Schlagwort: Kunst

THE HAUS – Wilde Kunst. Bleib(t) wild.

The Haus Titel

Wie bringt man Kunst von der Straße, den Wänden der U-Bahnen und jeglichen anderen öffentlichen Flächen in ein Museum, ohne dass sie ihre Wirkung verliert. Gar nicht. Das tut man nicht, das ist zum Scheitern verurteilt. Und überhaupt, wer hat gesagt, dass das, was in den Augen vieler Passant*innen eher Vandalismus ist, nun Kunst heißen soll?


Der Reihe nach. Was wird da jetzt zur Kunst erklärt? Doch nicht etwa die Kritzeleien auf öffentlichen Toiletten und die Schmierereien an frisch gestrichenen Hauswänden? Nein, tatsächlich nicht. Doch Wände und Toiletten gibt es in THE HAUS Berlin und die sind definitiv Teil des Kunstraums. Aber nicht nur sie. Das gesamte, ehemalige Commerzbankgebäude an der Nürnberger Straße wurde zum Raum für Künstler*innen aus Berlin und dem Rest der Welt. Auf fünf Etagen und in über hundert Räumen zeigen aufstrebende und zum größten Teil noch unbekannte Kunstschaffende, was in etablierten Museen noch nicht zu sehen ist. Von mit unzähligen Klebestreifen mosaikartig zusammengesetzten Tiersilhouetten an den Wänden des Treppenhauses über minutiös gestaltete Fantasiewälder mit echtem Waldboden, die einzelne Räume zu kleinen Naturparks werden lassen, über schrill mit neonfarben besprühten Wänden, die comichaft Albtraumszenen zeigen, bietet THE HAUS eine Art Rundumschau urbaner, unabhängiger und unprätentiöser Kunst der Gegenwart.

Begeistern manche Räume vor allem durch Handwerk und Stimmung, weisen andere Arbeiten unbarmherzig auf politische Missstände hin. Und auch wenn viele der Künstlerinnen andere Ausdrucksweisen als das Besprühen von Wänden gewählt haben, lassen sich die Wurzeln der Sprayergemeinde erkennen. Mit dieser Kunst wird derdie Betrachter*in im öffentlichen Raum konfrontiert. Sie macht aufmerksam. Auf sich und auf die, die sie sehen. Sie will nicht gesucht werden, sie trifft. Sie will nicht interpretiert, sie will wahrgenommen werden.

Hierzu bietet THE HAUS aus drei Gründen den perfekten Rahmen. Zum ersten ist es ein Gebäude, das nie als Ort für Kunst geplant worden war – war es doch eins ein Bürogebäude. Zum zweiten haben die Veranstalterinnen dieses Projektes – sicherlich auch mit Hinblick auf die Urheberrechte der Künstlerinnen – ein Fotografierverbot verhängt. Und unabhängig davon, wie man zu Verboten dieser Art steht, stellt man fest, dass es einem zugutekommt, zu sehen, was man sieht. Unvermittelt und ohne Handydisplay dazwischen. Der Wunsch die Bilder, Installationen und Stimmungen an diesem Ort noch tiefer in sich aufzunehmen, wird schließlich noch vom dritten Grund, der für diesen Ort spricht, unterstützt.

Superbadboys

Es klingt paradox, aber das Ganze wirkt auch deshalb so stark, weil das Gebäude, an dessen Wänden die Kunst direkt aufgebracht ist, dieses Gebäude, das Teil der Kunstwerke und nicht nur ihre Herberge ist, am Ende des Monats dem Erdboden gleichgemacht werden wird. Und auch wenn die Tatsache schmerzt, dass sich all diese Werke bald in Bauschutt verwandeln werden, trägt dieses Wissen doch dazu bei, dass der Besuch von THE HAUS zu etwas Besonderem wird.

Dennoch bleibt die Frage, ob diese Kunst ins Museum gehört oder ob sie da, ähnlich einem aus der Wildnis entrissenen Tier im Zoo, letztlich verkümmern würde. Zum Betrachtetwerden verdammt – ohne Entstehen und Vergehen. So, und warum soll das jetzt überhaupt Kunst heißen? Weil es von Menschen für Menschen geschaffen wurde. Ohne den Hintergedanken direkter Verwertbarkeit, dafür mit dem Ziel, Menschen zu berühren. Und diese Berührung entsteht nicht zwangsläufig nur in bekannten, staatlich geförderten Museen, sondern auch und vielleicht sogar öfter an Orten, an denen Menschen einander im Alltag begegnen. Diese Begegnungen miteinander und mit der Kunst wird in THE HAUS, auch mithilfe der Künstler*innen möglich, die selbst durch die Ausstellung führen.

Kleine Warnung: Spontane Besuche in THE HAUS werden leider schwer, da der Abriss naht und daher die Besucher*innen-Schlange lang ist. Eintritt ist allerdings weiterhin frei.

Weitere Infos zu THE HAUS

Fotos: © thehaus.de / Pressebilder

Kunst das Knast oder kann St. Mich mal?

Gedanken zu „Kunst versteht keine Sau …“ von Sandra Danicke

Die zeitgenössische Kunstszene mit ihren experimentellen Scheißhaufen ist ein bisschen wie die überaus dichten Augenbrauen einer Nebenfigur aus „Breaking Bad“, welche – so der lapidare Kommentar von Bob Odenkirk in der Rolle von Edelschmuddlor Saul Goodman – „won’t stop“, sprich: endlos sind. Und die zeitgenössische Kunstszene schämt sich nicht mal dafür – was schon ein bisschen arg sein kann. Auf jeden Fall ist die Welt der Kunst, welche 2011 keine Sau interessierte (so der Titel von Danickes Vorgängerband) und 2012 keine Sau verstand, von Mensch ganz zu schweigen, wirklich krass-fantastisch & „ur-igel-0“ & weit & breit (keine Zeit, um alles abzuscannen).


Was das 20. und 21. Jahrhundert uns an Kunstkonzepten und Konzeptkünstlern geschenkt haben, ist so vielseitig und spannend, dass wir zum wirklichen Verstehen eigentlich gar keine Gelegenheit haben, weil wir viel zu sehr mit Staunen beschäftigt sein dürften. Daher ist dieses kleine Bilderbuch, das uns mit einigen wirkungsvollen Skulpturen, Fotoarbeiten und Installationen meist aktueller Künstler bekannt macht, eine schöne Einstiegslektüre für den A(rt)mateur. Die Autorin, eine promovierte Kunstwissenschaftlerin, klärt mit Humor und Respekt vor der großen Unbekannten Kunst/Künstler über einige aufregende Konzeptarbeiten auf. Oft geht es um doppelbödige Ununterscheidbarkeiten zwischen Wahr- und Fiktion (Peter Fischli/David Weiss), Sinn und Wahn (Anna & Bernhard Blume), Scherz und Ernst (hier allerdings nicht Max). Künstler, vor allem Konzept- und Aktions-, sind schon echt gestörte Säue, die ganz genau wissen, wie man das System subvertiert, wobei mit „System“ ach so vieles gemeint sein kann. Was für Schläuen und Intelligenzijae, aber auch rein handwerkliche Begabungen (Kunst kommt ja von Können) hier am Werk sind, das vermag doch schon sehr zu fesseln. Dem System „Kunst“ einen Strich durch die Rechnung machen kann man allerdings auch heute nicht viel frappanter als damals, 1915, mit den Schwarzen Suprematismen von Malewitsch (Nomen est Omen).

Auch kommen lauter elektronische Spielereien bei heutigen Projekten zum Einsatz, teilweise richtig anspruchsvolle Computertüfteleien sorgen für interaktive Kunstviecher – etwa diverse Männchen-Manipulationen des im vorliegenden Buch nicht erwähnten, aber dennoch erwähnenswerten Videokünstlers Gabriel Barcia-Colombo –, die wahlweise albern, erschütternd oder erstaunlich nullig sein können.

Vor rund zehn Jahren hatte ich selber mal die Idee für ein interaktives Kunstwerk: eine große, hochauflösende, weiße Touchscreen-Fläche, und darauf ein einzelnes, hyperrealistisch animiertes Haar, das man dann als Galerie-Besucher wegzuwischen versuchen kann. Wahrscheinlich gibt es das aber schon längst als Smartphone-App für 39 Cent – ich bin da nicht auf dem neusten Stand. Jedenfalls darf man sehr darauf gespannt sein, welche Formen Kunst in 10, 30, 1003 Jahren annimmt. Ich bin ziemlich sicher, dass technologischer Fortschritt mittel- bis langfristig für so manche Sophistication und den einen oder anderen massiven Jawdropper sorgen wird.

Lesetipp:

Sandra Danicke: „Kunst versteht keine Sau …“ (Belser 2012)

Titelbild: © Lennart Colmer

Derbes Rummelview mit Rummelsnuff

rummelsnuff

Rummelsnuff hat nicht nur Mus(i)keln, sondern auch einen recht eklektischen Musikgeschmack. Näheres im folgenden Gespräch:


Daniel Ableev

Wovon ernährt sich Rummelsnuff, dass er so große Muckis hat? Oder ist er etwa Frutarier?

Rummelsnuff

Rummelsnuff ernährt sich vorrangig von Körnern, Reis, Kartoffeln, Leinöl, Magerquark, Harzer Käse, Fischen, Eiern – natürlich auch von Früchten. Auch die ständige Überwindung der Erdanziehungskraft gehört dazu, wenn es darum geht, das Eigenfleisch zu mehren. Geeignet hierzu sind u. a. handliche Eisenstücke.

DAb

Welche anderen derben Strommusiken mag Rummelsnuff?

RuSn

Er mag Schlager bis 1960, Techno bis 1970, französische Chansons und Punkrock bis 1980, russische Miltärmusik bis 1990, King Khan, Bela B., Safi, Tomas Tulpe, Tua und Maeckes, Leaether Strip, das Alexandrow Ensemble sowie die Japanischen Kampfhörspiele.

DAb

Wie findet er es eigentlich, dass Heino nun (endlich) auch zur Strommusik gefunden hat?

RuSn

Hat er? Ging es vormals bei ihm nicht um Strohmusik? Na dann, Glückwunsch!

DAb

Was ist eigentlich ein Rummelsnuff überhaupt genau?

RuSn

Ein Rummelsnuff ernährt sich vorrangig von Körnern, Reis, Kartoffeln, Leinöl, Magerquark, Harzer Käse, Fischen, Eiern – auch von Früchten. Mit handlichen Eisenstücken versucht das Männchen ständig, die Erdanziehungskraft zu überwinden. Es macht sich durch auffällig knarzige Laute bemerkbar. Welchem Zwecke diese dienen, ist noch nicht hinlänglich erforscht.

DAb

Was bringt Rummelsnuff zum Lachen? Was zum Weinen?

RuSn

Beides wurde bisher nur selten beobachtet.

DAb

Bei welcher Band würde Rummselsnuff eher mitmachen, wenn er wählen müsste: Sloth Patrol oder doch lieber Хуй Металлурга?

RuSn

c) Japanische Kampfhörspiele.

DAb

Wer hat Rummelsnuff am meisten (künstlerisch) beeinflusst und wen beeinflusst Rummelsnuff am meisten?

RuSn

Schlager bis 1960, Techno bis 1970, französische Chansons und Punk … Teil 2 reicht er weiter an die, die er beeinflußt.

DAb

Was ist Rummelsnuffs größter Traum, den er sich bisher noch nicht erfüllen konnte?

RuSn

Stille Sorglosigkeit.

Titelbild: © Lennart Colmer

Museum Barberini – eine Kunstgeschichte des Augenblicks

Mit dem Museum Barberini erkämpft Potsdam sich in großen Schritten Selbstbestimmung darüber zurück, an welche Aspekte seiner Geschichte es anknüpfen möchte. Der Wiederaufbau des alten Palasts ist für die Stadt bedeutend, der symbolische Wert enorm. Umso erstaunlicher eigentlich, dass das Museum in seinen Eröffnungsausstellungen vor allem eine Kunstgeschichte des bezugslosen Augenblicks präsentiert, überwindet dieser doch gerade das Symbolische. Doch das Konzept geht auf und gewährt gleichzeitig einen noch mehr versprechenden Ausblick.


Vom Software-Unternehmer zum Museumsstifter

Anfang der 70er Jahre eine Software-Firma zu gründen, war aus wirtschaftlicher Sicht offensichtlich keine schlechte Idee. Zumindest für die Gründer von SAP hat diese sich ausgezahlt. Während einer der fünf, Dietmar Hopp, aus seinem Milliardenvermögen heraus den TSG 1899 Hoffenheim, für den er einst selbst spielte, von der Kreisliga A zum Bundesliga-Verein hinaufsponserte, eröffnete ein zweiter, Hasso Plattner, vergangene Woche in Potsdam ein Museum. Sein eigenes vielmehr: das Museum Barberini. Seine Stiftung übernahm den Wiederaufbau des Palais’ Barberini am Alten Markt, das bis 1772 unter Friedrich dem Großen nach römischem Vorbild gebaut und 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, zerstört worden war, und trägt ohne jede öffentliche Förderung den Museumsbetrieb. Auch basieren die gezeigten Ausstellungen großteils auf Plattners privater Gemäldesammlung, die er sich über Jahre abseits der Öffentlichkeit angeeignet hatte und teilweise seit langem nicht öffentlich präsentiert wurde.

