Schlagwort: Kritik

Liebe, Drama, Wahnsinn – lite.

Yasmina Rezas „Bella Figura“ bietet pausenlose Trostlosigkeit in atemberaubender Langeweile. Hundertfünf Minuten lang. Was in „Gott des Gemetzels“ begeistert, fehlt hier: Spannung. Da hilft auch kein Thomas Ostermeier.


In ihrem Stück „Bella Figura“ bringt Yasmina Reza den faden Alltag in die Schaubühne. Dabei bekommt sie Unterstützung von: Thomas Ostermeier .

Mit der Erfindung des Autos entstand der Autounfall und mit dem Aufkommen der Ehe der Ehebruch. Soweit nichts Neues. Dass ein kleiner Autounfall dann dazu genutzt wird, den Ehebruch ans Licht kommen zu lassen, wirkt hingegen an den Haaren herbeigezogen.

Zu Beginn des Stückes blicken die Theaterbesucher٭innen auf einen Kleinwagen. In ihm sitzen Boris (Mark Waschke) und seine Affäre Andrea (Nina Hoss) auf dem Weg zu einem Restaurant. Als Boris erwähnt, dass seine Ehefrau ihm die Adresse einst für ein Geschäftsessen empfohlen hatte, kommt es zum Streit zwischen den beiden. In den nächsten Minuten erhalten die Zuschauer٭innen Einblick in das trostlose Leben eines fast bankrotten Kleinunternehmers und die Zerrissenheit einer tablettenabhängigen, alleinerziehenden Mutter. Eigentlich eine Spannung versprechende Ausgangssituation.

Doch als die beiden wieder ins Auto steigen und Boris wutentbrannt aufs Gas tritt, passiert es: Die Langeweile bricht aus. Das Ausparkmanöver auf dem Restaurantparkplatz und eine alte Dame, die von Boris angefahren wird, müssen dazu herhalten, der Geschichte drei weitere Protagonist٭innen hinzuzufügen.

Nach einer Schrecksekunde stellen sich alle einander vor. Die Angefahrene, aber unverletzte heißt Yvonne (Lore Stefanek), die in Begleitung ihres Sohnes Erik (Renato Schuck) und dessen Frau, Francoise (Stephanie Eidt) ihren Geburtstag feiert. Kaum erblicken sich Francoise und Boris, wird klar, dass sie die beste Freundin seiner Frau ist, die er ja nun gerade hintergeht. Wem dies noch nicht konstruiert genug erscheint, der bekommt nun noch eine Extraportion. Nach einem kurzen Wortgemenge entscheiden die fünf sich nämlich nun, gemeinsam in das Restaurant zu gehen, auf dessen Parkplatz sie sich grade kennengelernt haben.

Im Laufe der folgenden Szenen, die mal auf der Toilette (Toilette auf Bühne) des Restaurants und mal am gedeckten Tisch (Tisch auf Bühne) spielen, treten alle anwesenden Personen gedanklich auf der Stelle und machen einander reihum für die verworrene Situation verantwortlich. Boris lamentiert über seinen bevorstehenden Bankrott, Andrea über Boris, Francois darüber, ob sie ihrer besten Freundin erzählen muss, was sie grade erlebt, und Erik darüber, dass er es niemandem recht machen kann. Einzig der Mutter Yvonne ist es zu verdanken, dass die Szene nicht gänzlich den Charakter einer Vorabendserie bekommt. Fast in letzter Minute wird ihre Demenz dazu genutzt, um etwas Schwung in die schon tausendfach gehörten Gespräche zu bringen. Indem sie Andrea schonungslos vor den Schrecken des Alterns warnt und Francoise unverblümt ihre Abneigung offenbart, irritiert sie gelegentlich die öde Situation.

Alles in Allem erlebt das Publikum eine 105 Minuten lang dahinmäandernde Geschichte voll Tristesse. Die Figuren erleben keinerlei gedankliche Entwicklung und es wird auch keine Gewissensfrage herausgearbeitet, die das Publikum mit nach Hause nehmen könnte. Einzig Andrea bemerkt in der Schlussszene, dass sie ihr Leben lang auf der Stelle getreten hat.

Der wesentliche Unterschied zur Soap scheint darin zu bestehen, dass es keine Pause gibt. Es drängt sich die Frage auf, ob es einem nicht selbst ergehen wird, wie Andrea, wenn man sich nicht gedanklich fordern lässt.

Daran kann weder der engagierte Einsatz von Nina Hoss, Mark Waschke, Stephanie Eidt, Renato Schuch und Lore Stefanek, noch die Videoinstallation, die den Bühnenhintergrund bespielt, etwas ändern.

Titelbild: © Arno Declair

Hiobs Qualen im Deutschen Theater

Hiob und Publikum werden geprüft. Er in seiner Treue zum Glauben, die Anderen in ihrer Geduld. Anne Lenks Treue zu Thomas Roths Text verlangt Treue und Geduld.


Anne Lenk bringt Hiobs Qualen oder besser Thoms Roths Buch Hiob auf die Bühne. Der Text bietet viel. Neben der bekannten Geschichte Hiobs, der seinen Glauben trotz zahlreicher Schicksalsschläge oder Gottesprüfungen nicht verliert, geht es um Immigration, Sinnsuche und eigenverantwortliches Handeln.

Mendel Singer (Bernd Moss) ist ein frommer Privatlehrer in einem kleinen russischen Städtchen. Er bringt Kindern das alte Testament nahe, wie bereits sein Vater und sein Großvater vor ihm. Zusammen mit seiner Frau Deborah (Almut Zilcher) und drei Kindern lebt er in schlichten Verhältnissen. Doch dann ereilt ihn das erste Unglück. Die Geburt seines jüngsten Sohnes: Menuchim (Alexander Khuon) hat eine starke, offenbar geistige sowie körperliche, Behinderung. Und auch wenn ihn die Eltern zu lieben scheinen, empfinden sie ihn als Qual. Auch die Geschwister leiden zunehmend darunter, dass Menuchims Existenz das gesamte Familienleben überschattet.

Erst als Mutter Deborah vom Rabbi erfährt, dass ihr Sohn eines Tags „geheilt“ werden wird, schöpft sie neue Kraft, ihr Schicksal zu tragen. Vater Singer verzweifelt unter dessen an seinen älteren drei Kindern. Tochter Mirjam (Lisa Hrdina) treibt sich mit fremden Männern herum, der ältere Sohn, Jonas (Edgar Eckert) geht zur Armee und der jüngere, Schemarjah (Camill Jammal) in die USA. Das eine gefällt dem Vater nicht, da er um die Frömmigkeit seiner Kinder bangt, das Andere, da die USA ein fernes, fremdes Land sind. Doch von zunehmender Armut gezwungen, folgt Singer Schemarjah in die USA. Zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter bricht der alte Mann auf. Sohn Jonas bleibt bei der Armee, Menuchim wird für reiseuntauglich erklärt und zu Bekannten gebracht.

In New York angekommen verliert Singer zunächst alles, was ihm noch geblieben ist. Sein Sohn Schemarjah muss in den Krieg und fällt, seine Frau stirbt verbittert und seine Tochter verschwindet hinter den Toren einer psychiatrischen Anstalt. Und als er dann auch noch seinen Glauben zu verlieren droht, taucht sein zurückgelassener Sohn Menuchim aus der Heimat auf. Er ist vollständig von seiner Behinderung „erlöst“ beweist dem Vater damit, dass sich die Frömmigkeit bezahlt gemacht habe.

Quelle: YouTube

Der anfängliche Elan der Aufführung weicht leider noch vor Singers Emigration in die vereinigten Staaten einer eher zähen Mischung aus Schauspiel und Erzähltheater. Wurde zu Beginn des Stückes ein Streit zwischen den Geschwistern noch als Wasserschlacht, die in einer Schlägerei mit PET-Flaschen mündet, dargestellt, nimmt diese Kreativität im Verlauf des Stückes stetig ab. Nach zwei Dritteln scheint sich ein festes System der Darstellung etabliert zu haben. Einer der Schauspielerinnen trägt den Text zu dem vor, was das Publikum grade sieht und der oder die anderen spielen, was grade vorgetragen wird. Die konsequente Verwendung dieses Mittels führt zu einer unüberwindbaren Distanz zwischen Protagonistinnen und Zuschauerinnen.

Nur durch die Kraft seiner Verzweiflung gelingt es Singer am Ende des Stückes, diesen Graben ein einziges Mal zu überbrücken. Als er seinen Glauben und sein Leben völlig infrage stellt, werden Wut, Verzweiflung und Lebensüberdruss spürbar. Zuvor schien ein unsichtbarer, alles dämpfender Vorhang zwischen Bühne und Publikum zu hängen. Ein solches fast unsichtbares Element gibt es tatsächlich. Es ist eine semipermeable Fläche. Sie befindet sich allerdings hinter den Darsteller*innen und hat drei Funktionen und einen Effekt. Wird sie direkt beleuchtet, dient sie als schwarzer Hintergrund, vom Projektor angestrahlt als Projektionsfläche und von hinten beleuchtet gibt sie den Blick auf den zweiten Teil der Bühne frei. Hier finden all die Szenen statt, die Träume, Wünsche und Hoffnungen der Figuren betreffen. Der Effekt dieser halbdurchlässigen Wand ist, das oft plakative Spiel vor ihr zu verfremden und für die sehnlich erwartete Irritation zu sorgen.

Doch es bleibt der Eindruck, dass die Energie der Schauspieler*innen nicht ausreicht, sich Roths Text entgegen zu stellen. Lenks Gehorsam gegenüber Roth findet seinen Höhepunkt darin, dass auch im Theater des 21. Jahrhunderts in Berlin ein Kind mit einer Behinderung völlig unhinterfragt als „Strafe Gottes“ dargestellt wird. Eine kritische Reflexion des Textes hätte sich dieser Frage annehmen können. Auch die Chance, den Aspekt der Auswanderung auf die derzeitige weltpolitische Situation zu übertragen, blieb leider ungenutzt.

