele der UN-Kommissionen sind zu begrüßen, aber der größte und schwierigste Schritt ist der, hin zu einer umweltverträglichen, verantwortungsvollen Haltung jedes Bürgers. Warum sollen wir denn jetzt auf unseren Wohlstand verzichten oder weniger Autofahren? Ich möchte nicht an meinem Wohlergehen sparen nur damit zukünftige Generationen ein genauso gutes oder vielleicht größeres Wohlergehen haben. Das sind verständliche Einwände, die aber auch problematisch sind. Darüber nachzudenken ist der erste Schritt hin zu einer ethischen Haltung. Und Kunst, die solche Filme wie „Silent Running“ hervorbringt, kann einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, mit dem Nachdenken zu beginnen.

Stell dir vor, das ist Kunst

das_ist_kunst

… und keiner versteht’s.


Ist das Kunst oder kann das weg? Als es nur Pinsel, Farbe und Kohle gab, war Kunst ganz einfach zu definieren. Heutzutage sieht die Lage aber etwas anders aus: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich neben der Malerei, Zeichnung und Skulptur auch Fotografie, Video und der reine Gedanke zu Kunstbegriffen gemausert. Das sehen nicht alle so. Braucht Kunst überhaupt Verständnis oder brauchen wir von der Kunst Verständnis?

Ursprünglich wollte ich den Text mit Eigentlich wollte ich einen Beitrag zur Kunst verfassen, aber… einleiten. Ein Kunstbeitrag wird es definitiv werden, nur ohne aber. Wer nun einen Bericht zum Duktus eines Gerhard Richter oder zur Komposition einer Jeff Wall Fotografie erwartet hat, hat sich geschnitten. Ich habe mich nämlich auch ein bisschen geschnitten, denn die letzten Ausstellungsbesuche in diversen Museen und Galerien zeitgenössischer Kunst haben mich einerseits irritiert, andererseits meine Ahnung bestätigt: Kunst ist nicht nur das, was im White Cube stattfindet. Kunst ist auch, wenn ich auf Konzerte gehe oder mich eine Idee überwältigt. Ich verstehe immer weniger den gemachten Unterschied zwischen Kunst und Musik und Denken. Wer macht sowas und warum? Ist dieser Text hier eigentlich Kunst, Analyse oder eine Kunstanalyse?

Jetzt mal ehrlich. Kann man das überhaupt?

„From music people accept pure emotion but from art they demand explanation.”
Agnes Martins Œvre ist praktisch unmusikalisch. Umso bemerkenswerter, dass sie Musik als die vollkommenste Form der Kunst bezeichnete. Musik erreicht uns weniger rational als emotional. Wir kaufen das neue Album unserer Lieblingsband, auch wenn wir nicht unbedingt wissen, ob es uns gefällt. Auch wenn ein Konzert musikalisch gesehen nicht der Bringer ist, kann das ganze Drumherum es aufpolieren. Musik ist weitaus mehr als Schall und (Wohl-)Klang.

Stellen wir uns mal vor, wir haben nicht gerade wenig Eintritt für eine zeitgenössische Ausstellung gezahlt und was sehen wir: eine monochrom blaue Leinwand, rostige Metallplatten und eine mit Kohle beschmierte Wand. Unsere Erwartung war eine etwas andere und deswegen können wir uns nicht ganz von halb empörten, halb fassungslosen Gedanken freisprechen – geschweige denn den Anblick des rostigen Metalls genießen wie das Konzert gestern Abend.
Kann man das überhaupt? Agnes Martins reduzierte Zeichnungen und Malereien erscheinen vielleicht auch nicht so spannend, wenn man die dahinterstehende Philosophie nicht kennt. Eigentlich haben ihre Werke – bildnerische und literarische – einiges zu sagen, aber der sogenannte ungeübte Rezipient würde ihnen nicht sofort verfallen und Halleluja rufen. Eine Wahrnehmungs-Schranke, deren Überwindung in der Regel weniger an Desinteresse scheitert als an chronischem Informationsmangel.