Seine Sammlung setzt zeitlich im Impressionismus ein und zieht sich von dort aus über die Moderne ins Kontemporäre. Für Potsdam ist eine Veröffentlichung dieser Sammlung insofern eine wertvolle Bereicherung, als dass den Alten Meistern ja bereits die Bildergalerie am Schloss Sanssouci gewidmet ist und sich diese Kunstlandschaft sich nun eben um jüngere Meister von Claude Monet bis Gerhard Richter erweitert. Das Museum ist nicht das erste Geschenk Plattners an Potsdam, dessen Relevanz als Wissenschaftsstandort er bereits 1998 mit der Eröffnung des Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik an der Universität Potsdam förderte. Vom Mäzenatentum kann man indes halten, was man will – wie Potsdam ohne seine Stifter٭innen aussähe, zeigt schon eine Rundumsicht des Alten Marktes:

 

Neben dem Barberini finden sich dort zwar auch das Potsdamer Stadtschloss, dessen Rekonstruktion teils ebenfalls von Plattner, teils von Günther Jauch gestiftet wurde, und weitere prachtvolle Neuaufbauten. Doch gegenüber des Museums ist auch noch ein jüngerer und heute weniger willkommener Geschichtszeuge vorzufinden, das ehemalige Institut für Lehrerbildung, ein DDR-Zweckbau von 1977, das heute von der FH Potsdam genutzt wird. In dessen Fassade hat aus gutem Grund lange niemand investiert.

Impressionismus – der Puls des Museums Barberini

Im Museum Barberini lassen sich noch bis Ende Mai die drei Eröffnungsausstellungen besuchen. Diese setzen sich zwar nicht nur aus Plattners Privatsammlung zusammen, da sich in ihnen ebenfalls Leihgaben weiterer Sammler٭innen (darunter Bill Gates) und Galerien (darunter Eremitage in St. Petersburg sowie die National Gallery in Washington) befinden. Doch konzeptuell folgen die gezeigten Werke vollends der Ausrichtung von Plattners Sammlung und entwickelt diese kuratorisch weiter. Zentral ist hierbei die Herstellung von Zusammenhängen, eine sinnvolle Strukturgebung zwischen den Bildern. Ein thematischer Schwerpunkt liegt schon quantitativ auf der Impressionismus-Ausstellung, die den Untertitel Die Kunst der Landschaft trägt. Hier schöpft das Museum in seiner Sammlung offensichtlich aus dem Vollen und präsentiert stolze 92 Werke, darunter allein 41 Monets, aber auch mehrere Bilder Alfred Sisleys und Camille Pissarros. In acht Räumen finden diese nicht chronologisch oder nach Urhebern sortiert, sondern thematisch zueinander. So bekommen Gartenbilder ihren eigenen Raum, genauso Winter-, Wald-, Meeres-, Fluss-, Landschafts- und südeuropäische Motive. Auch Monets Seerosen finden einen eigenen Raum. So simpel diese Aufteilung klingen mag, so durchdacht ist sie.

Manet und Monet im Museum Barberini

Édouard Manet (1871) und Claude Monet (1870)

Denn Museumsleiterin Ortrud Westheider geht hier systematisch vor – im Bemühen, sich vor allem durch eine fachlich vollendete Konzeption von den zahlreichen derzeit konkurrierenden Impressionismus-Ausstellungen abzusetzen. Nicht zuletzt wird hierbei die politische Dimension des Impressionismus in den Vordergrund gerückt. In ihren Gemälden versuchten die verschiedenen Maler, das Augenblickliche so realistisch wie künstlerisch möglich einzufangen, womit sie sich gegen eine bis in die Antike reichende künstlerische Tradition stellten, in der an Motiven eben nicht einfach das Gegenwärtige, sondern das in sie hinein- und über sie hinausreichende Symbolische dargestellt wird.

Die gesellschaftlichen Codes, gewohnten Narrative und Hierarchien, welche sich in nicht-impressionistischen Gemälden fanden, sollten im Impressionismus vollends überwunden werden, das Symbol also dem Moment weichen, das Idealisierte dem real Wahrgenommenen. Neue Maximen waren Mobilität, Beschleunigung und Flüchtigkeit. Monet hat seine Seerosen nicht etwa deswegen so oft gemalt, weil er mit seinen Gemälden unzufrieden war, sondern, um an thematisch festen Motiven zu zeigen, wie unterschiedlich die Augenblicke sind, in denen man ihnen begegnen kann. In den verschiedensten Gemälden materiell eigentlich ähnlicher Motive verdeutlicht sich die Einzigartigkeit des konkreten Moments, seiner Lichtverhältnisse und -reflektionen. Und daher ist es eben nicht simpel, verschiedene impressionistische Gemälde von Flüssen nebeneinander zu hängen, sondern enorm aufschlussreich.

Monet Seerosen Museum Barberini

Claude Monet (1914-1917)

Die Moderne als Ausblick des Impressionismus

Wie bereits festgestellt, ist die In-Beziehung-Setzung einzelner Kunstwerke das kuratorische Hauptanliegen des neuen Museums. So versteht sich die Ausstellung Klassiker der Moderne wie ein Ausblick auf die verschiedenen vom Impressionismus losgetretenen Richtungen, den von Max Liebermann repräsentierten deutschen Impressionismus etwa oder Expressionisten wie Edvard Munch und Emil Nolde. Eine weitere künstlerische Entwicklung, die vom Impressionismus vorbereitet wurde, ist eine schrittweise Überwindung des Materiellen in der Kunst, die über Pointilismus (in der Ausstellung etwa durch Henri Edmond Cross repräsentiert) und Fauvismus (Maurice de Vlaminck) bis zur abstrakten Malerei Wassily Kandinskys führte. Als weitere Querverbindung zwischen den Eröffnungsausstellungen stellt sich die nicht zufällig mit hinein genommene Sammlung von Rodin-Skulpturen heraus, die das Pariser Musée Rodin und die Staatliche Kunstgalerie Dresden zur Verfügung gestellt haben. Mit ihnen zitiert das Museum Barberini eine gemeinsame Ausstellung Rodins und Monets 1889 in Paris. Dadurch, dass die Skulpturen erneut mit diesen Gemälden in Beziehung gesetzt werden, zeigt sich die von Rodin vollzogene Übertragung des impressionistischen Spiels mit Lichtbrechungen auf die Bildhauerei. Die charakteristisch unebenen Oberflächen betonen die Momenthaftigkeit der Perspektiven auf seine Skulpturen.

Auguste Rodin (1881/1967)

Auguste Rodin (1881/1967)

Dadurch, dass sie viel breitere Entwicklungen abdeckt, ist diese Ausstellung zur Moderne weit weniger systematisch geschlossen als die Impressionismus-Räume es sind. In einzelnen der vier Räume treffen unterschiedlichste Stile aufeinander, was unumgänglich ist, decken die Klassiker der Moderne doch letztlich in 60 Kunstwerken über 100 Jahre Kunstgeschichte ab. Die Hereinnahme auch kontemporärer Künstler wie Andy Warhol oder Gerhard Richter lässt sich da kuratorisch einfach als Ergänzung oder aber als Fortführung avantgardistischer Gemäldekunst verstehen.

Politische Aspekte des Museums

Eine weitere Ergänzung dieser Art kann die kleinste der drei Ausstellungen Künstler der DDR verstanden werden, die eben auch auf engem Raum unterschiedliche Stile vereint. Gezeigt werden in zwei Räumen unter anderem Gemälde Wolfgang Mattheuers, Bernhard Heisigs und Werner Tübkes. So zusammengewürfelt die Sammlung wirkt, so wegweisend könnte sie für das Museum sein, da sie dem Museum ein Standbein in der kuratorischen Aufarbeitung von DDR-Kunst verschafft. Sie bildet den Startschuss weiterer Ausstellungen, die nächste ist bereits für Oktober diesen Jahres geplant. Bereits im Titel Hinter der Maske deutet sich hier eine gegenüber dieser ersten Präsentation der Werke systematisch spezialisiertere Ausstellung an. Dieser wird ein Symposium vorausgehen, was einmal mehr den kunsthistorisch-wissenschaftlichen Anspruch des Museums betont.

Wolfgang Mattheuer DDR Museum Barberini

Wolfgang Mattheuer (1975)

Dass die Sammlung der DDR-Gemälde der einzigen Bilder sind, die Plattner offiziell dem Museum überschrieben hat, kann viele Gründe haben. Es drängt sich unter anderem ein Zusammenhang zum Kulturgutschutzgesetz auf, das in seiner gerade von Sammler٭innen kritisierten neuen Fassung erst 2016 verabschiedet wurde. Darin wurde die Genehmigungspflicht für die Ein- und Ausfuhr von Kulturgütern auch innerhalb der EU beschlossen, was zum einen ein politisches Werkzeug gegen den illegalen Kunsthandel (konkret zur Terrorfinanzierung) darstellt, zum anderen jedoch auch dazu führt, dass private Sammler٭innen sich in ihren Eigentusrechten geschwächt sehen. Auch Plattner gilt als Kritiker der Gesetzesänderung, die durchaus eine Rolle für das Museum spielt. So befinden sich seine eigenen Sammlungen in den eigenen Räumen nach wie vor im Privatbesitz und sind nicht in Plattners Potsdamer, sondern seinem kalifornischen Wohnsitz registriert. Wenn sie gerade nicht Ausstellungen des Barberini zur Verfügung gestellt werden, werden diese also stets wieder in die USA zurückgeführt. Öffentlich ist nicht bekannt, um welche konkreten Gemälde es sich dabei handelt. Die nicht von anderen Galerien entliehenen Bilder sind bloß mit einem Hinweis auf Privatbesitz versehen, nicht aber konkreten Personen zugeordnet. Die fundiertesten Spekulationen hierzu wurden von Susanne Schreiber für das Handelsblatt angestellt. Ob Monets quadratisches Seerosengemälde von 1917, das vielleicht das Herz der Ausstellungen bildet, nun Bill Gates, postmondän oder Hasso Plattner gehören, bleibt dennoch offen. Den Kunsteindruck stört diese Unwissenheit allerdings in keiner Weise.

Das Barberini. Kunst im Hier und Jetzt

Jener Kunsteindruck nämlich wird durch multimediale Unterstützung zeitgenössisch bis futuristisch abgerundet, womit nicht bloß die lokalpatriotischerweise von Günther Jauch eingesprochenen Audioguides gemeint sind. Denn wer noch unschlüssig ist, ob sich ein Museumsbesuch lohnt, kann sich im iTunes- oder Google-Play-Store schonmal die App des Museums herunterladen, einen virtuellen Rundgang machen und sich über aktuelle und angekündigte Ausstellungen informieren. Vor Ort wird dieser interaktive digitale Zugang zu Informationen weitergesponnen und in einem hochauflösenden Smartboard verwirklicht, der (von SAP mitentwickelten) Barberini Smart Wall. Diese lässt sich von Besucher٭innen per iPad steuern, verfügt über einige Informationsmenüs zu den Ausstellungen. Ebenfalls geht darin ein Projekt des Fotografen Christoph Irrgang auf, der zu 41 der impressionistischen Landschaftsgemälde die Entstehungsorte aufsuchte, um eine heutige Perspektive auf diese festzuhalten. In einer Gegenüberstellung desselben Blickwinkels, wie er in Gemälden Ende des 19. Jahrhunderts und wie er in aktuellen Fotos festgehalten wurde, führt das Museum zum einen vor Augen, dass diese Gemälde stets an realen, kartierbaren Orten entstanden, zum anderen betont es einmal mehr die Flüchtigkeit von Ansichten. Besonders hart getroffen hat es übrigens Alfred Sisleys Wiesen von Veneux-Nadon von 1881, die heute von einer Schnellstraße durchzogen werden, während nur wenige Kilometer entfernt Renoirs Verschattete Allee von 1869 noch fast unverändert verweilt.

Barberini Smart Wall Museum Barberini

Barberini Smart Wall (2017)

Beeindruckend ist die brillant aufgelöste 3×5-Meter umfassende Barberini Smart Wall allemal. Auch betont es einmal mehr die Zukunftsgerichtetheit der ausgestellten Kunst. Will sie die Museumsgäste jedoch in erster Linie informieren, ist fraglich, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, auf den großen Bildschirm zu verzichten und stattdessen ein paar Dutzend iPads zur Verfügung zu stellen, auf denen jede٭r selbst sich nach eigenen Interessen und in eigenem Tempo Informationen aneignen kann. Die Barberini Smart Wall zwingt Besucher٭innen im regulären Betrieb, sich zu einigen, wer das iPad bedienen darf, und ist vermutlich in erster Linie für Führungen und Symposien optimiert.