Schauspieler*innen:

Bernd Moss (Mendel Singer), Almut Zilcher (Deborah, seine Frau), Edgar Eckert
(Jonas, sein Sohn), Camill Jammal (Schemarjah, sein Sohn), Lisa Hrdina (Mirjam, seine Tochter), Alexander Khuon (Menuchim, sein Sohn)

Regie: Anne Lenk, Bühne: Halina Kratochwil, Kostüme: Silja Landsberg, Musik: Leo Schmidthals, Video: Clemens Walter, Dramaturgie: Sonja Anders

Titelbild: © Arno Declair

In your face. ANOHNI und die Hoffnungslosigkeit

Pop und Weltschmerz – wie geht das zusammen? Hopelessness heißt das Solo-Debüt der Künstlerin Anohni (zuvor bekannt als Antony von Antony and the Johnsons), die ihren Unmut in elf Tracks kundtut. Es ist ein an der sich zuspitzenden weltpolitischen Lage und der globalen ökologischen Situation gewachsener Unmut. Anohni setzt dabei bewusst auf Unmissverständlichkeit: Der Eingangstrack heißt Drone Bomb Me und das Herzstück des Albums Obama.


Im letzten Jahr erschien Björks kathartisches Vulnicura (2015), das sich geschlossen den schweren Thematiken Liebe und Trennung widmete, ohne sich dabei als ein affektierter Soundtümpel zu entlarven, in dem sich das emotionale Wesen Björk selbstmitleidig wälzt. Die Kompositionen haben den ausgedrückten, individuellen Schmerz der Künstlerin auf eine objektivere Ebene gehoben, welche die nötige Distanz zwischen Interpretin und Zuhörer geschaffen hat. Hopelessness funktioniert da ähnlich. Bei aller von Anohni ungehemmt geäußerten Betroffenheit schafft sie es zum Großteil, das klebrige Kitschnäpfchen zu umgehen, indem sie zum einen mit warmer Leidenschaft zornige Zeilen singt und zum anderen auf populären Dance-Sound à la Hudson Mohawk und Oneohtrix Point Never setzt.

Dass Björk Anohni ein paar Mal zum Duett eingeladen hat, merkt man irgendwie. Der erste Track Drone Bomb Me erinnert entfernt an Hyper-ballad, wobei Anohnis Akteurin nicht auf dem Berg steht, um Sachen herunterzuwerfen, sondern um von einer Drohne abgeschossen zu werden. Es könnte eine Ode an die unerreichbare Liebe sein, wenn nicht dieses Drone vor dem Bomb wäre. Das Musikvideo dazu ist Promi-technisch sowie emotional stark aufgeladen und findet in einem düsteren Ambiente statt.



In 4 Degrees prallen Pauken und Fanfaren auf Anohnis sanften, doch kräftigen Gesang und erinnern zum Teil an Woodkid; jedoch hat der Song nichts von dem Pathos, den Iron oder Run Boy Run transportieren. Anohni beschwört apokalyptische Szenarien einer an der Erderwärmung zugrunde gehenden Flora und Fauna herauf, die zum Teil bereits eingesetzt haben. Die kritische Sängerin kann noch konkreter: Wie Black Lake das schwarze Herz von Vulnicura ist, so ist Obama das von Hopelessness. Die enttäuschte Liebe ist politisch, aber deshalb nicht weniger schmerzlich zu verdauen.

Nichts scheint sie auszulassen: Lässt man beim Song Crisis die ersten beiden Buchstaben weg, hat man den Adressaten des Stücks gefunden. Die Sängerin gerät zum Schluss des Liedes in eine barmherzige „I’m sorry“-Spirale, was ihm eine leicht sülzige Note verleiht. Spätestens hier merkt man, dass der Spagat zwischen inhaltlichem Anspruch und akustischer Ästhetik gar nicht so einfach ist. Anohni beschreibt auf Deutschlandradio Kultur ihr Solo-Debüt treffend als „trojanisches Pferd“.

Im Fadenkreuz stehen vornehmlich die profitorientierten Machenschaften der USA. Offensichtlich in Execution („It’s an American dream“) oder Marrow („We are all Americans now“), unterschwelliger in der zärtlichen NSA-Hymne Watch Me („Daddy, Daddy (…) I know you love me / ‘Cause you’re always watching me“). Das fragmentarische, feministische Mantra Violent Men reiht sich in die Abrechnung mit sämtlichen Mechanismen und Akteuren der Unterdrückung ein.



Dieses Album ist ein nicht leicht zu schluckender Brocken. Eine bessere Aussicht, geschweige denn ein Happy End bleibt dem Hörer verwehrt. Hopelessness ist ein konsequentes Werk. Die erste Hälfte des gleichnamigen Songs wirkt wie eine wässerige Version von Family Violence aus Arcas Erstling Xen (2014), das wohl zu einem der genialsten Electronic-Alben des Jahrzehnts gezählt werden darf. Überraschend dringt der klagende Gesang Anohnis in Gospelgefilde vor und wiederholt stetig „How did I became a virus?“, als wolle sie eine Antwort herbeibeschwören.

Keine Illusionen, keine Antworten. Das unermüdliche Ausbreiten und Aufgreifen der immer selben Themen Erdzerstörung, Unterdrückung und eben Hoffnungslosigkeit unterstreicht, wie ernst es der Künstlerin damit ist. Auf ihrer Homepage sind die Songtexte sogar in 15 Sprachen zu lesen. Hopelessness verkörpert eine dystopische Realität. An manchen Stellen wirkt die von Anohni animistisch gemalte Natur zu dick aufgetragen und die gewollte Direktheit etwas unbeholfen. Nichtsdestotrotz ist das Album hörenswert, da es auf eigensinnige Weise Kritik an unserem Zeitgeist übt.

Titelbild: © Inez van Lamsweerde & Vinoodh Matadin

#Trümmer #Interzone #Google #Diskurspop

Was passiert eigentlich mit dem guten alten Diskurspop, wenn ein Teil des Pop-Diskurses gar nicht mehr für Menschen schreibt, sondern für Algorithmen? Das neue Trümmer-Album Interzone für seinen Teil klingt, als würde der Online-Journalismus wieder von der Musik aus zurückschwappen, die er beschreibt, und rechnet auf subtile Weise brutal mit seinen Kritiker٭innen ab.


Als Trümmer die Interzone betraten, kam das bisher spannendste deutschsprachige Indie-Album dieses Jahres dabei heraus. Es ist weder subversiv noch eskapistisch, geht aber mit Bestimmtheit in eine Richtung, die Trümmer schon vor ein paar Jahren eingeschlagen haben. Wie auf ihrem selftitled-Debüt Trümmer setzen sie dabei vor allem auf eines: intuitive Texte. Teilweise so intuitiv, dass es weh tut. Musikalisch hingegen lösen sie, mittlerweile zu viert, das Versprechen ihrer ersten Platte ein und klingen gereift und besonnener. So zusammengewürfelt, wie ihre Bandmitglieder wirken, ist auch ihre gemeinsame Musik schwer zu fassen, da sie in einigen Teilen sehr originär ist, in anderen doch auch jede Menge abruft. Vielleicht lässt sich zunächst über das Erbe, das Trümmer antreten, ein Zugang zur Platte gewinnen.

Die diskursive Hamburg-Tradition

Bisweilen wird die Band ja der Hamburger Schule zugeordnet, was sie selbst schon aufgrund des Generationsunterschieds zurückweisen. Denn Hamburger Schule, das waren doch ein paar Bands der 90er und 2000er, eine offene Gemeinschaft von Sängern, denen das Geschichtenerzählen und Kodieren von Inhalten wichtiger ist als ihr Gesangsstil, umgeben von ein paar Musikern, die gern britische Bands aus den 80ern hören, ihre Einflüsse musikalisch nachvollziehen wollen und dabei in neue Kontexte transportieren. Oftmals kommt dabei Musik heraus, die sich selbst verortet, sei es musikalisch durch übertragene Motive und Sounds, oder textlich, wenn sich Motive zu Slogans bündeln, die eine bestimmte Szene ansprechen sollen und die Musik so selbst zum Teil der Szene werden lässt. Viele der Bands liefern die kulturelle Einordnung ihrer Musik gleich in derselben mit, was die diskursiven Tendenzen des Genres ausmacht und sie oftmals bei Kritiker٭innen aufgrund der offenen Kommunikation gut wegkommen lässt.

Dass Hamburger Schule und Diskurspop überhaupt noch Maßstäbe sind, nach denen eine junge Band wie Trümmer bewertet wird, haben sie sich großteils selbst zuzuschreiben, nicht nur, weil sie in Hamburg wohnen. Bereits der Titel ihrer Platte Interzone ist diskursiv und wurde von der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung von William S. Burroughs übernommen, der ja bereits zu Lebzeiten eine Ikone der Popkultur war. Auch ihr Sound, der sich immer wieder zu einem melancholischen Gitarrenpop-Tanz öffnet, kommt sicher auch nicht vor 80er-Bands wie Joy Division und Sonic Youth zurück. Aber Trümmer nehmen die Richtung, aus der sie kommen, auch mit auf völlig neue Wege. Es ist fraglich, ob Joy Division sich mit ihrem Erbe anfreunden könnten, unfraglich ist jedoch, dass sie auf Interzone einmal mehr in einen neuen Zeitgeist geworfen werden. Denn entgegen der Hamburger Tradition setzen Trümmer keineswegs auf kryptische Ausdrücke oder Slogans. Sie begegnen den immer gleichen Themen der Popkultur auf andere Weise und markieren dabei eine Veränderung der Sprache, die so seltsam vertraut ist, obwohl sie dem Deutsch-Indie bisher weitgehend fremd war.

Zertrümmerte Texte?