Sehgal: der traditionellen Extravaganz entgegengesetzt

Dass ein ausstellender Künstler nicht verpflichtet ist, sich auf irgendwelche Formate oder Materialien zu beschränken, sollte klar sein – dass er immaterielle Kunst macht, klingt zugegeben schon etwas seltsam. Spannend, weil irgendwie bizarr, dieses Prinzip der Mund-zu-Mund-Propaganda in diesem Kontext. Schließlich lebt der Kunstmarkt von seinem Ruf Extravagante Preise für extravagantes Material. Sehgal lässt Personen (Interpreten) seine Werke verkörpern und verzichtet nicht nur auf jegliche Publikation oder Dokumentation seines Werks; er ist nicht einmal ein Künstler im herkömmlichen Sinne: Studiert hat er Choreografie und VWL. Allein diese Kombination könnte schon als Kunst durchgehen, darauf kommt letztendlich nicht jeder. Neulich habe ich mir die Werkpräsentation von Tino Sehgal im Berliner Gropius-Bau angesehen, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Der Ausstellungstitel beschränkte sich lediglich auf den Namen des Künstlers, wo andere wahrscheinlich eine Headline aus zusammenhangslosen Begriffen kreiert hätten, um ihr Bohemiendasein standesgemäß nach außen zu kehren. Manchmal steckt hinter weniger doch mehr – zumindest bei Tino Sehgal.

Der melancholische Wiederholungstäter – Kunst oder Farce?

Jeder kennt Ohrwürmer. Akustische Endlosschleifen, die eigentlich nur in unseren Köpfen ablaufen und nicht wirklich beeinflussbar sind. Der isländische Künstler Ragnar Kjartansson hatte eine außergewöhnliche Idee und dem Ohrwurm eine Art Gestalt gegeben. Dafür organsierte er 2013 die Band The National, die im MoMA PS1 ihr Lied „Sorrow“ in leicht abgewandelter Form – „A Lot Of Sorrow“ – sechs Stunden lang performte. Kjartansson filmte das Ganze. Innerhalb der Stunden variierten Songpassagen, die Zustände der Musiker änderten sich fortlaufend und das Publikum konnte dem beiwohnen. Ein Konzert oder eine Performance? Wo fängt das eine an und wo hört das andere auf?

Wem ein Vierteltag zu lang ist – hier das extra large Konzert in leicht gekürzter Form:

„A Lot Of Sorrow“ – die Zelebration einer klischeehaften Künstlerattitüde, des nie endenden, immer gegenwärtigen Weltschmerzes? Oder bloß ein überschminkter Versuch, in das Guinnessbuch der Rekorde zu kommen? Vielleicht ist es aber auch weniger der Inhalt des Liedes als die Wiederholung seiner Struktur. Paradox scheint, dass letztendlich nichts gleich bleibt, was sich ständig wiederholt. Abnutzung durch Zeit. Eine CD, die immer und immer wieder abgespielt wird, nutzt sich irgendwann ab. Ein Ohrwurm verändert sich oder verstummt nach einiger Zeit. Kjartansson und The National schaffen mit dem Non-stop-Song quasi einen extern verlagerten Ohrwurm und definieren Livemusik als eine immaterielle Skulptur, die schließlich in uns Gestalt annimmt.

Die König Galerie in Berlin-Kreuzberg zeigt bis zum 23. August die Aufnahme der Performance. Die Kombination einer übergroßen Videoprojektion mit drei Boxen transportiert das Fast-endlos-Lied sozusagen durch Raum und Zeit direkt in die ehemalige Kirche; wenn man die Augen schließt, hat man das Gefühl, unmittelbar vor der Bühne zu stehen (1a Akustik!). Jeder, der die Gelegenheit zu einem Besuch hat, sollte sie nutzen. Lohnt sich!

Spätestens seitdem weiß ich nicht mehr so recht, wo die Trennlinie zwischen bildender bzw. darstellender Kunst und Musik ist. Wahrscheinlich gibt es sie schlicht und einfach nicht und ist nur ein perfides Konstrukt von konkurrierenden Konzertveranstaltern und Kuratoren, die Platten- und Kunstmarkt gegeneinander ausspielen wollen… Vielleicht findet das alles aber auch nur in meinem Kopf statt, vielleicht war alles schon immer eins und ich zu engstirnig. Was Kunst nun wirklich ist, wird letztendlich jeder für sich herausfinden, indem er sie erlebt.