Augenblickskunst in symbolischem Setting

So geschlossen nun die einzelnen Impressionismus-Räume, so durchdacht die Querverbindungen der Ausstellungen sind, so verwirrend erscheint die Anordnung der Räume vor Ort. Der U-förmige Grundriss mit seinen verschieden großen Räumen zerreißt die Einzelausstellungen, führt seine Gäste fast unvermeidlich unsystematisch von Raum zu Raum. Man nimmt dies gerne in Kauf, bedenkt man die Relevanz des wiederaufgebauten Palais für Potsdam. Aber nachdem man in einem Raum umgeben von drei aggressiven, physisch einnehmenden Bildern Gerhard Richters stand, schon einen Raum weiter wieder in flüchtige Flusslandschaften einzutauchen, wirkt fast schon zynisch. Die Umsetzung der Eröffnungsausstellungen ist trotz durchdachter Kuration vielleicht noch nicht perfekt, aber bei jedem einzelnen Gemälde ist es eine Freude, dass es wieder öffentlich zugänglich ist.

Gerhard Richter Museum Barberini

Gerhard Richter (1986)

Untereinander drücken die Ausstellungsräume in gewisser Weise eine Überschwänglichkeit über den Startschuss des Museums aus. Dies geht noch etwas auf Kosten einer Entfaltung einzelner Ausstellungsaspekte. Dass die Sachlichkeit und eine stärkere Zuwendung zu rein kunsthistorischen Interessen in Zukunft mehr und mehr Einzug in das Museum halten werden, deutet sich jedoch sowohl im bereits Präsentierten als auch in Ankündigungen an, die einen vielversprechenden Ausblick auf die Zukunft des Museums Barberini gewähren. Das kuratorische Format Westheiders und ihrer Mitarbeiter٭innen lässt sich schon aus den aktuellen Ausstellungen ablesen, wirklich entfalten wird es sich erst noch in der weiteren fachlichen Profilierung des Hauses, in Symposien, Kooperationen und systematischen Ausstellungen. Schon ab Juni zeigt das Museum Barberini eine Ausstellung der amerikanischen Moderne von Hopper bis Rothko. Und für 2018 ist eine Max-Beckmann-Ausstellung geplant. Um die Moderne steht es also gut in Potsdam. Auch in Zukunft.

 

Titelbild: Claude Monet (1904) vor dem Potsdamer Hauptbahnhof (1999)

Alle Bilder: © Gregor van Dülmen

Hieronymus Bosch. Visions Alive – Meisterwerk oder Todsünde?

Seiner Zeit einst weit voraus wirkt Hieronymos Boschs’ Garten der Lüste heute, 500 Jahre nach dem Tod seines Malers, etwas aus der Zeit gefallen. Wie man es nicht einfach nur ausstellt, sondern auch seiner einstigen Progressivität mit zeitgemäßen Darstellungsformen gerecht werden kann, zeigt in Berlin die multimediale Ausstellung Hieronymus Bosch. Visions Alive. Doch kann sie ihrem Anspruch gerecht werden, ohne das Kunstwerk zu gefährden?


Hieronymus Bosch. Genie oder genialer Kopf einer ganzen Malerwerkstadt – darüber streitet sich die Kunstgeschichte bis heute. Unstrittig hingegen ist, dass Bosch seiner Nachwelt ein Universum aus grotesken Symbolen, Tieren und Menschen hinterlassen hat, mit dem er das Verhältnis von Mensch, Welt und ihrem „Schöpfer“ illustriert. Der sicher bekannteste Zugang zu diesem Universum führt über den Garten der Lüste, den Bosch um 1500 schuf. Zu einer Zeit, in der die Menschen nicht mehr alle Antworten im Glauben an Gott finden und im Süden Europas weiterhin das Schöne und Erhabene Platz in der Malerei findet, wendet sich der geborene Niederländer dem Dunklen und Mysteriösen zu. Hiermit überwindet er die mittelalterliche Kunst auf eine andere Weise als seine italienischen Zeitgenossen und fügt der Renaissance eine weitere Facette hinzu.

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Hieronymus Boschs Triptychon “Der Garten der Lüste”, gemalt um 1500, ausgestellt im Museo de Prado, Madrid, © pixabay.com

Daran knüpft auch die Ausstellung Hieronymus Bosch. Visions Alive in der Alten Münze in Berlin an. Doch zeigt sie das bekannteste Werk Boschs nicht klassisch, wie es das Museum Prado in Madrid tut, sie zergliedert es in seine Einzelheiten. Umgeben von Projektionsflächen findet sich der Besucher in der Mitte des Gartens der Lüste, während sich Ausschnitte des Werkes – mit Hilfe moderner Computeranimation behutsam zum Leben erweckt – um ihn herum bewegen.

Himmel, Hölle, buntes Treiben – Die Symbolwelt Boschs

Die Fülle an Details auf der einen, die Absurdität der Kombinationen seltsamsten Wesen und Gegenständen auf der andere Seite lassen den Betrachter Boschs Menschenbild erahnen: als eine Ansammlung von verrückten, zum Teil ziellos umherwandernden, zum Teil auf persönlichen Lustgewinn gierende Geschöpfen, die mal in Einklang und mal in Zwietracht leben. In jedem Fall aber ohne eine von außen erkennbare Ordnung. Mit seinem Triptychon aus Erde, Himmel und Hölle führt Bosch den Menschen die möglichen Konsequenzen ihres Lebenswandels vor Augen. Auf der linken Seite der Himmel, auf der rechten die Hölle, in der Mitte das bunte Leben auf der Erde.

Den Himmel präsentiert Bosch in feinster Harmonie, Geselligkeit und Einklang. Schonungslos und furchteinflößend hingegen zeigt er die Qualen der Hölle. Spätestens hier wird Bosch seinem Spitznamen „Ehrenprofessor der Alpträume“ gerecht. In der Hölle gibt es nicht nur Habgier, Neid, Trunksucht und vieles mehr. Neben der Darstellung dieser Sünden übt Bosch hier auch Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit und kritisiert – mit Hilfe eindeutiger Verweise auf die Unersättlichkeit der Reichen – Verschwendung und Habgier des Bürgertums, zu dem er selbst gehört. Damit fügt er dem Bild neben seiner Vorstellung über die Menschheit als Ganzer und der Verbildlichung eben ihrer Vorstellungen über Himmel und Hölle die Ebene hinzu auf der er die Scheinheiligkeit gesellschaftlicher Zustände darstellt.

Bis heute ist das Universum der Symbolik bei Bosch nicht völlig erforscht. Interpretationen, die sein Werk als Warnung vor sündhaftem Leben sehen, stehen Betrachtungen gegenüber, die die Bilder eher als Darstellung persönlicher Traumbilder eines schwer zu ergründenden Künstlers sehen. Ein Beispiel hierfür ist die auf fast allen Bildern, die Bosch zugeschrieben werden, vorkommende Eule. Bis heute wird darüber gestritten, ob sie als klassisches Symbol der Weisheit oder als Nachttier und Symbol der Undurchschaubarkeit zu interpretieren ist.

Visions Alive – Wiederbelebung der Vielseitigkeit

Durch die behutsame Belebung des Werks „Gartens der Lüste“ trägt die Ausstellung „Hieronymus Bosch – Visions Alive“ eben dieser Tatsache Rechnung. Ohne den Blick in eine bestimmte Richtung zu dirigieren, lädt sie dazu ein, durch das Angebot der Videoprojektion zu treten und das Bild neu zu sehen. Der Reichtum an Details genauso wie die Möglichkeit diese individuell und ohne Vorwissen wahrnehmen zu können. Bei dieser auf allen vier Wänden des Raumes laufenden Projektion dieses vielschichtigen Werks wird sich jeder im „Garten der Lüste“ anders zurechtfinden – eine einzige herrschaftliche Blickrichtung gibt es hier nicht.

Indem der Zuschauer nicht vor, sondern im Werk steht, hat jeder eine andere Perspektive und kann sich auf die ihn umschwirrende Fabelwesen, Tiere und Menschen einlassen. Auch wenn man sich an dieser Stelle die Frage stellen kann, ob man hier eigentlich noch das Werk des 500 Jahre alten Meisters Hieronymus Bosch oder eher die Arbeit von “ARTPLAY MEDIA“ , erlebt. Sicherlich bedeuten die Symbole für den zeitgenössischen Betrachter etwas völlig anderes als für den der Renaissance. Dennoch bedeuten sie etwas für ihn, und diese Bedeutung wird ihm zeitgemäß zugänglich gemacht. Das innovative Ausstellungskonzept reduziert den Kulturwert Boschs nicht auf seinen Ausstellungswert allein. Ob die Aura des großen Meisters darunter nun leidet, verloren geht oder sich gar neu mit Bedeutung füllt, muss jeder Besucher für sich selbst herausfinden.

Auch Die sieben Todsünden finden einen Platz bei Hieronymus Bosch. Visions Alive - © boschalive.com

Auch Die sieben Todsünden finden einen Platz bei Hieronymus Bosch. Visions Alive – ©ARTPLAY Media/BOSCH.Visions Alive

Umso bedauerlicher, dass sich die behutsame Liebe zum Detail im zweiten Raum nicht wieder fortsetzt. Hier werden Daten und Fakten zu Boschs Leben eher lieblos an den Wänden eines schwach beleuchteten Raumes präsentiert. Auf einer Seite des Raumes lassen sich auf einem Touchscreen mit Grammatikfehlern gespickte Erläuterungen zum zuvor gesehen Triptychon auswählen. Auf der andere Seite hängt in einer Ecke des Raumes – als wäre es beinah vergessen worden – noch das Werk „Die sieben Todsünden“. Wäre man nicht immer noch zugleich ergriffen und fasziniert von der wundersamen Welt im ersten Raum der Ausstellung, würde einen dieser zweite und letzte Raum der Ausstellung enttäuschen.

Diese Ausstellung lädt weit weniger zur Zerstreuung ein, als man es zunächst von einer Videoinstallation erwarten könnte. Reproduktion und Zergliederung greifen hier reibungslos ineinander. Auch schiebt sich nicht – wie befürchtet – die Leinwand zwischen Zuschauer und Künstler. Indem sie zwar einzelne Elemente des Werkes belebt, diesen aber keine Dramaturgie aufzwingt, geht sie den Drahtseilakt zwischen Darstellung und Veränderung ohne Boschs Werk zu Verfälschen. Damit ermöglicht die Ausstellung einen, an zeitgenössische Formen der Rezeption angepassten, Zugang zu Boschs bekanntestem Werk und ist weit mehr als eine Spielerei in Sachen Videotechnik.


Zu sehen ist die Ausstellung „Hieronymus Bosch – Visions Alive“ noch bis zum 31.01.2017, „Alte Münze Berlin“, Molkenmarkt 2, 10179 Berlin U Klosterstraße, U/S Alexanderplatz.

Titelbild: © ARTPLAY Media/BOSCH.Visions Alive

Deichtorhallen zeigen Sammlung Viehof

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Bis Ende Januar 2017 sind an zwei Standorten in Hamburg zahlreiche Werke von 75 wichtigen Künstlern der Gegenwart zu sehen. Während in der Halle für aktuelle Kunst Joseph Beuys‘ Werke einen eigenen Andachtsraum haben, zeigt die Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg auch Arbeiten von Baselitz, die keine drei Meter hoch sind.


Die angegebene Zahl der präsentierten Werke schwankt zwischen über 600 und 850, irgendwo dazwischen wird die Wahrheit liegen. Interessanter ist jedoch der qualitative Umfang der Sammlung Viehof. Dabei existiert sie an sich noch nicht all zu lang. Anteilig besteht sie aus den älteren, bedeutenden Sammlungen Speck und Rheingold.

Namenhafte Vertreter diverser Kunstströmungen der Nachkriegszeit prägen das ganze Konvolut. Eine besondere Position haben hier neue deutsche Maler wie Daniel Richter, Neo Rauch und Georg Baselitz inne, nicht weniger präsent sind aber auch ehemalige Becher-Schüler wie Thomas Ruff, Candida Höfer oder Thomas Struth.

Gelungen ist die Aufteilung der ausgestellten Sammlung auf beide Standorte. Dabei wurde nicht nach Künstlern oder Medien sortiert.
So machen sich in der geräumigen Halle für aktuelle Kunst Danh Vos We the people (detail) (2011), welche nachgebaute Fragmente der Freiheitsstatue darstellen, gut zwischen großformatigen Arbeiten Sigmar Polkes. In nächster Nähe zu Rosemarie Trockels minimalistischen Installationen und Strickbildern haben Objekte von Joseph Beuys scheinbar einen eigenen Andachtsraum erhalten.