Die reflexive Verortung geschieht bei Trümmer assoziativer. Sie saugen bestimmte Themengebiete auf, formen sie jedoch nicht zu Slogans, sondern übernehmen eher die damit verbundenen Wortfelder und formen sie zu Stimmungsbildern. Dabei entstehen teilweise schrille Collagen, in denen es kein Narrativ ist, das unterschiedliche Ausdrücke miteinander verbindet, sondern manchmal vielleicht einfach bloß ihr Klang. Ein Beispiel ist Nitroglyzerin:

Mein Herz pocht schneller, schneller
Wir sind somewhere in between
Die Sterne leuchten heller, heller,
Wir sind Nitroglyzerin

Unsere Augen sind wie schwarze Teller
Die Welt ist schnell, doch wir sind viel viel schneller
Alles ist so verdammt komplex,
Komm wir machen lieber Love

Trümmer – Nitroglyzerin

Quelle: YouTube

Trümmer fassen in ihren Texten einen gewissen Mut zur Direktheit, der es schafft, diverse Themen abzudecken, ohne sie wirklich jemals anzusprechen. Sie richten die Aufmerksamkeit weg von den Gesamtkontexten hin zu einzelnen Phrasen und Wörtern. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind solche veralteten Spielereien wie strukturierte Versmaße, abwechslungsreiche Reimschemen und 98 Prozent des Rhetorische-Mittel-Repertoires. Ihre Texte bilden teilweise eher ein fast panisches Gehangel zwischen Wörtern, die sie interessant finden. Die resultierenden Melodien sind flüchtige Erscheinungen. Bereits auf ihrem Debütalbum hat das brutale Ausmaße angenommen:

Ich singe ein Lied und es handelt von uns
Eine Melodie, die niemals verstummt
Wir verlassen den Alltag und das falsche Spektakel
Denn wir sind viel schöner als das ganze Debakel

Die Türen und Fenster öffnen sich
Und die Morgensonne fällt auf dein Gesicht
Wir verlangen vom Leben, dass es uns gehört
Und wir fangen einfach auf, was in der Luft rumschwirrt.

Trümmer – Morgensonne

Interessante Wortfelder werden hier leer aneinandergereiht und finden assoziativ zueinander (Alltag-Falschheit // Spektakel-Schönheit // Ganzheit-Debakel // Leben-Einfachheit), womit der Text sehr wohl Gefühle transportieren oder Bilder auslösen kann. Aber die Schlagwörter wie “Spektakel” und “Debakel” scheinen doch eher ihres ähnlichen Klanges als ihrer Bedeutung wegen ihren Weg in den Text gefunden zu haben. Und als Freund der nunmehr alt wirkenden Hamburger Schule hat man wirklich eine schlechte Zeit auf den Konzerten. “Er hat Spektakel ins Mikro gebrüllt. Jetzt nuschelt er etwas. Bitte jetzt nicht Debakel brüllen. Nicht Debakel. O, Debakel, natürlich. Sich – Gesicht. Cool.“

Gleich der Eröffnungstrack von Interzone setzt diese Form des Songwritings fort:

Wir sind die Kinder, vor denen uns die Eltern warnten
Wir explodieren in den allerschönsten Farben
Wir sind die Kinder, vor denen uns die Eltern warnten
Und wir eskalieren in den allerschönsten Phasen

Trümmer – Wir explodieren

Der Text ist nicht nur assoziativ oder intuitiv, sondern naiv, aber auch mutig: Denn aus Liebe zur Schönheit des Wortes wird die Hässlichkeit des Textes in Kauf genommen. Nicht, dass Bands wie Element of Crime oder Tomte für saubere Reime stehen. Aber woran es bei Trümmer fehlt, ist die Ironie. Da steht kein alter weiser Mann mit nordischem Akzent und einer Trompete unter dem Arm auf der Bühne, von dem schon drei Romane erschienen sind – einer, bei dem man, wenn er etwas nicht kann, denkt, er will es bloß nicht. Sondern ein enthusiastischer Marty McFly-Verschnitt, der mit seinem selbstbewussten Auftritt vielmehr eine Art Welpenschutz geltend zu machen scheint. Trümmers Frontmann Paul Pötsch erreicht seine Präsenz nicht durch Charisma, sondern durch Enthusiasmus. Seine Entschlossenheit, die er mit seinen drei Mitmusikern teilt, baut den Texten einen so stringenten Rahmen, dass man sich fragen könnte, ob die Band hier wirklich schlicht so kühn ist, schlechte Songtexte als bewusstes Stilmittel einzusetzen. Sie könnten doch vielleicht besser auf Englisch singen, wenn sie nichts zu sagen haben, möchte man ihnen raten. Aber so simpel ist es auch wieder nicht.

Sie haben nicht nichts zu sagen, sondern suchen bloß in einem weitgehend ins Abstrakte entglittenen Genre nach neuen Ausdrucksformen, und die finden sich dort, wo Popkultur momentan vor allem stattfindet: in Sozialen Medien. Damit schaffen sie es, gerade noch von alten Freund٭innen der Hamburger Schule verstanden zu werden, aber lassen diese sich auch ziemlich alt und konservativ fühlen, da denen der Zugang zu einem Verständnis fehlt, warum man diese Sprache in Songtexten benutzen sollte. Aber sie schaffen vor allem auch einem neuen Publikum Zugang. Und ein Gutes hat dieses schlagwortbasiertes Schreiben ja ganz augenscheinlich. Es vereinfacht die Öffentlichkeitsarbeit. Da reicht dann ein Facebook-Post mit dem Inhalt „euphorie + pisse = amore“ und jede٭r weiß Bescheid, was passiert – zumindest alle, Bescheid wissen sollen.

Quelle: Facebook

Sie verorten sich damit nicht bloß nur in einer fast schon nostalgisch wirkenden Kultur von Freund٭innen melancholischen Indie-Rocks, sondern auf der Höhe der Social-Media-Kultur, die momentan den gesellschaftlichen wie medialen popkulturellen Alltag bestimmt. Apropros Öffentlichkeitsarbeit: Ziemlich aufschlussreich an der neuen Platte ja auch der Meta-Track Grüße aus der Interzone, in dem sich die Problematik des guten Lebens auftut, das weder darin zu liegen scheint, endlich den verpassten Anschluss an die Leistungsgesellschaft zu finden („Das Leben ist ein Spiel // Ich hab leider verloren“), noch darin liegen kann, endgültig abzurutschen („Ich hab leider keine Zeit // Verzweifelt zu sein“). Gesucht wird eine neue Sphäre zwischen beiden Extremen, ein Raum zwischen anbiedern und aufgeben. Wer könnte diese Problematik glaubhafter vortragen als eine junge Band, die momentan ja einiges auf die Kunst setzt? Gefunden wird dieser Zufluchtsort in: einer Kneipe.

Was im Song nach einer unbestimmten transzendentalen Ausflucht klingt („Ich schick dir Grüße aus der Interzone“), wird mit etwas Kontextwissen ziemlich konkret und profan. Denn Trümmer haben im Zuge ihres Album-Releases tatsächlich eine Kneipe eröffnet – die Interzone-Bar, die das Hamburger Nachtleben in den letzten Tagen direkt mal um eine Konzertreihe bereichert hat. Wird nun in der Kneipe das Album oder im Album die Kneipe promotet? Auch wenn es ohne Frage ein guter Song ist, scheinen die mit ihm verfolgten Interessen außerhalb der Musik zu liegen. Ihr eigenes Konzert am Release-Tag der Platte war sogar live bei Facebook verfolgbar. Interzone in der Interzone. Das vieldimensionale simultane Kunstwerk im Jahr 2016.

Quelle: Youtube

Das Spiel mit den Erzählebenen setzt sich auf dem Album auch an anderen Stellen fort. Europa Mega Monster Rave etwa klingt erstmal nach Tokio Hotel. Nicht nur der Titel. Infantil, inhaltlich überwunden geglaubt, aber seltsam entschlossen. Der Song bedient in seinen Strophen ein paar subversive Wortfelder, drückt aber, sobald er auf den Refrain abbiegt nicht viel aus außer, dass man zu ihm sicher gut pogen kann. Aber er ist von äußeren Bedingungen eingeklammert, ist er doch der Rock-Oper Vincent entnommen, die Trümmer letztes Jahr für ein Engagement im Berliner Haus der Kulturen der Welt komponiert hatten. Dadurch wird es zum Stück im Stück und drückt vielleicht etwas für die Dramatik des Stücks Relevantes aus, das im Transfer verloren ging. Prallt also sämtliche Kritik an ihm ab? Müsste ich erst Vincent kennen, um das Europa Mega Monster Rave bewerten zu können? Aber wenn sie es nun auf der Platte präsentieren, stellen sie es doch selbst außerhalb des Erzählkontextes.

Heißt das, ich darf es auch für sich alleinstehend kritisieren? Aber müsste ich das nicht ohnehin selbst entscheiden dürfen? Und ist ein Tokio-Hotel-Vergleich eigentlich eine Beleidigung? Das ist doch schlagwortbasiertes Songwriting at it’s best. Und vielleicht macht der Song Trümmer ja international erfolgreich. Im Plattenkontext wirkt er dennoch eher störend und gibt zumindest einem seiner Hörer das Gefühl, nicht für ihn geschrieben worden zu sein. Dass die Texte an anderen Stellen eher eindimensional erscheinen, tut diesem Höreindruck keinen Abbruch, denn manche expliziten Verortungen fallen doch eher plump aus:

Lass uns unsterblich werden, bevor wir sterben,
Wie Rio Reiser von den Scherben

Trümmer – Nitroglyzerin

Die gesamten Texte der Platte erinnern an suchmaschinenoptimierte Texte, bei denen virales Potenzial wichtiger als Lesbarkeit ist, die aber eben auch nicht ganz an einer potenziellen menschlichen Leserschaft vorbeigeschrieben sein sollten. Wenn Trümmer sich textlich auf die Sprache der Onlinemedien einlassen, stellt sich die Frage, wie es denn um das Sprachniveau in Onlinemedien steht? Dass dieser Artikel digital veröffentlicht wird, erlaubt eine Introspektion.