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Leider bitte nicht betreten: Carl Andre, „81 Steel Cardinal“ (1989)

Der Standort Sammlung Falckenberg wartet nicht nur mit kleinformatiger Flachware auf. Jörg Immendorffs raumgreifende Akademie für Adler (1989) lässt noch Platz für Mike Kelleys Library (2012), ein mit Büchern, CDs und weiteren Objekten vollgestopftes Bücherregal. Malerisch thematisierte deutsche Polithistorie trifft auf die komprimierte Geschichte der Popkultur.

Wolfgang Tillmanns‘ großformatige, abstrakte Fotografien aus den 2000ern sind unweit von denen Boris Mikhailovs zu finden, die soziale Brennpunkte in der UdSSR zeigen und ein gar schon komisches Spannungsfeld zwischen dem Ideal und der Lebenswirklichkeit des Sozialismus‘ erzeugen.

Bedauerlich: Im Gegensatz zur diesjährigen Einzelausstellung Carl Andres in Berlin ist die Bodenskulptur aus Stahlplatten in der Sammlung Falckenberg nicht betretbar. Der Gedanke hinter seinen minimalistischen Skulpturen ist jedoch genau dieser: Der Rezipient darf und soll das Werk betreten. Was wäre nur, wenn der Kurator Georg Baselitz’ Bilder richtigherum gehängt hätte?

Titelbild + Beitragsbild: © Lenn Colmer, Titelbild Werke: Imi Knoebel

Irritat-451 mit Augäpfelgelee – ein Interview mit Zeha Schröder

1968 wird C(hristoph) H(enrik) Schröder in Wuppertal geboren, 1987 schlägt er die Familienlaufbahn als Bandwirker und Gummiumspinner aus und inszeniert mit 19 Jahren erstmals am Stadttheater seiner Heimatstadt. Ab 1989 Studium von Musikwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte, Altgriechisch. Nach bundesweiter Arbeit als freischaffender Regisseur gründet er 1999 mit F(reuynde) + G(aesdte) eines der wenigen „reinrassigen“ Location-Theater Deutschlands. 2012 erhält er mit F + G einen Innovationspreis der bundeseigenen Stiftung „Land der Ideen“. 2013 präsentiert er zu Büchners 200. Geburtstag dessen Gesamtwerk. Er lebt in einem Steinhaus an der Ems und einem Holzhaus am Polarkreis. Und außerdem in diesem Irritat-451 von einem Interview.

Die Fragen stellt Daniel Ableev.


Für 2014 steht ja Kafkas Verwandlung auf dem „F + G“-Programm. Glaubst du, das ist ein guter Aufhänger für ein Gespräch über das Experimentelle in der Kunst?

 

Schwer zu sagen. Kafka selber ist sicher in mancher Hinsicht ein Experimenteller. Speziell bei der Verwandlung bleibt mir die Spucke weg, wie er groteske Phantastik und Familiendrama und schwarzen Humor miteinander verquirlt. Das ist in Sachen Style schon ziemlich „niedagewesen“. Aber was mache ich als Regisseur daraus? Wo ist die Balance zwischen Respekt vor dem Text und dem eigenen, neuen, letztlich respektlosen Kniff? – Wir sprechen uns nach der Premiere! …

Wie viel Experimentalitätshunger hattest du, als du F + G gründetest, abgesehen von dem Grundkonzept „Theater an ungewöhnlichen Orten“?

Genau 6417 Gramm bei Geburt des Theaters … Also, puh, ich  mein, wie soll man das quantifizieren? Es war definitiv so, dass ich Sachen radikal anders machen wollte, als ich es vorher als freischaffender Regisseur bei anderen Ensembles erlebt hatte. Aber das bezog sich größtenteils auf Organisationsstrukturen, Teamwork und so. Klar, solche Locations wie ein Burgturm, eine Kneipe oder eine Seebühne, die wir ja ganz anders „bespielen“ müssen als einen normalen Bühnenraum, die haben per se immer viel Experimentelles und vor allem Unwägbarkeiten mit reingebracht. Aber rein künstlerisch wollten wir nicht das Theaterrad neu erfinden. Mir kommt das immer etwas suspekt vor, wenn Künstler sagen: in all den Tausenden Jahren abendländischer Kultur hat’s das noch nie gegeben, was ich hier vorhabe! Ich definier das Experimentelle lieber umgekehrt: wir gehen mal los ins Unbekannte und gucken, was wir da finden. Wenn es komplett neu ist: klasse. Wenn es mich zu eher „konventionellen“ Inszenierungslösungen bringt: auch in Ordnung. Wichtig ist, dass es gut ist und passend – nicht um jeden Preis neu und unerhört.

Völlig einleuchtend. Dennoch: Was war aus deiner Sicht das (inszenatorisch/inhaltlich, oder auch logistisch) Kühnste, was ihr bis dato gemacht habt?

Darf ich drei aus 52 nennen? Logistisch: eine schräge Musicalinszenierung im Freilichtmuseum, bei der die Handlung sich ständig verzweigte und die parallelen Handlungsstränge nach 5 oder 7 Minuten wieder sekundengenau aufeinander treffen mussten. Ästhetisch: eine Moby-Dick-Version, bei der wir im Innenraum einer denkmalgeschützten Kirche ein 2000-Liter-Bassin mit Milchwasser gefüllt haben, das durch einen Glasboden von unten elektrisch beleuchtet wurde. (Jeder Elektriker wäre ausgerastet.) Inhaltlich: eine Stückrecherche auf den Spuren des Tunguska-Events, wo wir 2009 mit vier sibirischen Trappern eine Woche lang knietief durch die Sümpfe gestapft sind auf der Suche nach nem abstürzten UFO. Na ja, oder nach sonst irgendwelchen mysteriösen Funden. Und ich hab sogar was Spektakuläres entdeckt, aber das hab ich erst zuhause kapiert.

Was ich dich unbedingt mal fragen wollte: Hast du in Tunguska eigentlich irgendwas Spektakuläres entdecken können?

Hahaha! … Ja. Aber das hab ich erst zuhause kapiert. – Du willst nicht zufällig wissen, was …?

Ich bin zwar nicht so der Fan von revolutionären Entdeckungen, Paradigmenwechseln und dergleichen, aber wenns unbedingt sein muss … Oder um es mit den Worten meines unironischen Ichs zu sagen: VERRAT ES SOFORT!!!

Nee, lieber nicht. Pause. Na gut, ausnahmsweise. Lange Pause. Aber es ist ein Geheimnis!! – Also, ich muss ein bisschen ausholen: Im Vorfeld unserer Recherche hatten wir damals Gerüchte gelesen, dass seit dem Tunguska-Event von 1908 irgendwas mit dem Magnetfeld in der Region nicht ganz richtig tickt. Die Rede war von drehenden Kompassnadeln, stehenbleibenden Quarzuhren usw. Als wir unsere Trapper darauf ansprachen, die ja zum Teil schon seit Jahrzehnten da durch die Wälder streifen, hieß es: „Alles Quatsch und Legendenbildung, nie was Außergewöhnliches bemerkt.“ Okay, gut so weit. Wieder zuhause in Deutschland, hab ich ein zerbrochenes Fahrtenmesser auf einen Tisch gelegt, das ich da im Wald gefunden hatte und das bestimmt ein paar Jahre da rumgelegen hatte, bevor es in meine Tasche gewandert ist. Auf dem Tisch lag fünf Zentimeter weiter eine kleine Metallfeder, so ähnlich wie die Federn in Kugelschreibern. Und das Ding ist regelrecht zum Messer rüber gesprungen und hat sich an die Klinge geklebt. Das Messer ist nach ein paar Jahren ruhigem Liegen in der Region zum Powermagneten mutiert. Cool, oder? Oder nicht? Ist das zu banal? Und was hat das mit experimenteller Kunst zu tun?

Nun, ist vielleicht kein unheimlicher Fall für die X-Akten, aber spannend und ein bisschen gruselig ist das schon – ich hatte so ein Erlebnis jedenfalls noch nicht. Experimentalität dürfte vielleicht in der Sprungkurve zu suchen sein, die die plötzlich angezogene Metallfeder hingelegt hat.

Interessant. Willst du damit andeuten, dass die Experimentalität eines Vorgangs durch seine Sprungkraft, also letztlich durch die Direktionskonstante bestimmt wird? Dann wäre nach dem Hooke’schen Gesetz die Direktionskonstante D, also die Experimentalität, definiert als Quotient aus der künstlerischen Kraft F und der Länge des Kunstwerks ΔL. Sprich: D gleich F durch Delta L. Das würde auch bedeuten: je mehr künstlerische Wucht sich auf je weniger Theaterminuten verteilt, desto experimenteller. Was wiederum eine schlüssige Erklärung dafür wäre, warum Hooke selber sich so in die Micrographia gestürzt hat: möglichst viel Art Power fokussiert auf ganz kleine Objekte. – War es das, was du damit sagen wolltest?

Eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass es sich bei Peter Greenaway möglicherweise um einen sog. Rühlvogel handelt. Diesbezüglich zwei Fragen: Was ist für dich ein Rühlvogel? Und was macht Greenaway, der nicht nur zur Avantgarde, sondern auch zu deinen Favoriten zählt, in deinen Augen so besonders?

Also, dass Greenaway ein führender Rühlvogel sein soll, sogar Leiter der europäischen Sektion, das hab ich schon öfter gehört – halte ich aber für ein böses Gerücht. Ich mein, ich sehe da kaum Parallelen, außer eben, dass er sich wie ein Rühlvogel von Eklektizismen ernährt. Aber das tun wir beide ja auch, ohne welche zu sein. (Oder bist du etwa einer?) Was allerdings stimmt: er gehörte, neben Bausch und Ciulli, zu meinem persönlichen Dreigestirn – damals, als ich noch klein war, also Anfang der Neunziger. Ich hab ihn mal darauf angesprochen, dass er Linkshänder ist, genauso wie der Draughtsman im Kontrakt des Zeichners. Seine Antwort war: „Kein Wunder, das ist ja auch immer meine eigene Hand, die in den Naheinstellungen zu sehen ist.“ Und das wäre wohl auch meine Antwort auf deine Frage: das Spezielle an Greenaway oder genauer: das, was geblieben ist, obwohl ich mich von dem Tableaukino und Bildertheater des Dreigestirns inzwischen meilenweit entfernt habe – das ist seine persönliche Codierung. Viele Künstler gerade in den Darstellenden Künsten versuchen ja, allgemeinverständlich und globalwirksam zu sein. Das ganze System Hollywood baut darauf auf, und das funzt ja auch und hat seine Berechtigung. Aber dann gibt es die anderen: ein Greenaway-Film ist eine verschlüsselte Nachricht, und der Dechiffrierungscode, den niemand komplett kennt, das ist er selbst: der Künstler. Ich mag das, auch in der eigenen Arbeit. Ich finde das wichtiger als einen bestimmten konstanten Stil, also die sog. „künstlerische Handschrift“.

Ich komme mir hin und wieder auch wie ein Rühlvogel vor, ehrlich gesagt. Deine kunsttheoretischen Ausführungen finde ich interessant. Und schade, dass Greenaway nichts über das Schicksal von Prof. Klandestine Fallobst zu berichten wusste. Ein hartes Versäumnis?

Na ja, einerseits andererseits. Ich meine, dafür hat er immerhin das Leben von Tulse Luper haarklein rekonstruiert. Also, der arme Mann kann sich ja nicht um alles kümmern! – Wusstest du übrigens, dass Luper mit vollem Vornamen „Tulse Henry Purcell“ heißt? Immerhin DER Purcell, der mit seiner Frostgeistarie den Grundsound für Greenaways Koch, Dieb usw. geliefert hat. Und dessen Dido, geschrieben 1689 für ein ohlala Mädchengymnasium, gute dreihundert Jahre später meine allererste Operninszenierung war. So schließt sich der Kreis …

Du hast eine Oper inszeniert?! Und was war eigentlich das anspruchsvoll zu timende Musical, von dem du vor ein paar Fragen gesprochen hast?

Ähm, ja. Nein. Drei Opern. Aber reden wir jetzt nicht zu viel über mich und zu wenig über das Experimentelle?

Du verlierst ein paar Worte über deine Operntätigkeit, und ich mache im Gegenzug einen auf Metawechsel und frage dich: Welchen konversationsdramaturgischen Move (oder Kniff, oder „Rühl“) sollte ich an dieser Stelle wagen, um unser Gespräch zu einem wahrhaft experimentellen Interview werden zu lassen?