Der SEO-Turn

Nach dem prägnanten Teaser, der alles andeutet und nichts aussagt und vielleicht für den Klick auf diesen Artikel verantwortlich ist, tauchte im ersten Textabsatz dieses Textes viermal das Wort Trümmer auf, weil dem Verfasser selbiges von einem SEO-Tool empfohlen wurde, das mit eigenen Algorithmen die Algorithmen von Suchmaschinen berechnet. Damit Google weiß, dass es in diesem Artikel um die Band Trümmer geht und dieser Text in all seiner Seltsamkeit möglichst weit oben erscheint, wenn jemand was über Trümmer und Interzone lesen will. Außerdem tauchen die Begriffe „subversiv“ und „eskapistisch“ auf, die gemeinsam die Skala bilden, auf der momentan fast alle Bands bewertet werden, die jedoch im Falle Trümmers im Grunde keine Rolle spielen. Aber sollte jemand einen der Begriffe zusammen mit Trümmer googeln, ist dieser Artikel hoffentlich am Start. Leser٭in und Verfasser werden also schon rein sprachlich durch zwei Algorithmenmaschinen voneinander getrennt. Vielleicht ist diese Textstelle ja sogar noch weit genug oben, um eine Schlagwortblase mit beliebten falschen Schreibweisen des Bandnamen zu präsentieren, damit auch hastig tippenden Leser٭innen diese Seite nicht verwehrt bleibt.

Trümer, Truemmer, Trmümer, Türmmer, Trümme, Rtümmer.

Und “Trümmre” (persönlicher Favorit) nicht zu vergessen. Wobei solche Schlagwortblasen bei Leser٭innen schon wieder als relativ störend empfunden werden und man sie sich ja nicht dauerhaft vergraulen will. Ständige Wiederholungen von Schlüsselworten sind da subtiler. Die Einleitung las sich doch fast, als wäre sie für Menschen geschrieben. Je weiter nach unten dieser Text nun fortschreitet, desto egaler werden die Algorithmen. So richtig wichtig sind sie ohnehin nicht, da sich dieser Artikel sich auf einer nach wie vor non-kommerziellen Freizeitseite befindet.

Wichtig für das Ranking sind auch Schlagworte in Zwischenüberschriften. Trümmer. Interzone. Scheiße.

Romantisch fällt der Blick zurück auf die Zeit, als Artikel noch von Menschen für Menschen geschrieben wurden, falls es diese idealisierte Kommunikationsform jemals gab. Herrscht hier nun ein Sprachverfall vor? Die Sprache hat an Direktheit und Unabhängigkeit eingebüßt. Wer beides beim Schreiben für Ideale hält, macht sich in digitalen Zeiten auch schnell unabhängig vom Publikum, das buchstäblich keinen Zugang mehr findet. Herrscht denn umgekehrt ein Fortschritt vor? Es scheint doch eine Errungenschaft der Sprache zu sein, aus sich selbst heraus die Reichweite der vermittelten Information festzulegen. Schade ist bloß, dass sie dazu auf einen kommerziellen und undurchsichtigen Apparat zurückgreifen muss, der selbst außerhalb der Sprache steht.

Zusätzliche Mittlungsapparate mit eigenen sprachlichen Gesetzen bilden die Sozialen Netzwerke. Facebook etwa ist selbst für Slogans zu schnell geworden, sondern machte erst den pictorial-, dann den Emoji-Turn mit, um immer multimedialere Ausdrucksformen anbieten und bedienen zu können. Eine Herausforderung des Online-Journalismus ist es ohne Frage, immer aktuell zu sein, und oftmals schon zum finanziellen Selbsterhalt auf die aktuellen Schlagwörter und Hashtags zu ranken, also auf die sich massiv verbreitenden Sprachwandel des Internets zu reagieren, ohne die Stammleserschaft zu vergraulen, was oftmals zu sarkastischen Facebookposts führt, die offen für verschiedene Lesarten sind. Denn im Facebook eine Rolle spielen zu wollen, bedeutet schon, selbst bei der Popkultur mitmachen zu müssen. Durch ein ironisierendes Aufgreifen von Jugendbegriffen in Posts oder Artikeln werden diese nur umso mehr verbreitet. Dieses Dilemma der Popkulturkritiker٭innen hauen ihnen Trümmer, auf die schon aus Zwecken der Suchmaschinenfreundlichkeit mal wieder zurückgekommen werden sollte, nun um die Ohren, wenn sie so etwas singen wie:

Wir sind Dandys im Nebel
Keiner weiß, was wir tun
Wir sind Dandys im Nebel
Wir haben den Swag im Blut

Trümmer – Dandys im Nebel

Wie die einen sich verpflichten, die selbstverständliche Verwendung bestimmter nicht-ignorierbarer Phrasen durch Ironisierung zumindest ein Stückweit kritisch betrachten zu können, während sie selbst in der Popkultur gefangen sind, verpflichten Trümmer sich, es wieder ernst zu meinen. Dandys im Nebel ist ein melancholischer Song. Denn sie sind eben der nicht-ironische Teil der Popkultur, über die die anderen schreiben. Und Diskurspop verortet sich nunmal selbst.

Aus der immer stärkeren Vereinsamung der٭des Lesenden zwischen den Maschinen des Internets wird bei Trümmer eine Einsamkeit der٭des Hörerenden im offenen Verbund unzusammengehöriger Phrasen. Es ist nicht nur die vierte Wand der Rock-Oper, die einen Zugang zum Europa Mega Monster Rave erschwert. Die Wand liegt eher in der vermittelnden Distanz einer in sich selbst bereits digitalisierten Kommunikation und in der Herausforderung, zum Erschließen der Texte mit der Geschwindigkeit von Social-Media-Trends mithalten können zu müssen und zu wollen, was Trümmer selbst nur auf Kosten sinnvoller Textstrukturen gelingt. Die alte Herausforderung des Diskurspops, sich über die Musik hinaus umfassend mit der Popkultur beschäftigen zu müssen, um mitzuhalten, erreicht hier eine neue Dimension.

Vom Wesen eines Popsongs

Nun könnte man Trümmer womöglich vorwerfen, mit der Art, wie sie Texte schreiben, ein wesentliches Element ihres Genre zu zerstören, nämlich die Errungenschaften der poetischen Tradition. Aber liegt darin wirklich ihr Wesen? Die Bands der Hamburger Schule haben den Eindruck erweckt, es ginge nur um Texte bei dem Ganzen. Und ihre Texte waren so einnehmend, dass bisweilen kaum noch auffiel, was um sie herum passiert. Dass Kettcar musikalisch dem Mainstreampop gar nicht so fern sind wie ihre Texte vermuten lassen. Dass Tomte fast immer dieselben Sounds benutzen und ihre Songs nachlässig arrangiert und produziert sind. Dass Tocotronic sich überhaupt erst auf ihre alten Tage Gedanken über ihren Sound gemacht zu haben scheinen und man auf frühen Konzerten Glück haben musste, um ihre Texte überhaupt zu verstehen.

Denn so provokant sie sind, sind Trümmers Texte doch nicht so einnehmend, dass sie darüber hinwegtäuschen könnten, dass bei Interzone ebenfalls eine musikalisch anspruchsvolle und sorgfältig aufgenommene Platte herausgekommen ist. Zwei rifffreudige Gitarristen, ein versierter Schlagzeuger, ein Bassist mit Sinn für Melodien schaffen einen dezenten, funkigen Post-Pop bis Post-Punk, der zu jedem Zeitpunkt hinter den zwar aufwühlenden, aber doch nicht allzu prägnanten Texten voluminös durchdringt. Es stellt sich die Frage, ob sie damit nicht wieder bei einer ursprünglicheren Version ihres Genres ankommen. Ihre Texte sind da allenfalls ein untermalendes Element, das teilweise alles gefährdet und zu Kitsch auflöst, aber dieselben Texte sind es eben auch, welche Trümmers an und für sich zeitlosen Sound mitten in den Zeitgeist schleudert und aus Interzone ein mehr als aktuelles, vielleicht wegweisendes Indie-Album macht. Wenn es im Jahr 2016 noch aktuellen deutschsprachigen Diskurspop gibt, dann machen Trümmer ihn.

Titelbild: © Alexandra Kinga Fekete

Was kostet’s dich, Mensch? – Reiz der Fotografie

Die Frage nach unserer Verortung und Vernetzung in der globalisierten Welt ist allgegenwärtig. Die 56. Biennale in Venedig hatte sich bereits diesem Themenkomplex zugewandt. Damit am Puls der Zeit zu sein, dachte sich auch gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie 2015/16, ein nun zwölf Jahre altes Projekt für zeitgenössische Fotografie. Aktuell ist die durch Deutschland und Europa reisende Ausstellung unter dem Motto Quo vadis, Welt? – Reflexion und Utopie in den Hamburger Deichtorhallen im Haus der Photographie zu sehen.


Wer sich mit Kunst beschäftigt, übt sich automatisch in Kompromissbereitschaft und Toleranz. Das, was ich wahrnehme, muss mir nicht gefallen, muss sich nicht mit meinen Interessen oder Ansichten decken. Ich kann es scheiße oder belanglos oder beides finden – über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Solange der Künstler für seine Arbeit eine adäquate Form gefunden hat, die mir seine Sichtweise ermöglichen kann, ohne meine Phantasie dabei einzuschränken, hat er oder sie alles richtig gemacht. Zumindest bleibt es auf diese Art spannend, denn ich kann meine Perspektive wechseln, ohne meine eigene wirklich zu verlassen. Bei aller Lobpreisung der Toleranz durch Kunst: the magic moment lautet Zeitgeist. Wer ihn trifft, hat einfach nur Schwein. Van Gogh ist nur einer von vielen, den man darum bedauert, dass seine Kunst erst nach seinem Tod erfolgreich wurde. Ob er darüber glücklich wäre, heute in jeder zweiten Arztpraxis und in jedem dritten Café zu hängen, wird sich wohl nie klären. Dafür können wir hinterfragen, warum zum Beispiel Jeff Koons vor allem bei den Oligarchen so gut ankommt. Manchmal sind Hype und Zeitgeist nicht zu trennen.

Kommen wir zurück zu den guten Aussichten, die uns das gleichnamige Projekt verspricht. Klingt ein bisschen naiv, wenn man den Titel nicht auf die Gewinner des Wettbewerbs, sondern auf das diesmalige Motto bezieht; diese heitere Betonung wäre andererseits ein Stoß in die Rippen der kritischen Gesellschaftsbeobachter, deren Sorgenfalten auf der Stirn allmählich lächerlich zu wirken scheinen. Ja, die Welt verändert sich, aber das hat sie immer schon getan. Heute haben wir die Möglichkeiten, jederzeit überall zuzusehen und da bleibt ein gepflegter Brainfuck auf Dauer nicht aus.

Die Relevanz des Handwerks

Die Fotografie als künstlerisches Medium hat im Laufe ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte viel erlebt. Magie ging immer schon von ihr aus. Ob frühe Kunstfotografie, wie Man Ray sie betrieb, sinnliche, provokative Modefotografie à la Helmut Newton oder Fotografie als Cindy Shermans Spiel mit Inszenierung und Identität. Wozu noch malen? Die US-amerikanischen Fotorealisten eigneten sich in den 1960er/70er Jahren die Exaktheit der abgebildeten Realität mit Pinsel und Farbe an. Martin Kippenberger war einer, der in den 1980ern dann auf die derzeit wieder verpönte Malerei schiss, indem er erst recht malte. Und zwar scheiße (im Sinne von nicht altmeisterlich). Absichtlich. „Seine Bilder vom mickrigen Alltag duldeten keine malerische Idylle. ‚Schlechte Themen‘, sagt er, ,erfordern gute Malweise.‘“, schrieb Jörg-Uwe Albig in der art 7/86.

Gut, aber was ist mit der Fotografie? Welche künstlerische Relevanz hat sie in Zeiten von Pop-Journalismus, durchdesignten Lifestyle-Magazinen und tumblr? Will uns gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie etwas zeigen, was nur die Fotografie kann oder geht es rein um das, was reflektierte, weltgewandte Fotografen heute beschäftigt?

Sieht aus wie abstrakter Print, ist aber Fotografie: Digits of Light zeigt variierende schwarzweiße und bunte geometrische Muster auf kleinen ungerahmten und großen gerahmten Formaten, die Kolja Linowitzki mithilfe des Smartphones ganz klassisch analog in der Dunkelkammer erzeugt hat. Alte und neue Technik verschränken sich auf reduzierte, irgendwie poetische Weise.

Gelungen, denke ich mir, bis ich einen kleinen Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand entdecke, der ein zweiminütiges Video präsentiert, in dem ich Linowitzkis Arbeitsprozess in Zeitraffer aus der Vogel-klebt-in-der-Ecke-Perspektive bewundern oder viel eher nachvollziehen kann.

Überflüssig, denke ich mir, denn das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Dokumentation seiner Arbeitsweise. Wertet das die Arbeiten auf oder ab? Genügt es nicht, dass der Betrachter die Information der Herangehensweise nachlesen kann, falls es ihn interessiert?

In diese Dokumentations-Falle können Künstler, die ergebnisorientiert arbeiten, schnell tappen. Dieses mulmige Gefühl, dass es den Werken an Überzeugung und Präsenz mangeln könnte. Diese stichelnde Sorge, dass nicht jeder die Intension verstehen könnte. In Folge der Torschusspanik zieht er oder sie das Ass der Ehrfurcht vor dem Handwerk aus dem Ärmel und hofft die Zweifel endlich zu bezwingen. Oh mann. Immerhin hätte ich das Video fast übersehen. Das hinter Digits of Light stehende Konzept ist ausgetüftelt, im Grunde jedoch simpel. Schön anzusehen sind die filigranen, komponierten Belichtungsspuren allemal.

Das Ideal der Ruhe

Unser Alltag ist anstrengend, chaotisch, vor allem ungewiss und irgendwann ist auch mal mit der ganzen Feierei Schluss – Ruhe. Wir suchen Ruhe. Die Ruhe, die einst Caspar David Friedrich malte und heute durch diverse Photoshop-Filter gejagt wird, um dann tumblr mit dem Endergebnis zu fluten. Eins mit uns selbst durch die Natur, indem wir eins mit ihr sind. Spiritualität als scheinbarer Gegensatz zum urbanen Zombieismus. Jewgeni Roppel suchte die Spiritualität auf seine Reise durch West-Sibirien. Einige Fotografien hat er gerahmt, hoch und tief gehängt, andere direkt auf die Wand geklebt. Gegenüberstellungen von Mensch und Natur. Verschmelzung von Mensch und Natur. Auch in seiner Videoarbeit gibt es Überblendungen, Überlappungen von Naturaufnahmen, vorbeiziehenden Zügen, Gesichtern und Funkenflug. Während der visuelle Part nur fünf Minuten dauert, ist der auditive Teil zwei Stunden lang. Interessante Idee! Leider habe ich keine Zeit und offen gesagt auch keine Lust, mir die wispernde, mäandernde Soundcollage vollständig anzuhören. Ob mir dabei was entgeht? Auch wenn die Stimmung im Haus der Photographie einer kathedralen Stimmung nahesteht, fällt es mir schwer, mich im Rahmen einer Ausstellung auf ein spirituelles Erlebnis einzulassen. Magnit hat Roppel seine Reihe genannt, wie eine russische Supermarktkette. Das wirft ein etwas differenziertes Licht auf die Sache.

Tellerrandgeschichten

Franz Beckenbauer hatte gar nicht mal die Unwahrheit über Katar gesagt; also zumindest laufen die Bauarbeiter dort nicht mit Kugeln an den Beinen rum. Nicht auf Gregor Schmidts brillanten Aufnahmen. Ein Airforce-Testflug, in knallgelben Overalls an der Straße stehende Arbeiter oder sich aus dem Wüstenstaub schälende Silhouetten von halbfertigen Gebäuden fangen katarische Momente einprägend ein. Die Fotografien sind irgendwie schön. Kompositorisch schön, farbig schön. Und dahinter lauert die Tristesse, der Geruch von Korruption und eingefahrenen Gesellschaftsstrukturen. Hätte FIFA und der Korruptionsskandal nicht auf dieses arabische Emirat medienwirksam aufmerksam gemacht, würden die meisten Betrachter wahrscheinlich mit Fragezeichen über den Köpfen vor Schmidts Reihe Waiting for Qatar stehen. Große, gerahmte Abzüge, die zwischen stiller, politischer Bestandsaufnahme und ästhetischer Fotografie stehen.

Auch Lars Hübner hat seinen fotografischen Fokus aufs Ausland gerichtet. Die Abzüge sind in schlichte, helle Holzrahmen gefasst; Bäume wurden entwurzelt und zurechtgedrechselt, um in Innenräumen nackt als Präsentationsmedium zu dienen… Zugegeben etwas dramatisch gedacht, doch die Rahmung unterstützt in gewisser Weise die Fotos selbst. Hier gibt es nichts weiter zu sagen. Nothing to declare thematisiert Taiwans kapitalistisch bedingte Zerrissenheit zwischen Alltag und Freizeit, zwischen Traditionen und westlichen Einflüssen. Davon gibt es leidlich viele Länder, warum speziell Taiwan? Hat Hübner eine bestimmte Bindung zu diesem Land oder einfach einen günstigen Flug erwischt? Ich muss unwillkürlich an Slavoj Žižeks Auseinandersetzung mit dem heutigen Kapitalismus denken, den ich noch unbedingt lesen will. Lars Hübner hat es bestimmt schon getan.

Kyun-Nyu Hyuns einfach betitelte und doppeldeutige Konzeptarbeit Nahrungsaufnahme dokumentiert akkurat jede ihrer vom 1. Januar bis zum 6. August 2015 zu sich genommenen Mahlzeiten. Die jeweils postkartengroßen Aufnahmen sind preiswert produziert und in strenger, mosaikartiger Anordnung auf die Wand geklebt. Abbild der Mahlzeit; Datum; Uhrzeit. Die Algorithmen der großen sozialen Netzwerke wüssten wahrscheinlich anhand dieser Datenfülle 99,9% über Hyuns Dasein. Beiläufigkeit, Transparenz und Kontrolle liegen heutzutage näher als vor der digitalen, barrierefreien Vernetzung. Andererseits brauche ich kein Algorithmus zu sein, um die Person ein gutes Stück näher kennen zu lernen, die hier freizügig ihre Mahl-Zeiten preisgibt. Die Welt war noch nie so klein wie morgen.

Hipster blättern gerne durch die NEON. Ich blättere gerne durch die NEON. Ein Zugeständnis?

Wer weiter oben konservative Kritik am üppigen visuellen Angebot einer populären Plattform gewittert hat: Nein, ernsthaft, ich mag tumblr. Ich denke, Reizüberflutung an sich ist nicht das Problem und massenhafter Bilderkonsum auch nicht. In der Regel will das niemand wirklich zugeben, der sich für etwas kritischer, kultureller oder künstlerischer hält als der Durchschnitt – aber Hand aufs Herz: Liegt das Problem vielleicht nicht eher in der Unfähigkeit einer adäquaten Bewertung? Was ist eine adäquate Bewertung überhaupt, wer bildet die Maßstäbe? Warum werde ich den Eindruck nicht los, dass ich eine Ausstellung besucht habe, die im Großen und Ganzen so aussieht wie ein aufgeschlagenes NEON Heft? – Ah, richtig. In der diesmaligen Jury von gute aussichten saß auch Amélie Schneider, Bildchefin besagten Magazins.