Also gut, mit den Opern war das so — oh! ah! holy fu**! Puh, das war knapp, das hätte böse enden können. Sorry, ich war kurz abgelenkt, mir sind nach deiner Frage zwei Rentiere im Dunkeln fast auf die Motorhaube gesprungen, daraufhin hab ich mich spontan gegen Rentierfrikassee und auch gegen das entgegenkommende Auto entschieden und bin zwei Meter tief im Straßengraben gelandet, wo ich dann eine halbe Stunde im Schneesturm auf den Trecker warten musste, der mich da rausgezogen hat. DAS IST KEIN WITZ! Ähm … Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, die Opern. Also, Purcells Dido und Aeneas, das war wirklich experimentell, das hab ich mit Sprechschauspielern und ohne Sänger als eine Art Playbackoper inszeniert. Der Soundtrack lief die ganze Zeit durch, und die Darsteller haben dazu agiert, teils pantomimisch oder mit Taubstummenzeichen, teils auch sprechend. Die beiden anderen Opern waren Webers Freischütz und Rossinis Barbier von Sevilla als Hochschulprojekte mit Studenten der Berliner Universität der Künste (was damals noch die HdK war). Da bestand das Experimentelle eher darin, mit Sängern so zu arbeiten, dass sie aus der typischen Arienstatik mal rauskommen und sich natürlich bewegen und verhalten. Der Hauptdarsteller hat damals wochenlang gewettert, dass da so ein Sprechtheaterfuzzi seine Finger drin hat und dass das, was ich vorhabe, gar nicht klappen kann. (Wobei, bitte, ich hatte zumindest ein komplettes Musikwissenschaftsstudium auf dem Buckel.) Aber immerhin, nach der Premiere – und nach dem Applaus von 1.200 entzückten Leutchen – ist er zu mir gekommen und hat so was gesagt wie: „Okay, du hattest recht, hat doch geklappt.“ Das fand ich sehr sportlich von ihm … So. Und jetzt dein Move!

Ist es nicht ziemlich experimentell, wenn ein selbsternannter Seltsamkeitsforscher mit 32 Jahren zum ersten Mal Kafkas Verwandlung liest?

Denkst du dabei an jemand bestimmten? Und wie ist es dir beim Lesen ergangen?

Na ja, streng genommen hab ich noch nicht zu Ende gelesen … Aber ich behaupte mal, dass Herr Kafka die tolle Eigenschaft hat, einen psychologisch vielschichtigen und feinsinnigen, regelrecht dokumentarischen Surrealismus (vielleicht nicht ganz das richtige Wort) zu pflegen, dessen zwei Hauptpotentiale – zu verstören und zu berühren – zueinander in wechselseitiger Beziehung zu stehen scheinen. Apropos – warum fühlst du dich vom Genre der Mockumentary eigentlich so angezogen?

Huch – tu ich das?! Könnte sein. Denkst du an was Konkretes, abgesehen von der Verwandlung?

Ib blaube, bich entbinnen zu bönnen, dass du Zelig sehr mochtest und Fraktus sehen wolltest. Ich kenne bisher nur den ersteren. Schon mal daran gedacht, eine Pseudoku auf die Bühne zu bringen?

Na gut, ertappt; und die X-Files, meine Darlings, haben ja auch durchgängig was „Mockumentarisches“ … Also, dran gedacht schon, aber bisher ist der richtige Stoff noch nicht aufgetaucht. (Oder ich hatte Tomaten auf den Augen und hab ihn nicht erkannt.) Andererseits sind die echten Dokus, die ja rund zwei Drittel unseres Spielplans ausmachen, auch immer eine großartige Sache. Auf der Recherche für ein Stück durch die Sahara zu streifen oder auf den Äußeren Hebriden in umtosten Felsklippen zu hängen, macht ja auch nicht wenig Spaß!

Wie ist das bei dir? Würdest du sagen, dein Pinguinmädchen Alu ist eine Mockumentation? Vielleicht sogar eine autobiografische Mockumentation?

Autobiografisch, ja. Damals floss das Aluminium noch aus allen Öffnungen, so ähnlich wie das Spice in Dune. Aber das einst Erlebte ist endgültig zu Kunst erstarrt, so ähnlich wie der Masterstorch im Gebärmutterprisma. Damit wären wir auch schon beim Thema: Welche Synonyme für „experimentell“ fallen dir ein?

Uff. Deine Fragen, Kollege … Also, Word hat mir gerade „versuchsweise“ und „probeweise“ angeboten, aber auch „geprüft“ und „bestätigt“. Letzteres sehe ich radikal anders. Könnte „ungeprüft“ ein Synonym sein? Ich sag’s mal so: Mein Synonym für das Experimentelle wäre kein Wort, sondern ein Bild – die Taube auf dem Dach. So gesehen, sollte eh alle Kunst experimentell sein. Der Spatz in der Hand – das, was wir schon können, was „geprüft und bestätigt“ ist – das ist künstlerisch uninteressant. Wenn Yves Klein hundertmal dasselbe blaue Bild malt, dann bete ich für ihn, dass er dabei immer noch nen neuen Dreh hat. Also entweder in jedem einzelnen Gemälde nen neuen Strich. Oder von mir aus besteht das Experiment auch in der Serie, im steten Tropfen, im Versuch, hundertmal exakt denselben Strich zu ziehen. Aber wenn nur das erste Blaubild ein Experiment war und der Rest fürs Konto: dann kommt er ins Künstlerfegefeuer und der Fitzliputzli zwingt ihn, viertausend Jahre lang gelbe Bilder zu machen. Selbst schuld!!

Aber wenn gerade jene von dir mit Vorsicht bis Abscheu „genossenen“ epigonalen Geometrien den Kern des Künstlerisch-Experimentellen bilden, was dann? Oder ist der Gedanke, Stumpfsinn zur neuen Originalität zu erklären, zu fies (oder gar viehisch)?

Nun ja … – ja.

Und wie doof (oder gar bestialisch) würdest du mich finden, wenn ich dich darum bäte, Argumente dafür zusammenzutragen, warum Musik/Tonkunst nichts weiter als primitive Scheiße ist? Immerhin sind das bloß Schallwellen, die unsere beknackten Innenorgane kitzeln und unseren beschissenen Hirnchen irgendwelche erlesenen Feinheiten suggerieren usw.

Ist das ein FSK18-Interview?!? Hoffentlich. Falls ja: Das schweinische Kitzeln aller möglichen inneren Organe ist ja an sich schon ein Wert, ob nun Prommelfell oder Trostata. Erst recht, wenn Musik im Spiel ist. – Oh, und jetzt, wo ich sowieso im Fettnapf steh, lass uns über Peinlichkeit sprechen. Peinlichkeit und Experimentalität wohnen ja eh quasi Wand an Wand … Einer meiner peinlichsten musikalischen Momente war der, als ich mit, weiß gar nicht, 16 oder 17 Jahren in München in der Philharmonie gesessen und relativ viel Unruhe generiert hab, weil mich Celibidaches Dirigat von Bruckners Vierter in eine, ähm, peinlich, mehr oder minder konvulsivische Trance versetzt hat. Da saß also dieser langhaarige leptosome Teen im ersten Rang, zuckend und japsend und mit geschlossenen Augen, und drumherum eine Schar von wohlbetuchten bajuwarischen Konzertabonnenten, die sich von mir gelinde gesagt auf die Füße gepisst fühlten wie weiland Henry Hathaway von John Wayne. Und ich? Hab davon nix mitgekriegt, ich war wirklich in einer anderen Welt, in Brucknistan oder was weiß ich. Komplett weggebeamt. Das und nichts anderes ist Musik: die größte Macht der fühlenden menschlichen Welt. Ich kann über Tonfolgen ins Heulen kommen, buchstäblich, keine Metapher. Ich mach nur deshalb ersatzweise Theater, weil ich so ein elend dilettantischer Musiker bin. Wenn ich deine Instrumentbeherrschung hätte, würdest du keine einzige Inszenierung von mir sehen können. Ergo: Prostata, Bruckner, Heulkrampf – genug Argumente?

Dein leidenschaftliches Plädoyer für jenes Phänomen, das ich soeben für überbewertet erklären wollte, lässt mich augenblicklich verstummen. Doch will ich als starker Vertreter der Denkschule der Psychopathischen Skepsis anmerken, dass ich – von informationellem Flüsterschwachsinn umgeben – nichts unhinterfragt lassen will, daher die Frage: Hatte dein Bruder schon mal Sex mit Außerirdischen?

Nun ja … – nein.

An dieser Stelle sei ein Intermezzo zwecks Sagung von „dass dieses unser Gespräch erdenklich positiv ist“ erlaubt: Es ist erhellend, ergiebig, erstaunlich, erogen, erheiternd, erratisch, erfreulich, und natürlich – erdogan. Daher wäre es erwünschenswert, wenn es noch möglichst lange währen würde. Übrigens waren mir vorhin die beiden Wörter „Celibidaches“ und „Dirigat“ nicht geläufig, sodass ich im ersten Moment annahm, es handle sich bei den beiden um Namen eines fremdländischen Musikers, immerhin reimt sich Dirigat auf Montserrat. Erst das genauere Hinsehen gab mir die Erkenntnis, dass „Dirigat“ von „dirigieren“ kommt, analog zu Eregat/erigieren, Manipulat/manipulieren oder Systemat/systematisieren. Thymian.

Oh pardon. Ich wollte dich mit meinem Irritat nicht irritieren. Apropos, wusstest du übrigens, dass es sich bei den Irritieren um die verstörendsten Kreaturen des Universums handelt? Das männliche Irritier erreicht nur ein Vierhundertstel von der Größe des Weibchens, ist aber dabei zwölf Mal so schwer. Seine graphithaltigen Borsten werden auf manchen Planeten geerntet und als Bleistifte verwendet, und das Augäpfelgelee ist eine Delikatesse, die nur Halbgöttern und jungfräulichen Königinnen vorbehalten ist. Sowie Theaterregisseuren, natürlich.

Es ist ja so, dass heutzutage jegliche Kunst (darunter auch die Irritiere) in binärer, digitaler Form (Brits 8 Brytes) vorliegt. Empfindest du es nicht auch als eine extrem unökonomische Masche, dass beispielsweise eine mp3 erst in Elektrizität umgewandelt wird, dann über den Lautsprecher oder Kopfhörer in Schall, dann zurück in Elektrizität und schließlich in ein gehirnfähiges, im Folgenden provisorisch als *.geh bezeichnetes Informat? Könnte man nicht diese ganzen „Mittelsmänner“ umgehen, indem man jegliche der oben beschriebenen Umwandlungen für obsolet erklärt? Ist es nicht ein legitimer menschlicher Wunsch, alles Wiss- und Erfahrbare, also egal ob Star Wars oder das Preisschild an einem neuen Mountainbike bei Fahrrad Franz, zu uniformieren, um anschließend diesen ultramassiven Entropiebrei über irgendeine Form von Schlauchapparat zu internalisieren? Eins sein mit der Existenz und all ihren …?

Sehr interessante Frage, großartige Frage. Deine Fragen werden immer besser, sie erreichen allmählich die kritische Temperatur von Irritat 451. Insbesondere die letzte Rückumwandlung von Ohrschall in Hirnstrom hatte ich erfolgreich verdrängt. Und wir kennen das ja aus der Wechselstube: Wenn du Drachmen in Pesos in Drachmen in Pesos in Drachmen wechselst – dann sind wegen der Wechselgebühren hinterher keine Drachmen mehr übrig, siehe Griechenland. Fortgesetztes Hin- und Hertransformieren von Hertz in Watt hätte also letztinstanzlich entweder totale Stille oder totale Debilität zur Folge. Kein Schall mehr. Oder aber kein Hirnstrom. Lieber intelligent im ewigen Silentium oder hirntot im Klangparadies? Ich wähle Tor zwei. Was war nochmal deine Frage?

Wollt ihr das Totale Hirntot?! Eigentlich hätte ich hier 3 Experimentalnüsse in petto, die ich dir zum Knacken anbieten möchte, damit du sagst, was deiner Meinung nach drin ist: Nuss 1: „Menschelnde Würmer“, Nuss 2: „1 Kilo Zucht“ & Nuss 3: „Umbro ist ein idiotisches Wort, das einem wohl einfällt, wenn man zu wenig geschlafen hat und überarbeitet ist …“. Und wenn du vorhin auf die Frage „Hatte dein Bruder schon mal Sex mit Außerirdischen?“ mit „Ich habe keinen Bruder geantwortet hättest“ … öhm, ich meinte: „Ich habe keinen Bruder.“ geantwortet hättest, dann hätte ich „Also ja.“ entgegnet, um damit einen unaussprechlich grotesken Akt anzudeuten, der mit dem Verschwinden bzw. Niegewesensein eines Menschen/Kindes in unmittelbarem Zusammenhang steht.

Na gut. Diesmal wähle ich Nuss Drei. Das Problem beim Umbro wie generell bei jedem schlötbaren Neologismus ist ja, dass er sich im Moment der Niederschrift bereits in ein Hapaxlegòmenon verwandelt, bzw. durch meine reziproke Reprise bereits in ein Bislegòmenon. Er geht gewissermaßen vom Labor direkt in den Bestand, zumindest ins Archiv, er existiert aus eigenem Recht. Die Schöpfung negiert mithin den Schöpfer, da geht es dem Dichter nicht besser als dem Herrgott. Die einzige Möglichkeit, diesem kataklysmischen Verhältnis der Sprache zu ihrer Herkunft zu entkommen, bestünde darin, das eigene Heureka zu taggen wie Vespucci das neue Indien: Amerika. Dann würdest du aber keinen Umbro gebären (Trislegòmenon!), sondern allenfalls einen Ableff. Wäre das etwa besser als das Niegewesensein?