Sie sind einfach cool, diese Fotografien in der NEON. Sie zeigen das Leben wie es cool ist und wer sich damit nicht so recht identifizieren mag, kann immerhin noch sagen, dass es gute gemachte Fotografien sind: Schön scharf mit Blitz, schön verwackelt ohne Blitz, so lässig professionell eben. Am wichtigsten erscheinen aber das Motiv und seine Inszenierung. Am besten so, dass der Betrachter gar nicht erst das Gefühl bekommt, es sei in Szene gesetzt. Hashtag Authentizität. Meine alten NEONs habe ich immer ausgeschlachtet, meistens, um aus den Bildern Collagen zu machen, die mir als Skizzen oder Ideenzunder dienen. Dadaisten wie Hannah Höch oder John Heartfield machten im Gegensatz dazu Collagen, die in die Kunstgeschichte eingingen. Maja Wirkus‘ Collagen sind schon mal durch gute Aussichten in die Deichtorhallen gekommen. Graustufige Flächen, die sich bei genauerem Hinsehen als Gebäude- oder innenarchitektonische Fragmente enttarnen. Wie bei Aras Göktens Arbeiten bin ich mir nicht sofort sicher, ob es analoge oder digitale Collagen sind. Gökten verunsichert noch mehr, denn der Unterschied zwischen Collage und Realitätsabbild ist nicht mehr auszumachen. Seine Fotografien wirken zum Teil entmenschlicht, wie unbewohnte Neubauten.

Angenommen, gute aussichten ist der Spiegel dessen, was den momentanen deutschen Zeitgeist ausmacht, der durch die Linse auf die Welt schaut – dieser Weltblick wäre genau der, der ihn in seiner Gestalt beschreiben würde: Es geht nicht mehr nicht-global. Unsere Augen sind überall, während uns als Gesamtpaket schlichtweg jegliche Kapazitäten fehlen, um überall zu sein. Wir sehen quantitativ viel mehr als die Menschen vor hundert Jahren und damit auch mehr, was uns begeistert, was uns abstößt und uns Angst macht. Die für 2015/16 ausgewählten Positionen von gute aussichten – Junge deutsche Fotografie sind so individuell wie westlich-universell. Sie zeigen nichts, was uns durch die Medien nicht schon bekannt wäre und bemühen sich zugleich um eine einzigartige Perspektive.

Der Rest – allein und auch ein Teil von allem

Er kommt aus dem Hamburger Underground, hat bereits in zahlreichen Städten Deutschlands gespielt und arbeitet derzeit an seinem vierten Album. Der Rest singt deutsch, klingt dunkel und steht knöcheltief im Post-Punk. Als aktueller Support von Front Line Assembly wird er nun erstmalig im Ausland auftreten.


06.03.2016, LOGO, Hamburg

Es ist Sonntagabend und bannig kalt in Hamburg. Das sollte aber nicht weiter stören, denn wenn ein Konzert im LOGO ansteht, kann man gewiss sein, dass es dort muggelig warm wird. Ungefähr 150 Menschen gemischten Alters sind hier, um die kanadische Kombo Front Line Assembly zu sehen. In Liebhaberkreisen der Electronic Body Music und des Post-Industrials ist sie bereits ein alter, liebgewonnener Hase. Unniedlich, versteht sich. Dunkel-elektronischer Hardcore, der zum Abfeiern einlädt. Zwar bin ich dem nicht abgeneigt, aber eigentlich der Vorband wegen hier. Postmondän goes Post-Punk.

Sie nennen sich Der Rest und kommen aus Hamburg. Heimspiel also. Vielleicht hat der eine oder die andere schon mal von ihnen gehört oder sie in irgendeiner Großstadt Deutschlands live erlebt – nicht sehr unwahrscheinlich, denn Der Rest tourt seit einigen Jahren immer mal wieder durch die Bundesrepublik. Wer keine Ahnung hat, von wem ich rede, sei herzlich eingeladen, ein wenig mehr über die zwei-drei-köpfige Band zu erfahren, die sich vage den Genres Avantgarde-Rock, Post- und Depro-Punk zuordnet und derzeit an ihrem vierten Studioalbum arbeitet. Zwischen dem ersten und zuletzt releasten Album liegen gerade mal drei Jahre. 2014 erschien 10 Lieder für Freunde, das geradeheraus sagt, was es meint und trotzdem einiges im Dunkeln lässt – oder vielmehr Philipp Taraz, Kopf und Stimme der Band.

Quelle: YouTube

Man könnte die poetisch durchwirkte Ungeschöntheit das Steckenpferd der Gruppe nennen. In einer Rezension zu 10 Lieder für Freunde beschrieb der Sonic Seducer treffend, „dass sich die Songs der Norddeutschen vorwiegend im Schatten der menschlichen Existenz aufhalten und in eine ähnliche Kerbe schlagende Bands wie Messer oder Die Nerven wie rumpelige, verzweifelt um Bedeutung ringende Hipsterkapellen aussehen lassen.“

Woanders wurde Der Rest argwöhnisch als Teilruine der Hamburger Schule beäugt; das Bandkredo „Nicht Pop und nicht Indie, nicht Liedermacher und nicht Rock“ hat sich mit der Zeit jedoch immer stärker behaupten können. Auf Konsole wiegen die besagten thematisierten Schattenseiten des Lebens schwerer als auf der Bühne, während der mal rockig treibende, mal doomige Sound in beiden Formaten überzeugt.

Quelle: YouTube

Ist es Zufall, dass Abwärts damals schon sangen „Und der Rest fährt im Sonderzug zur Endstation“ oder ist es umgekehrt Der Rest gewesen, der sich davon inspirieren ließ?… Jedenfalls wird er im Mai 2016 mit Abwärts unterwegs sein, nachdem er Front Line Assembly noch ein bisschen durch Europa begleitet hat. Man darf gespannt sein, wie die deutschsprachige Band im Ausland ankommt – ein kleiner Schritt ins Ungewisse, ein großer Schritt für Der Rest.

An diesem Sonntagabend standen Philipp Taraz und Bassistin Jeannine Max zum ersten Mal mit einem neuen Schlagzeuger auf der Bühne. Die drei wirkten wie ein eingespieltes Team und rock’n‘rollten fast pausenlos mit 12 Liedern im Gepäck, davon 4 neue, das LOGO. „Was, wenn dies mein Ende ist?“ wirft Taraz zu Anfang immer wieder ungerührt ein, um später in einem ziemlich Hardrock-inspirierten Stück zu skandieren: „Wir wollen den Horror!“ Mit Dein Lächeln verabschieden sich die Hamburger für diesen Abend – „Alles wieder normal“.

Nach einer kurzen Umbaupause betritt der Hauptact die niedrige Bühne und bringt die bunkerartige Location endgültig zum Brodeln: die EBM-Partypeople tauen endlich auf. Abgesehen davon, dass sie unterschiedlicher kaum sein könnten, stehen sich die beiden Bands auf der Bühne in Sachen musikalischer Härte nichts nach. Siedepunkt erreicht!

Unter anderem spielt Der Rest am 25.03.2016 im K 17, Berlin.

Die Mai-Tourtermine mit Abwärts gibt es hier.

Titelbild: © Le Colmer

„Dark Harbor“ – Retrospektive eines Nicht-Klassikers

Das postmondäne Augenmerk liegt diesmal nicht auf einer cineastischen Neuheit oder zeitgemäßen Analyse eines großen Kultfilms, sondern fischt in den trüben Gewässern von Dark Harbor (1998). Abgesehen davon, dass Alan Rickman (†) und Norman Reedus mitwirkten, haben wir es mit einem kleinen Independent Thriller zu tun, der den Anschein einer verfilmten Novelle macht, jedoch nie als Buch funktionieren würde…


Die deutsche Titelergänzung Der Fremde am Weg erinnert schon etwas an das osteoporöse Frühabendprogramm hierzulande, während der originale Untertitel A drifter. An affair. A murder an Klassiker seines Genres Tribut zu zollen scheint. Tatsächlich wird Dark Harbor eine Ähnlichkeit zu Hitchcock-Filmen nachgesagt; in wenigen auf IMDb gelisteten Kritiken werden recht einstimmig Parallelen zu Roman Polanskis Das Messer im Wasser (1962) gezogen. Tatsächlich ist der Plot ein sehr ähnlicher: Ausgangspunkt bildet ein Ehepaar, das auf bzw. am Wasser das gemeinsame Wochenende verbringen will. Wie Polanskis Paar haben Adam Coleman Howards David Weinberg (Alan Rickman) und seine Frau Alexis (Polly Walker) die besten Ehejahre hinter sich gelassen. Gleich zu Anfang kommt ein junger, attraktiver Mann (Norman Reedus) ins Spiel, dessen Name und Herkunft unerwähnt bleiben. Während dieser junge Mann in Das Messer im Wasser als grünschnabeliger Tramper in Erscheinung tritt, wird er in Dark Harbor verletzt am Straßenrand aufgefunden und schließlich von den Weinbergs mit zum Hafen genommen.

„(…) Zunächst unbemerkt beginnt der geheimnisvolle Fremde ihr Leben zu untergraben: David und Alexis befinden sich plötzlich in einem gefährlichen Spiel aus Sex und Verrat – nichts ist mehr so, wie es war! Was geschieht mit Ihnen…?“ (Quelle: MCP Sound & Media)

Die deutschsprachige Filmzusammenfassung auf dem DVD-Cover lässt irgendwie zu wünschen übrig, fügt sich aber wunderbar in die einfältige Pathetik, die wir schon in der Phrase Der Fremde am Weg vorgefunden haben. Was hier zu einer billigen Sensation verkommt, wird im offiziellen Trailer hingegen zu einem regelrechten Horrorevent aufgeblasen:

(Quelle: YouTube)

Que(e)rverweise

Spannend ist er allemal, doch Dark Harbor kommt und geht auf leisen Sohlen und hebt sich im Verlauf der Story von seinem polnischen Vorbild aus den Sechzigern deutlich ab. Er spielt mit den Erwartungen des Zuschauers und lässt sich mit der Herausstellung des Motivs bis zum Schluss Zeit. Coleman Howards Dreiecksdrama entpuppt sich als Schauspiel im Schauspiel, wobei es ein wenig an Sidneys Lumets Verfilmung des amerikanischen Theaterstücks Deathtrap erinnert. Das play-within-a-play ist jedoch nichts Neues – Agatha Christies Mousetrap wäre ein älteres Beispiel, das wiederum von Shakespeares Hamlet inspiriert wurde.