Dann frage ich mich, wie wohl ein selbstrefentielles Tagging aussehen würde, wenn ich einen Ableff entdecken würde? „Abafall“? Und wie sähe ein korrekter Metadatensatz für die Interviewfrage „Was hältst du als ‚Freier’ eigentlich von Stadttheatern?“ aus?

Letzteres ist eine so provokante wie tiefsinnige Frage. Offen gestanden, es ist wahrscheinlich die kühnste Interviewfrage, die mir als Freier, wie auch als Freiem, je gestellt wurde. Eine ehrliche Antwort darauf würde den Schlüssel liefern nicht nur zu meinem gesamten inszenatorischen Schaffen, sondern zum Verständnis experimenteller Kunst allgemein und auch des Universums. Umso bedauerlicher, dass ich dieses zugegeben erdogane Tastaturtelefonat nun umgehend beenden muss. Einerseits wegen der ridikulösen, ja nachgerade (stadt-)theatralischen Ferngesprächstarife, andernteils auch aufgrund der Tatsache, dass das Essen fertig ist. Der Theoretisch ist schon gedeckt, was wiederum sehr praktisch ist. Es gibt gesottenen Ableff und Augäpfelgelee vom männlichen (!) Irritier: exquisit lecker, wenn auch sehr schwer im Magen liegend. – Abschließend kannst du mich aber gern noch fragen, ob ich dir verrate, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut.

Wie, das solls gewesen sein? Dabei hatte ich doch noch so viele Fragen an dich: Was ist deine wildeste und möglicherweise geheimste (Theater-)Vision, die du eines Tages zu realisieren hoffst? Verrätst du mir, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut – nen Platten auflegen? Was ist das experimentellste Stück Kunst, das du je gesehen hast und gut fandest?

Okay, okay, diese drei noch. Meine wildeste Theatervision: längst geschehen, ich hab doch schon hundert Inszenierungen aufm Buckel. Das experimentellste Stück (Theater-)Kunst: Oscar Wildes Salome als Berliner Puppentheater mit Müllobjekten, extrem weird! Und was war nochmal die dritte Frage? Na komm, sei nicht so!

Danke dir, lieber Zeha, für dieses amüsante Gespräch, das zwischen Tief- und Unsinn tunnelt wie ein experimenteller Thunfisch.

Wie, und die Antwort interessiert dich nicht???????????????????????????

DOCH!

Ja dann, anders klappt es leider nicht, frag mich nochmal, ob ich dir verrate —

Verrätst du mir, was ein experimentell kalauernder Gesprächspartner am Ende des Telefonats tut?

tut, tut, tut, tut, tut, tut, tut …

A B C D E F G H I J ……………….

(Fühlst du, wie das „K“ lauert?!)

;oP

All You Can Interview° mit Iven Einszehn

iven_einszehn

Iven Einszehn lebt als Autor und Künstler in Hamburg und entzieht sich den branchenüblichen Schubladen. Er bedient alle und sich an allen Ausdrucksmöglichkeiten, außer Tanzen natürlich. Dabei renoviert er regelmäßig alle angewendeten Handwerke, bringt sie ordentlich durcheinander und gelangt so zu neuen Techniken. Einszehn selbst verkürzt sein grenzenloses Schaffen auf ALL YOU CAN ART. Er ist ein neurotischer Satiriker, der mit dem Begriff Dreistist besser erklärt wäre, weil den die Polizei nicht kapiert.

Die Fragen stellt Daniel Ableev.


Als diplomierter Tausendsassa verfolgst du eine klare „Was muss, das muss, und müssen muss alles“-Linie – gibt es Kunst, die du nicht machen würdest? Welche zu machende Kunst steht hingegen noch aus?

Typische Frauenkunst werde ich auf keinen Fall machen! Man erkennt typische Frauenkunst am Unfertigen, schlecht Durchdachten, frei von Kontext, so ungefähres Zeug, dafür irgendwas mit Gefühl, worauf ganz viel abgelabert wird, in den Floskeln Ja, stimmt / find ich auch / hier rechts, auch schön, denn in dieser Kunst stimmt immer alles, weil sie sich einer Kunstbetrachtung entzieht, indem sie sich in Kunsttratsch wälzt.
Typische Frauenkunst würde ich gerne mal machen. Mich befreien vom Vollständigkeitsdrang, den Übertreibungen, der inhaltlichen Pedanterie, mich erfreuen am Unfertigen, Zufriedensein mit geistig angerissenen Inhalten, die komplizierten Kontexte, die einen wochenlang martern, einfach mal weglassen, mich auf das konzentrieren, weshalb ich in Therapie bin: Gefühle. Dazu ganz viel Blasentee. Vielleicht entwickel ich mich sogar weiter und filze meine Ängste.

Was ist das Gegenteil von Kunst? Doch nicht etwa Wissenchaft, Religionswissenchaft und/oder Larvung de Fiemyng [03:15]?

Religion und Wissenschaft sind bereits ihrer von und zu Gegenteile, die brauchen keine dritte Kraft, um sie fertigzumachen. gegenTeile von Kunst werden in Kühlschränken verbaut. Deshalb bewahrt man darin Lebensmittel auf, bei denen man die Illusion hat, sie irgendwann mal zu essen. Nutzt man den Kühlschrank zur Aufbewahrung von Bier, erlebt man eine umgekehrte Illusion: Es ist nie genug davon da.
Gegenteile von Kunst werden auch bei IKEA angeboten. Da heißen sie plötzlich Wandbild. Als wäre 1. ein IKEA-Kunde so dämlich, ein Bild zuhause in den Backofen zu legen, wenn es einfach nur Bild heißt, sodass er 2. per Bezeichnung darüber belehrt werden muss, dass ein Bild ein Ding ist, das man an die Wand hängt, eben ein Wandbild. (Klar, man könnte behaupten, was IKEA da treibt, wäre irgendwie Kunst – ich befürchte allerdings, es ist pure Religion. Ich befürchte außerdem, dass IKEA längst als Partei in den Startlöchern steht und von den ostdeutschen Spanplatten in den Bundestag gewählt wird.)

Ist Kunst, die viel Geld einbringt, automatisch besser als diejenige mit geringem €rtrag? Ich kenne zum Beispiel jemanden, nennen wir ihn sauhalber Jens-Farbian Marder, der 2006 von seinem Verlag eine Abrechnung über Euro 3,07 bekommen hat. Sollte ich den Kontakt zu diesem Schwein unverzüglich abbrechen?

Man braucht sich nicht schämen, berühmte Leute zu kennen, Vorsicht ist aber immer geboten: Behaupte, Du hättest sein Buch gekauft. Weil Du es nicht vorlegen kannst, hast Du es gerade verliehen. Solltest Du sein Buch tatsächlich gekauft haben, hämmer es rechtzeig in den Schredder, sonst klirrt der ungefragt seinen Scheißnamen mit irgendeiner hochnotpeinlichen persönlichen Bemerkung, was für ein toller Kerl Du bist, da rein. Mit diesem Vorwurf musst Du dann für immer leben. Auch Verbrennen hilft dann nicht mehr. Außerdem solltest Du ihn immer an den Kühlschrank lassen, wenn er eh schon bei dir wohnt.
Eine enge Freundin hat seit Jahrzehnten Bücher einem Hamburger Verlag in immer neuen Auflagen im Programm. Sie hat nie auch nur einen Pfennig dafür bekommen. Bücher verkaufen sich nicht nur schlecht, Verlage bescheißen auch heftig. Kaum ein Autor traut sich, drüber zu reden, alle Pisser und Schisser fürchten, die Türen hinter sich zuzuschlagen. Ich eifere meiner Freundin nach. Meine letzten Verlagsabrechnungen betrugen € 0,50 & € 2,34. Bei einem dritten Verlag hab ich tatsächlich seit Jahren stolze 17EuroirgendwasKomma50 offen. Die zahlen aber erst ab 50 Euro aus. Ich hoffe, dazu kommt es nie, denn würde ich diese Barriere überschreiten, würde alle Reputation, die ich mir mühsam blabla usw. usf.

Präzision ist das (l)A(ch) und (l)O(ch): Wenn jemand hinkt, bietet es sich an, ihm in sein Fortbewegungsapparatloch zu scheißen. Wenn jemand vergesslich ist oder Gasbein mit Flimmergau verwechselt oder ein elendes Arschloch ist oder eine komische Augenbraue aufweist oder oder oder – immer ist ein passendes Loch zur Stelle, das fachmännisch gefüllt gehört. Nenne ein paar satirische Meisterleistungen, die dich beeinflusst haben.

Aktuell beeinflussen mich eigene:
„Wenn mein fetter Nachbar beim Arzt eine Urinprobe abgibt, nehmen die das im Labor zum Frittieren.“
„Erdogan wird es nie zulassen, dass die EU der Türkei beitritt.“
Über allem aber thront der Titanic-Titel: „Schlimmer Verdacht: War Hitler Antisemit?“
Unübertroffen ist und bleibt Andi Warhol, der einer Interviewerin über den Mund gefahren ist:
„Herr Warhol, würden sie sagen, die Pop-Art ist -“
„Nein!“

Als Satiriker machst du auch vor derbstem Unfug nicht halt – erinnerst du dich noch an deinen allerersten erfolgreichen Lochschiss?

Ein Holzkreuz im Alter von acht Jahren mit dem Namen der pummeligen Silke aus dem dritten Stock. Frau Wiedermann hatte vor der Haustür Stiefmütterchen gepflanzt. So ungeschickt arrangiert, das sah aus wie ein Kindergrab. Das war zugleich mein erster Skandal. Ich hab in dem Alter natürlich nicht kapiert, was für eine großartige Sache so ein Skandal ist, ich dachte, es ginge im Leben um diese andere großartige Sache, die mich täglich stundenlang beschäftigte. Ich dachte, es geht um Sex.

Wie viel Selbstbewusstsein sollte ein guter Künstler mindestens mitbringen? Wie viel höchstens?

Alles unter 17 cm wäre lächerlich, sagen wir also 18. Überwiegt das Selbstbewusstsein die Zweifel, ist man lediglich größenwahnsinnig. Dann sollte mans lassen.

Wo siehst du dich in vünv Jahren?

Der Maschsee in Hannover wird zugeschüttet, damit am gerade fertiggestellten Anbau am Sprengel-Museum ein Anbau angebaut werden kann, in dem ich wohne. Endlich genügend Platz zum Arbeiten an einem Ort, der mich bedingungslos liebt und mich schonungslos aussaugt. Das Museum wird umbenannt in Halle der bANALität, Kulturschrauben organisieren daraufhin tagelange Massenproteste, bei denen versehentlich das Alte Rathaus in Flammen aufgeht, glücklicherweise aber auch die Oper. Ich erhalte Asyl in der Kestner-Gesellschaft.

Sitzt das deutsche Fleisch noch locker, oder müssen wir uns Sorgen machen?

Schöne Frage. Wer sich keine Sorgen macht, hat zu wenig Zeit oder falsche Freunde.

Was bringt dich in unserer heutigen Gesellschaft zum Kotzen, was auf die Palme?

Die Google-Blödheit: die Unfähigkeit, Richtiges von Falschem zu unterscheiden.
Meine Nachbarn, die sich nur für Scheiße interessieren. Die haben mittlerweile sechs Kacken-verboten-Schilder ans Haus geklebt. Und zwar auf einer Höhe, wo es die Hunde besonders gut lesen können.
Dass Kneipenwirte alles in den gemischtrassigen Müll werfen.

Warum haben eigentlich die meisten Künstler so dürre Ärmchen? Weil sie keine Zeit für Pump einplanen. (Dumme Frage.)

Ist das so? Gegenfrage: Angeblich sind unter Künstlern so viele Schwule, wieso ist mir nie einer begegnet, obwohl ich sofort was mit ihm anzufangen wüsste, falls seine Fresse dafür taugt?

Welchem Künstler würdest du ungern auf der Straße begegnen?

Anders geantwortet: Ich habe mal in einem Verlagsvertrag den Passus installiert, dass Vito von Eichborn niemals in diesem Verlag tätig werden darf. Ich hab den Schleimer nämlich in einem anderen Verlagszusammenhang kennenlernen müssen, davon hab ich mich nie erholt, mir ist heut noch schlecht. (Strafrechtlich irrelevante Benefizbeleidigung.)

Verzeihst du mir noch einmal meine pathologische Wortspielsucht und ihre zuweilen brüllend blöden Auswüchse (vgl. übernächste Frage)?

Jadesto.

Und was ist mit der oftmals sparsam bemessenen Bildwiederholfrequenz von CCTV-Kameras: Lässt sich diese als Erklärung dafür heranziehen, dass die Dinger hauptsächlich Ungeheuerliches bis Perverses einfangen?

Immerhin hat das mit Licht zu tun. Wie kommt das eigentlich, dass ein Photon einer Supernovaexplosion vier Milliarden Jahre unterwegs ist, sodass wir uns diese Supernovaexplosion heute ganz weit nach früh angucken können, aber das Photon aus der Schreibtischlampe nimmt sich nicht einmal ein paar Sekunden Zeit oder fünf Minuten?: Das Licht geht sofort aus, sobald ich die Lampe ausschalte, ist augenblicklich pfutsch. Sollte das Photon aus der Schreibtischlampe nicht für einige Milliarden Jahre Helligkeit sorgen? Überhaupt: Wenn Photonen ferner Sterne Milliarden Jahre überdauern, sollten die Milliarden Photonen von Milliarden Sternen, die Milliarden Jahre durchs Universum schwirren, das Universum nicht klirrendhell erleuchten? Woher stammt die Dunkelheit?
Jetzt geht’s mir etwas besser. Glaube ich.

Hat Jam Bonermum alles richtig gemacht?

Selbstverständlich habe ich das richtiggemacht. Das Ziegenfickergedicht war zwar bloß großer Klamauk, hat aber deshalb oder gerade deswegen funktioniert, weil es viel zu lang war. Ursprünglich wollte ich wochenlang nachlegen und weitermachen, bis Erdogan der Bundesrepublik den Krieg erklärt: Ich hör sein eierloses Quiekstimmchen so gern, wenn der sich aufregt. Ich stell mir dann immer seine Frau vor, die den Typen drüberlassen muss. Brrr. Solche Bilder sind zwar voll ekelhaft, aber dafür lebe ich. Die ZDF-Diktatoren haben mir dazwischengefunkt. Es berührt mich nicht, denn ich zahle eh keine GEZ.

Bisher unangesprochen gebliebener Bonus-Elefant: Ich erinnere mich, dass du mal auf eine Lebenslauf-Parodie von mir mit verstörender Unhöflichkeit reagiert hast – magst du dazu was sagen?

Ich erinnere mich nicht. Es gibt aber nicht viel, was in Frage kommt. Ich nehme an, du hast dich an einem antisemitischen und/oder homophoben Fauxpas versucht, dem es an sprachakrobatischem Hedder mangelte. Wenn so etwas schiefgehen soll, muss man das prima anlegen. Kurzgesagt: Der Knoten darf nicht aufgehen.

Und hier noch ein kleines Walkthrough durch deinen witzigen wie inspirierenden Gedichtband „Es geht auch ohne Elke Elke“ (2015) feat. Elke, Karlstadt Lagerfail, Dachschaden, Rücksichtsnahmesenf u. a.:

Mein Wellensittich nickt selbst die neue Dream Theater durch. // Wer ist Du denn? // Menschen stelle ich mir grundsätzlich ins Wohnzimmer (Möbel Günter). // Zuckerrüben sind sehr intelligent, ihre Haare allerdings das Letzte. // Vollständig deviante Kinder im Raubmaulkostüm. // Wofür steht ELKE? // „Wir sind Inge-borrow (vgl. WC-Würfel) – Widerstand ist zweckloch.“ // Nazihai ist politisch inkorrekt, es müsste „Niezhau“ heißen. // Furnier-Transformation an Marianne auf To-do-Liste gesetzt. // Wer ist denn bitte KARLSTADT? // Man nehme zwei Bürger und stecke sie so lange aufeinander, bis Reim entsteht. // Positivschinken + Negativwurst = Neutralflaisch. // BILD Dir Deine bizarre Achselhöhle! // Anderen den selbstgebastelten Spiegel (aus alten Großhirnrinden) vorhalten. // Aussehen – die schönste Nebelmaschine der Welt. // Nachbarn zwecks Saft einladen. // Schmetterlinge sind tabu, dachte ich. // Staubsauger saugen nicht nur Nagellack ganz gut. // Wenn „zement“ eine Verbform ist, wie lautet dann die dazugehörige einsame Mutter? //

(Ich bekenne aus tiefer Überzeugung: Wenn man sich drei Exemplare der gehirngeschredderten Gedichte kauft, ist man voll auf deiner Wellenlänge. Und auf meiner ganz besonders.)


Beitragsbild: Pressefoto Iven Einszehn

Was vom Hipster übrig blieb

Hipster-Bashing ist eine Jagd auf Phantome: Der zeitgenössische Hipster ist ein Mythos. Und der ursprüngliche Hipster wurde verehrt. Eine Begriffsgeschichte.


Spätestens seit Kraftklubs “Ich will nicht nach Berlin” kann jede٭r die Merkmale des Prototypen “Hipster” im Schlaf herunterbeten. Das ist doch dieser Typ mit Bart in engen Jeans, der auf seinem Fixie die Hand schützend über seine Spiegelreflex gelegt Richtung Friedrichshain radelt! Jetzt mögen die einen schreien: “Der Hipster ist schon lange tot!” oder “Den EINEN Hipster gibt es nicht, alle sind individuell!”. Die anderen lassen schnell ihre Retro-Brille verschwinden. Denn die Bezeichnung “Hipster” wird als Beleidigung verstanden. Zu oft wurde das Phänomen medial diskutiert und wissenschaftlich analysiert: Es galt schließlich die Modeerscheinungen, Lebensentwürfe, politischen Meinungen sowie Musik- und Literaturgeschmäcker auf einen Nenner zu bringen, um die Begriffe “Hipster” und “Hipstertum” zu rechtfertigen, zu definieren, ja, greifbar zu machen. So häufen sich Begriffserklärungen wie die vom Soziologen Philipp Ikrath:

“Mit diesem Lebensstil verbindet man urbane junge Erwachsene aus der Mittelschicht, überwiegend hoch gebildet, (populär-)kulturell interessiert und in der Medien- oder Kreativwirtschaft beschäftigt.”

Philipp Ikrath in “Hipster – Der Versuch ein Begriffsbestimmung”

Andere Wissenschaftler٭innen meinen, dass man “[a]m Ende […] meist bei intensionalen phänomenologischen Definitionen [landet], die Accessoires auflisten, an denen man Hipster erkennt” [Mark Greif in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”]. Trotz der Schwierigkeit, eine allgemeingültige Definition zu finden, trotz der Verachtung, der Totsagung und der vehementen Abwehr, selbst einer zu sein, geht vom Hipster eine Anziehungskraft aus. Er – wer auch immer er sein mag – muss medial herhalten: Als Erklärung für eine neue Modeerscheinung, als jemand, der “places to be” erschafft, als Hassobjekt und als ironisch überzeichnete Figur, über die jede٭r lachen kann. Und warum? Weil ein٭e jede٭r ein Bild, eine Vorstellung, eine Bedeutung von ihm hat. Der Hipster ist ein Mythos – ein Mythos des Alltags.

Quelle: YouTube

Mythen im Alltag

Dieser Mythos ist nicht einzureihen in die Mythen des Alltags à la “Pilze darf man kein zweites Mal aufwärmen”. Nach dem französischen Philosophen und Semiotiker Roland Barthes von 1964 ist der Mythos des Alltags eine kollektive und unbewusste Bedeutung, die sich “von einem semiotischen Prozess abgeleitet” [Roland Barthes in “Mythen des Alltags”]. Ein Mythos ist nie natürlich, sondern erzeugt – in unterschiedlicher Form und über verschiedene Medien vermittelt. Dabei entleert der Mythos bzw. die mythologische Aussage eine ursprüngliche Aussage. Wie alltäglich die Mythen nach Barthes sind, wird an einem Beispiel deutlich: Einst wurde “Weihnachten” (1. Bedeutendes) als Bezeichnung für das Ereignis der Geburt Jesu Christi (2. Bedeutetes) verstanden.

Beides war unzertrennlichen miteinander verbunden (3. Zeichen) – ein sprachliches, ein linguistisches System. Dieses ursprüngliche Verständnis ist in den Hintergrund gerückt. Der Mythos hat die Bedeutung von Weihnachten entleert. Die Bezeichnung “Weihnachten” (I Bedeutendes) ist nun unzertrennlich verbunden mit familiärem Zusammenkommen, Geschenken, Glühwein, geschmückten Bäumen, festlichem Essen (II Bedeutetes) usw. – vermittelt durch Medien. Ein neues Verständnis von Weihnachten (III Zeichen) ist entstanden, der Mythos des Alltags nach Roland Barthes. Genauso verhält es sich mit dem kollektiven Verständnis vom Hipster. Dem historisch aufgeladenen Begriff wurde seine ursprünglichen Bedeutung gestohlen und eine andere zurückgegeben.

Jenseits von Schwarz und Weiß

“Das Wort ‘Hipster’ kommt aus den Tiefen der amerikanischen Geschichte und bezeichnete einst eine frühere, tatsächlich relevante Subkultur”, so der Amerikanist Mark Greif [in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”]. So tauchte das Wort im New York der vierziger Jahre das erste Mal in der Musikszene auf:

“Als Schöpfer des Begriffs ‘Hipster’ wird häufig der Sänger und Boogie Pianist Harry “The Hipster” Gibson genannt, der seinem 1944 erschienen Album Boogie Woogie In Blue, das einen Song mit dem Titel ‘The Hipster’s Blues’ enthält, das kleine Glossar ‘For Charactes Who Don’t Dig Jive Talk’ beilegte.”

Jens-Christian Raabe in “Gegenwärtigkeit als Phantasma – Über den Hass auf den Hipster”

Quelle: YouTube

Ob sich “Hipster” vom Adjektiv “hip” ableitet, das in der afroamerikanischen Jazzszene der Zwanziger entstand, vermag keiner zu beantworten. Ganz abwegig ist es aber nicht: Wurde doch mit „hip“ oder seinem Vorgänger “hep” eine jazzverbundene Lebenseinstellung jenseits von einer “squaren” (spießigen) beschrieben. Und die kleine avantgardistische Gruppe vorwiegend schwarzer Musiker٭innen (z. B. Thelonious Monk, Miles Davis, Charlie Parker), angesiedelt um den Freejazz und Bepop, ab den Vierzigen in den USA waren erst hep und dann hip. Denn: “Hipness is not a state of mind, it’s a fact of life”, so der Musiker Cannonball Adderley. Sie waren so hip, dass bald immer mehr dieser Lebensweise nachkommen und die Rassentrennung überwinden wollten. Mark Greif schreibt:

“In den Fünfzigern bezeichnete man mit dem Begriff Hipster dann einen weißen Angehörigen einer Subkultur oder der Boheme, der von dem Wunsch der angelsächsischen Avantgard getrieben war, sich von dem Weißen an und in sich zu lösen und das coole Wissen und die exotische Energie, die Lust und die Gewalt der Afroamerikaner zu erlangen”

Mark Greif in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”

Die vorwiegend weißen, politisch ambitionierten, jungen US-Amerikaner٭innen (z. B. Literat٭innen wir Jack Kerouac, Allen Ginsberg) bezeichneten sich selbst als „Hipster“ oder auch “Beatniks”. Im Jahr 1956 veröffentlichte dann der Schriftsteller Norman Mailer seinen sehr umstrittenen Essay “The White Negro: Superficial Reflections on the Hipster” und machte den Szene-Begriff “Hipster” einem breiten Publikum zugänglich.

Als alle Hipster sein wollten, aber Hippies wurden

Die Bewunderung und Verehrung der Hipster blieb nicht aus. Und schon bald wollten viele junge Amerikaner٭innen ein Teil der in sich geschlossenen Subkultur sein. Aber sie wurden keine Hipster, sondern “Hippies”:

“[D]as Wort ‘Hippie’ war ursprünglich ja mal als Beleidigung gedacht. ‘Kleine Hipster’ nannten die Hipster und Beatniks der fünfziger und frühen sechziger Jahre jene Kids, die nur tanzen und kiffen wollten, dabei jedoch keine Ahnung hatte von Jazz, Politik oder Literatur.”

Mark Greif in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”

Auch “Hippie” war also genau wie “Hipster” heute negativ konnotiert. Erst in den Sechzigern wurde der Begriff “Hippie” dann von den Massenmedien verbreitet und mit einem Lifestyle in Verbindung gebracht. Dankbar sich einen Szenenamen geben zu können, nannten sich bald junge Menschen selbst “Hippies”. Der Hippie ist ein Mythos des Alltags. Denn wer denkt bei dem Wort „Hippie“ nicht direkt an Woodstock, Flowerpower, Drogen und tanzende Menschen mit runden Sonnenbrillen und bunten Bändern im zotteligen, langen Haar? Seiner ursprünglichen Aussage beraubt, wurde “Hippie” eine neue kollektive Bedeutung zurückgegeben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die kleine, ursprüngliche Hipster-Szene schon aufgelöst.