„Alan Rickman and Polly Walker are perfect as the cou-ple [sic] whose lives are empty of everything except material things and Norman Reedus continues to prove he is so much more than a pretty face“, schrieb Deena Juras anlässlich des damaligen Hamptons International Film Festivals. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der theatererfahrene Alan Rickman als David Weinberg gecastet wurde. Norman Reedus hingegen hatte bis dato vordergründig als Model Karriere gemacht und sollte erst ein paar Jahre später zu einem Exportschlager der US-amerikanischen Popkultur heranwachsen; seine aktuelle Dachmarke ist die Rolle des Daryl Dixon in der beliebten TV-Serie The Walking Dead. Ob Reedus für die Rolle des Fremden gezielt ausgesucht worden war? Eine spezielle Szene erweckt den Verdacht. In dieser verschmelzen Catwalk mit Bühne und ein amerikanischer Pop-Mythos wird in queer konnotierten Trash transformiert: Ein relevantes männliches Idealbild – hier verkörpert durch Inzwischen-Mythos Norman Reedus – vermischt sich mit einem relevanten weiblichen. Die Performance einer transvestierenden Marilyn Monroe mit Veilchen ist sowohl absurd als auch anziehend, denn sie bedient sich klischeehafter Elemente, ohne aber das gängige Transvestiten-Klischee zu reproduzieren.

(Quelle: YouTube)

Bevor ich fortfahre und des unangekündigten Vorwegnehmens bezichtigt werde: Wer Dark Harbor spoilerfrei erleben will, sollte diesen Abschnitt lieber überspringen!
Der Plot ist klassisch: Es ist das verflixte siebte Jahr, die Ehe der Weinbergs ist merklich zum Scheitern verurteilt und das Hinzukommen des Fremden wirkt dem nicht sonderlich entgegen (anders als in Tom Tykwers 3, in dem ein Paar seine Beziehung öffnet). Während Alexis‘ Interesse für den jungen Mann stetig aber vorsichtig wächst, scheint ihr Ehemann seine Anwesenheit höchstens zu billigen. Der Fremde weckt Erinnerungen und Sehnsüchte in ihr, denen sie nach einem verheerenden Streit mit David schließlich nachgibt – was sich als fatal herausstellt.

Dem Zuschauer wird bis zum letzten Viertel vorgegaukelt, das Spiel einigermaßen zu durchschauen; der Twist allerdings bringt das vertraulich erscheinende Konstrukt zum Einsturz: Der geschickt als Suizid getarnte Mord an der Ehefrau stellt sich als von langer Hand geplanter Coup heraus, den David Weinberg und der junge Mann offenbar unternommen haben, um an das Erbe der Frau – das Haus auf der Insel – zu kommen. Den Verdacht, dass die beiden Männer bereits vor Beginn der Erzählung ein heimliches Paar gewesen sein mussten, erweckt die unmissverständliche Schlussszene. Eine solche Auflösung war 1982 in Deathtrap noch mutig (siehe Aids und Homophobie) und wäre in Das Messer im Wasser undenkbar gewesen – wohingegen sie in Dark Harbor keinen diskursiven Gegenstand mehr darstellt. Darüber hinaus entlarvt die letzte Sequenz die beiden Figuren gewissermaßen als Schauspieler, die aber in diesem Augenblick ihre Rollen bereits abgelegt haben. Polly Walkers Alexis dürfte diejenige gewesen sein, die sich gegenüber dem Zuschauer am durchgängigsten offenbart hat.

Gut gelöst: das narrative Dilemma des Unscheinbaren

Er mag beim ersten Sehen etwas zäh und irgendwie absurd wirken. Vielleicht liegt es daran, dass wir es eher mit einem Kammerspiel als mit einem gewöhnlichen TV-Thriller zu tun haben, vielleicht liegt die Ursache aber auch woanders. Dark Harbor – Der Fremde am Weg birgt eine Qualität, die in einer erzählerischen Cleverness liegt und sich zunehmend, also beim wiederholten Schauen, erschließt. Vereinzelte irritierende Momente, die zuerst den Anschein von inkonsequenter, unbeholfener Erzählung gemacht haben könnten, fügen sich plötzlich wie passende Puzzleteile zwischen die Zeilen ein. Die Distanz zwischen dem Zuschauer und den Figuren wird dabei nur bedingt kleiner, doch die Machenschaften an sich werden entschlüsselbar: Jedes Wort und jede Geste wird zu einem potenziellen Träger verborgener Botschaften. In Form eines Buches wäre diese Art des Erzählens nicht möglich, da der Leser auf die Momente, auf die es ankommt, irgendwie verwiesen werden müsste.

Die szenische Umsetzung Dark Harbors vermeidet es bis zur Auflösung, den Zuschauer mit der Nase auf die entscheidenden Augenblicke zu stoßen (darauf muss er schon selbst kommen!); die Zurückhaltung liegt nicht in der Narration selbst, sondern bei den Figuren. Die Rezeption dieses Films ist meiner Meinung nach eher mit der Rezeption eines Kunstwerks vergleichbar, dessen eigentlicher Gegenstand der Kommunikation sich erst bei intensiverer Auseinandersetzung offenbart: Der Zuschauer muss sich erst die Geschichte, dann den eventuellen Hergang erarbeiten. Alternativ kann man Dark Harbor – dreht es sich doch im Grunde um Liebe, Versuchung, Tod und Auferstehung – wie einen gewöhnlichen arte-Film anschauen und sich dabei einfach zurücklehnen.

Titelbild: Screenshot aus „Dark Harbor – Der Fremde am Weg“, MCP Sound & Media

Beate Zschäpe – Filmstar?

Nein, das auf dem Foto ist nicht Beate Zschäpe, sondern Schauspielerin Anna Maria Mühe. Sie spielt die Terroristin in dem angekündigten ARD-Mehrteiler über den NSU. Ähnliche Filmprojekte folgen. Das darf nicht passieren.

Ein Kommentar von Katharina van Dülmen


„Anna Maria Mühe mimt Beate Zschäpe“, so kündigt das Berliner Fenster den ARD-Mehrteiler über den NSU an, der seit Anfang 2014 geplant, seit 2015 abgedreht ist, aber noch nicht ausgestrahlt wurde. „Schwierig“ ist das erste Wort, das mir in den Kopf kommt. Der NSU-Prozess ist nach über zwei Jahren noch nicht abgeschlossen und Beate Zschäpe nach jahrelangem Schweigen immer noch nicht vollkommen aussagebereit. Wie soll der Plot des Films also aussehen?

Trilogie mit Perspektivwechsel

Laut FAZ handelt es sich bei dem für 2016 geplanten und von Welt-Herausgeber Stefan Aust und Fernsehproduzentin Gabriele Sperl produzierten „TV-Highlight“ um eine Trilogie, die verschiedene Perspektiven einnimmt. Der erste Teil soll sich mit dem Milieu der Täter٭innen, „in den neuen Bundesländern radikalisierenden Jugendlichen, mit den Neonazis“, beschäftigen. Die Perspektive der Ermordeten und ihrer Angehörigen, „die durch die jahrelang fehlgeleiteten Ermittlungen der Polizei selbst zu Verdächtigen […] wurden“, soll im zweiten Teil dargestellt werden. Im dritten Teil spielen die Ermittler٭innen, die lange „im Dunkeln tappten“, die Hauptrollen. Und dann ist noch eine abschließende Dokumentation angekündigt. Bis auf die das Projekt beschreibenden Ankündigungen und ein paar „Das klingt gewagt“-Zitate finde ich keinen Kommentar, keine kritischen Auseinandersetzungen. Nur einzelne Stimmen einiger Leser٭innen unter den Ankündigungen im Netz bestätigen mich in meiner Ansicht: Eine filmische Auseinandersetzung mit der Person Beate Zschäpe und ihrer Rolle im NSU ist zu früh – viel zu früh – und gefährlich.

Spielfilme lenken Gefühle

„Mit diesem auf den ersten Blick kaum zu überschauenden Projekt möchte ich die Menschen emotional so erreichen, dass sie beginnen, die Bedeutung dieses Geschehens wahrzunehmen und zu erkennen, dass unsere Gesellschaft einen dunklen, braunen Fleck hat, den viele, nicht nur die Politik, lieber verdecken möchten. Das muss sich ändern“, so die Produzentin Gabriela Sperl laut FAZ. Ist die Gesellschaft wirklich schon so abgestumpft, dass sie nicht allein durch die Nachrichten von zehn rassistisch motivierten Morden, 15 Banküberfällen und mindestens zwei Bombenanschlägen emotional berührt wird? Braucht sie wirklich noch einen (leicht verdaulichen, verständlichen und mit passender Musik unterlegten) Spielfilm, der ihnen die zu spürenden Emotionen vorkaut und ihr sagt, bei welcher Tat des NSU sie was zu fühlen hat? Denn das ist es, was Spielfilme tun:

„Der Wunsch zu fühlen bildet eine Hauptmotivation dafür, sich Filme anzusehen. Als dramaturgische Gebilde lenken Filme Zuschauergefühle. Sie bauen ein affektives Feld auf, besitzen eine spezifische Affektstruktur. Zu unterscheiden ist u.a. zwischen Fiktionsaffekten, die auf die erzählte Welt bezogen sind, und Artefaktaffekten, die auf die ästhetische Gestaltung bezogen sind.“

Lexikon für Filmbegriffe

Ein Spielfilm ist Fiktion, egal, ob er auf einer wahren Begebenheit beruht oder nicht. Damit ein Film spannend und emotional berührend bleibt, hat er einen bis ins Kleinste kalkulierten Spannungsbogen. Überspitzt gesagt: Alles wird dieser Affekthascherei untergeordnet – auch das zu Erzählende. Gleichzeitig wird den Zuschauer٭innen bei einem Plot, der auf einer wahren Begebenheit basiert, vorgegaukelt, dass das, was dort erzählt wird, der Realität entspricht. Die Zuschauer٭innen sollen glauben, dass es genauso passiert ist. Genauso. Ich gebe Frau Sperl ja recht, in letzter Zeit wurde mehr als deutlich, dass es zurzeit sehr großen Aufklärungsbedarf beim Thema „dunkle, braune Flecken“ in der Gesellschaft gibt. Aber ist eine Trilogie mit Perspektivwechsel der richtige Ansatz?