Der hippe, unpolitische Konsument ohne Musikgeschmack

Aber der Hipster kehrte 1999 in die USA zurück – jedenfalls das Wort “Hipster”. Zu finden waren sogenannte Hipster in “Lower East Side” oder “Williamsburg”. Sie verehrten die weißen Angehörigen der Unterschicht sowie Provinzmenschen und ahmten sie nach, indem sie z. B. Trucker-Klamotten trugen.

„Der zeitgenössische Hipster scheint also aus einer verworfenen Ahnenreihe von Jugendbewegungen hervorgegangen zu sein, die alle versucht hatten, ihre Unabhängigkeit von der Massenkultur zu wahren, eine Alternative zu dieser zu bilden, bevor sie dann doch integriert, gedemütigt und zerstört wurden.“

Mark Greif in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”

Mit den untergegangenen Jugendbewegungen sind hier u. a. der Punk und Postpunk gemeint. Was hörten dieser als unpolitisch bezeichneten Hipster für Musik? Was lasen sie für Bücher? Was sahen sie für Filme? Hier mag sich kein٭e Wissenschaftler٭in wirklich festlegen zu wollen. Sicher ist, dass dieser Hipster alles liebte, was fernab vom Mainstream lag. Und wie stand es mit der Bezeichnung “Hipster”? Auch in den USA um 1999 wie später in Deutschland haben sich junge Menschen nie als “Hipster” bezeichnet – somit gab es nie eine Szene mit dem Namen „Hipster“. Der Name wurde einer Menschengruppe, die sie nicht als Gruppe verstanden, angehängt:

“‘Hipster’ ist ein anderer Name für eine Figur, die man auch schlicht als ,hippen Konsumenten’ oder […] als ,rebellischen Verbraucher’ bezeichnen könnte. Der Hipster selbst erschafft keine echte Kunst. […] „Der Hipster ist eine Person, die Konsumentenentscheidungen – das richtige T-Shirt, die richtige Jeans, das richtige Essen – als Kunstform versteht.”

Mark Greif in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”

Auf der unendlichen Suche nach dem Hipster

Warum die Bezeichnung “Hipster” im 21. Jahrhundert in den USA und später auch in Deutschland wieder aufgegriffen wurde, ist ungeklärt. Einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der damaligen kleinen Hipster-Szene und den Menschen, die mit Spiegelreflexkameras und Nerdbrillen durch Friedrichshain laufen und als Hipster beschimpft werden, gibt es nicht. Der Mythos des Alltags nach Roland Barthes ist perfekt: Der einst innerhalb einer Szene entstandene Begriff wurde seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt. Kaum jemand denkt heute bei dem Wort “Hipster” an die Subkultur der Vierziger und Fünfziger in den USA. “Hipster” ist zu einem inflationär und unreflektiert verwendeten, von den Medien verbreiteten Sammelbegriff geworden.

Fast scheint es, als habe man nach Einführung des Wortes festgestellt, dass der Begriff dahinter nicht scharf definiert ist. Denn keiner behauptet stolz, ein Hipster zu sein. Und von einer richtigen Szene kann beim Hipstertum auch nicht die Rede sein. Schließlich wollen die vermeintlichen Mitglieder überhaupt keine Mitglieder sein. Damit begann die Suche nach dem gemeinsamen Nenner. Medien und Wissenschaft häuften Definitionen an. Und der Markt reagiert vermehrt: Kleidung, Retro-Möbel, Kameras, handgemachte Seife, Zahnpasta usw. Aber auch hier stellt sich die Frage: Was war zuerst da – das Huhn oder das Ei? Alles, was wir heute mit dem Wort “Hipster” verbinden, ist somit nicht natürlich entstanden. Es ist erzeugt, künstlich definiert. Der Hipster selbst ist ein Phantom. Ein Mythos des Alltags eben.

Nachtrag zur Titelfrage

Wie für alle Fragen, die die Menschheit beschäftigt, hat auch Google eine Antwort auf die Frage, was vom Hipster übrig blieb. Nämlich eine kleine Notiz des Google-Übersetzers:

Hipster Bedeutung Definition Google

Quellen:

“Hipster – Der Versuch einer Begriffsbestimmung. Eine subjektive Annäherung” von Philipp Ikrath, auf: Österreichisches Institut für Familienforschung der Universität Wien 2013.

Vorwort zu “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”, Mark Greif/n+1-Research (Hrsg.), Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.

“Mythen des Alltags” von Roland Barthes, edition suhrkamp SV, Frankfurt am Main 1964.

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe, von Mark Greif in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”, Mark Greif/n+1-Research (Hrsg.), Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.

“Gegenwärtigkeit als Phantasma – Über den Hass auf den Hipster” von Jens-Christian Raabe, in “Hipster. Eine transatlantische Diskussion”, Mark Greif/n+1-Research (Hrsg.), Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.

Titelbild: © Wikimedia Commons (bit.ly/29H49EO)

Maria Wende: „IDEA.fabric“ – Urbane Symptome im dörflichen Idyll

Maria Wende: "IDEA.fabric"

Ausgefallene Kleidung ist hierzulande nichts Außergewöhnliches, bunt gemusterte Burkas hingegen schon. Maria Wende lässt die selbstentworfenen Stücke zu gewissen Anlässen von freiwilligen Teilnehmern tragen und schlüpft auch selbst hinein. Wer hier das Werk einer innovativen Modemacherin vermutet, liegt falsch. Maria Wende ist Künstlerin. Als fotografische Assistenz durfte ich ihre Performance IDEA.fabric im Rahmen eines Wettbewerbs begleiten.


Zum Anlass seines 40-jährigen Bestehens dachte sich der Kunstverein Oerlinghausen etwas Besonderes aus. Unter dem Motto 7 Künstler, 7 Tage und mithilfe einer bundesweiten Ausschreibung lockte er sieben junge Künstler in das beschauliche Städtchen im Teutoburger Wald. In der letzten Maiwoche sollten die Künstler den Ort erkunden und abschließend ihre Ergebnisse in der ehemaligen Synagoge präsentieren. Das Sahnehäubchen des Ganzen: ein mit 1000 Euro dotierter Preis. Maria Wende war eine der teilnehmenden Künstlerinnen. Mit Burkas und zwei Assistenten im Gepäck besuchte sie Oerlinghausener, die sich über einen Aufruf in der örtlichen Presse gemeldet hatten.

Ja, Burkas. „Afghanisch geschnitten, aber verwestlicht“, wie die Künstlerin sagt. Die Muster der Stoffe reichen von schwarzweißem Leoprint bis zu einem Apfelmuster, das ziemlich nahe an das Logo eines großen US-amerikanischen Konzerns heranreicht. Vor einem Jahr hatten Maria Wendes Burkas Premiere auf der Hamburger altonale17. Mit vier weiteren Burkaträgern, darunter zwei Männer, bewegte sie sich im öffentlichen Raum Hamburgs. Damit erregte sie ohne Zweifel Aufsehen, wobei die Reaktionen sehr unterschiedlich ausfielen. Hamburg 1 befragte die Aktion exklusiv in einem Interview.

Für Oerlinghausen packte Maria Wende die Burkas wieder aus. Gemeinsam mit Künstler und Projekt-Assistent Florian Münchow und mir unternahm sie insgesamt fünf Hausbesuche im Ort. Während die beiden eine Burka trugen und von den Hausherren bzw. –damen eine Hausführung bekamen, dokumentierte ich den Besuch mit der Kamera. Von jedem Besuch wurde ein Foto ausgewählt, das im Anschluss im öffentlichen Raum Oerlinghausens mehrfach plakatiert werden sollte.

Hausbesuch in Oerlinghausen


Burka 2.0

Was aber sollen die bunten Burkas? Maria Wende hat sich vor der Variation des im hiesigen Kulturkreis unüblichen Kleidungsstücks mit dem Originalen intensiv auseinandergesetzt. „Die originalen Burkas sind einfarbig. Schwarz, blau oder auch weiß. Im Gegensatz zu meinen bunten reichen sie nicht bis zum Boden, sondern höchstens bis zu den Knien.“

Burkas sind ein kulturelles Kleidungsstück, kein religiöses. Getragen werden sie vor allem im öffentlichen Raum Afghanistans. In der westlich geprägten Kultur ist die Vollverschleierung unüblich bis rechtswidrig. Nachdem das Burka-Verbot in Frankreich durchgesetzt wurde, fragte sich Maria Wende konkret, ob die Verschleierung der Frau tatsächlich den Gipfel ihrer Diskriminierung darstellt.

„In Deutschland zum Beispiel tragen Polizisten und Polizistinnen dieselbe Uniform. Polizistinnen müssen jedoch immer noch stärker um Anerkennung kämpfen als ihre männlichen Kollegen. Die Mechanismen der Diskriminierung greifen auch dort, wo eine Gleichstellung von Männern und Frauen eigentlich gegeben sein sollte“, sagt sie.

Dörfliche Idylle feat. Urbanismus

Die Kleider hatte die Künstlerin bei einer Schneiderin maßanfertigen lassen. Da nicht alle Altona-Teilnehmer in Oerlinghausen mitwirken konnten, hatte Maria Wende überlegt, Vertreter zu suchen.

„Diese Idee stieß auf wenig Begeisterung“, erinnert sie sich, „Interessanterweise identifizieren sich die Träger mit ihrer Burka.“ Florian Münchow bestätigt: „Bevor jemand anderes meine Burka trägt, habe ich mir lieber eine Woche Urlaub genommen.“

Ihre Absicht ist es nicht, tatsächlich Burka tragende Frauen anzugreifen. Im Rahmen ihrer Performance interessierte die Künstlerin das direkte Miteinander. Maria Wende kehrte den üblichen Burka-Dresscode – das Tragen im öffentlichen Raum – um. Sie und Florian Münchow unterhielten sich vollverschleiert mit den Gastgebern meistens über die kommunikativen Barrieren oder Schwierigkeiten beim Essen (ja, Kaffee und Kuchen wurden achtsam unter der Burka verzehrt). Dabei vertiefte sich häufig der gesellschaftspolitische Diskurs um und über die Verschleierung von Muslima und kulturell geprägte Frauenbilder im Allgemeinen. Manche Gastgeber waren neugierig und schlüpften selbst in eine Burka.

Plakate in Oerlinghausen

Teil Zwei des Projektes fand im öffentlichen Raum Oerlinghausens statt. Momente der Situationen im privaten Raum wurden somit nach außen getragen. Nach der Sichtung des Fotomaterials wurde jeweils ein Motiv für ein Plakat pro Tag ausgewählt. Mit dem Titel IDEA.fabric, der auf jedem Plakat wie eine Seriennummer steht, verweist Maria Wende auf die mustergültigen Wohnraumkonzepte einer allseits bekannten Möbelhauskette.

In Anbetracht der sieben Plakate wirkt das immer wiederkehrende Motiv der bunten Burkas wie ein vereinheitlichendes Möbelstück, das den verschiedenen Innenräumen Fremde gibt und Isolation nimmt.

„Klingt lustig, lass ma‘ machen!“

Welcher Aufwand in einer Woche Kunstprojekt steckt, die allgemeine und spezielle Organisation, Umsetzung, einen Feiertag, einen Brückentag und den Aufbau der Ausstellung beinhaltet, wurde schnell spürbar. Bereits vor Projektantritt wurde Maria Wende klar, dass sie ihre für Oerlinghausen konzipierte Arbeit abändern muss. „Wenn ich eine Idee für ein Projekt habe, denk ich immer: Klingt lustig, lass ma‘ machen! In der Praxis sieht das dann meistens anders aus.“

Missverständnisse mit der Druckerei, an die sie sich bereits im Voraus für die Produktion ihrer A1-Plakate gewandt hatte, führten dazu, dass der zeitliche Plan – pro Tag ein Hausbesuch und die Produktion eines Plakatmotivs – radikal gestaucht und umstrukturiert werden musste. Es fanden letzten Endes fünf statt sechs Hausbesuche statt und es mussten räumliche Alternativen gesucht werden. So waren einige Gastgeber tief enttäuscht, dass das „Team Burka“ kurzfristig absagen musste. Trotz allem wurde wie geplant produziert und plakatiert.

Die anonymen Reaktionen auf die Plakate spiegelten den Umgang urbaner Objekte im Dorf wider: Viele wurden scheinbar ignoriert bzw. toleriert, einige wurden abgerissen und bekritzelt, eines wurde offensichtlich sorgsam abgenommen, bevor der Kleister überhaupt trocknen konnte. Facetten von Spießigkeit und Vandalismus wurden auf diese Weise sichtbar und betonten auch ortsspezifische Klischees.

Den Preis holte sich letzten Endes der (wundersame Zentaur) Daniel Chluba aus Berlin. Insgesamt reichte die einwöchige Erfahrung von bizarr bis scheintot. Mal sehen, wann und wo Maria Wende zunächst ihre Burkas aufschlagen wird.

Titelbild und Beitragsbilder: © Le Colmer/Maria Wende