Figuren werden gezeichnet

Perspektivwechsel sind bei einem solchen Thema gefährlich, denn sie sind motiviert: So spielen sie den Zuschauer*innen einen objektiven Blick auf ein Geschehen vor. Sollen sich die Zuschauer٭innen der NSU-Trilogie etwa in jede der beteiligten Gruppen einfühlen und ihre Motivationen für ihr Verhalten nachvollziehen? Denn Emotionen werden in Spielfilmen auch über Sympathie und Empathie erreicht: Sympathie (Fühlen-für) und Empathie (Fühlen-mit) bilden unterschiedliche Formen der Anteilnahme an Filmfiguren“, so das Lexikon für Filmbegriffe.

In einem Interview mit der BZ erklärt Schauspielerin Anna Maria Mühe den Plot rund um die Figur Beate Zschäpe so: „Unser Film zeigt die Geschichte von Beate, wie sie 14 Jahre alt ist, bis sie 24 Jahre alt ist. Wie sie Uwe Mundlos kennenlernt, sich in ihn verliebt. Und wie sie Uwe Böhnhardt kennenlernt und sich in den verliebt.“ Können wir also eine Liebesgeschichte erwarten, die in vielen grässlichen Taten endet? Beginnt die Geschichte mit einer pubertierenden 14-Jährigen, die langsam der Liebe wegen in die Terrorzelle hineinrutscht? Gibt es in dem Film vielleicht sogar einen Punkt, an dem die Zuschauer٭innen Mitleid mit der Protagonistin haben? Betätigen sich die Filmemacher٭innen als Psycholog٭innen, die der Protagonistin durch den Film ein psychologisches Gutachten ausstellen? Ja, das sind alles Spekulationen. Fest steht jedoch, dass die Figur Beate Zschäpe gezeichnet, charakterisiert werden muss, dass sie von einer beliebten Schauspielerin gespielt wird, dass ihre Lebensgeschichte bis zum noch nicht abgeschlossenen Prozess dargestellt wird, dass das Drehbuch bereits fertiggestellt war, bevor die Fakten vollends geklärt sind, bevor der Gerichtsprozess entschieden ist. Mich würde sehr interessieren, wie die Hinterbliebenen der Ermordeten über das Projekt und ihrer eigenen Darstellung in der Verfilmung denken.

Kommerzielle Ausschlachtung?

Vielleicht tue ich den Filmemacher٭innen unrecht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser ARD-Mehrteiler unter dem Kalkül produziert wurde, das Thema für ihre Zwecke zu nutzen, solange es noch „heiß“ ist. Denn ihre Presseleute haben ganz Arbeit geleistet: Über das Projekt war schon Anfang 2014 in den Medien zu lesen. Ein Blick nach Amerika zeigt, dass die Inanspruchnahme der Filmrechte aktueller Themen längst Mode geworden ist: Jüngst hat Hollywood-Star Leonardo DiCaprio bekannt gegeben, den VW-Skandal zu verfilmen. Filmstoffe scheinen rar und umkämpft zu sein.

Aber nicht nur die ARD hat sich des NSU-Themas angenommen, auch das ZDF hat (zufällig?) zeitgleich ein Doku-Drama (AT: „Letzte Ausfahrt Jena“) mit Lisa Wagner als Beate Zschäpe abgedreht. Achja, und dann soll die NSU-Geschichte auch noch ins Kino kommen. Basieren wird der von Constantin Film produzierte Film auf dem Buch „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU“ von Journalist und Produzent des ARD-Mehrteilers Stefan Aust sowie Autor Dirk Laabs. „Die Autoren rekonstruierten darin die Jagd nach den Neonazis und geben Einblick in den Kampf des Bundesamts für Verfassungsschutz gegen den rechten Terror“, schreibt Die Welt.

Gruseln bei Popcorn und Bier

Auch wenn ich, bevor ich die Filme überhaupt gesehen habe, urteile: Das Projekt ist äußerst fragwürdig. Nicht jedes Thema muss in einem Spielfilm aufgearbeitet werden, nicht jedes Thema kann in einem Spielfilm aufgearbeitet werden, nicht jedes Thema darf in einem Spielfilm aufgearbeitet werden und nicht jede٭r sollte in Spielfilmen eine Plattform bekommen. Kommerzieller Erfolg durch emotionale Affekthascherei darf kein Grund für die Darstellung eines so sensiblen und noch nicht abgeschlossenen Themas sein. Was ist aus den informativen, auf Fakten basierenden Dokumentationen geworden, was aus dem vollends fiktiven Filmstoff?

Ein Zitat aus einem Kneipengespräch: „Naja, die ehemaligen Anwälte der Zschäpe, Heer, Sturm und Stahl müssen in der Verfilmung auf jeden Fall unbenannt werden – die Namen klingen nach einer schlechten SAT.1-FILMFILM-Produktion.“

Titelbild: Anna Maria Mühe beim Berliner Film Festival 2014, Foto von e Siebrands/Wikimedia Commons

Eine Erinnerung an zu Erinnernde – Paco Roca: Die Heimatlosen

Der Comicautor Paco Roca erzählt die Geschichte eines Freiheitskämpfers. Was macht dieses Werk so wertvoll?



„Jede Generation hat ihre eigenen Kämpfe und sie waren mit dem Moment konfrontiert, in dem man mit Waffengewalt gegen den Faschismus kämpfen musste. Vielleicht liegt es heute in unseren Händen, das zu verteidigen, was sie erreichten, eine gewisse Form des Lebens, die wir bisweilen zu verlieren drohen.“

Paco Roca

Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährte sich vor wenigen Monaten bereits zum siebzigsten Mal. Dies bedeutet, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die Möglichkeit erlischt, das Geschehene und Erlebte auf Grundlage von Zeitzeugenberichten festzuhalten. Dem spanischen Comicautor Paco Roca ist das bewusst und er präsentiert mit seiner 2015 im Reprodukt Verlag erschienenen Graphic Novel Die Heimatlosen (sp. Los surcos del azar) ein lesenswertes Werk, das heute fast vergessenen Akteuren im Kampf gegen den europäischen Faschismus zu neuer Anerkennung verhilft.

Zu Beginn der Handlung ist es Roca selbst, der den nun im französischen Exil alleine und zurückgezogen lebenden Bürgerkriegs- und Weltkriegsveteranen Miguel Ruiz aufsucht, um dessen Geschichte in Erfahrung zu bringen und dokumentieren zu können. Der kauzig wirkende alte Herr begegnet diesem Vorhaben zunächst mit Ablehnung und Wortkargheit.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 31

© Reprodukt/Paco Roca

Als er jedoch erkennt, dass es dem Autoren ein ernstes Anliegen ist und dieser sich aufrichtig für dessen Vergangenheit interessiert, lässt er sich schließlich darauf ein. Somit wird dem Leser die bewegte Geschichte eines ehemaligen spanischen Soldaten dargeboten, der als Republikaner nach dem Sieg der faschistischen Franquisten im Spanischen Bürgerkrieg (1936-39) seine Heimat verlor und fortan von Idealismus getrieben einen nicht unerheblichen Teil dazu beitrug, dass Europa weitestgehend vom nationalsozialistischen Deutschland befreit werden konnte. Ruiz steht hier stellvertretend für eine beachtenswerte Zahl von Spaniern, die sich nach der Flucht vor Francos Repression trotz des schlechten Umgangs in den französischen Auffanglagern der Résistance anschlossen und 1944 wesentlich an der Befreiung von Paris beteiligt waren.

Die Erzählperspektive bewegt sich im Laufe der Handlung zwischen der Gegenwart, in der Paco Roca den alten Ruiz interviewt und darüber hinaus im recht schlichten Alltag begleitet, und der Vergangenheit, die auf dem von Ruiz Berichteten basieren. Dieses Stilmittel ist gewiss nicht neuartig. In diesem Zusammenhang und in Bezug auf die Thematik im Allgemeinen fällt die Ähnlichkeit zu Javier Cercas‘ erfolgreichem Roman Soldados de Salamina auf, der 2003 verfilmt wurde und von einem Journalisten (Buch) bzw. einer Journalistin (Film) handelt, der/die sich ebenfalls auf die Suche nach einem vermeintlichen Helden des Spanischen Bürgerkriegs macht und schließlich in Frankreich fündig wird.

Insofern hat Paco Roca mit Die Heimatlosen sicherlich das Rad nicht neu erfunden. Dennoch sind ihm einige Aspekte hoch anzurechnen. Zum einen greift er in eindrucksvoller Weise auf das zumindest in der deutschsprachigen Öffentlichkeit zur Auseinandersetzung mit historischer Thematik immer noch unkonventionell erscheinendem Genre des Comics zurück, auch wenn Künstler wie Art Spiegelman oder Joe Sacco in dieser Hinsicht bereits Pionierarbeit leisteten. Dass Roca in diesem Fall geradezu ein – wenn auch teils fiktives – Paradebeispiel von Oral History liefert, macht die Lektüre umso spannender. Trotz der dramatischen und bedrückenden Ereignisse sorgt beispielsweise die kapriziöse Erscheinung des alten Ruiz immer wieder für humoristische Situationen.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 126

© Reprodukt/Paco Roca

Des Weiteren wagt sich Paco Roca an eine Materie, die in seinem Heimatland pikant anmutet. Denn der spanische Erinnerungsdiskurs ist nach wie vor von Emotionalität und Polarität geprägt. Grund dafür sind die fast 40 Jahre währende Militärdiktatur Francos, die nur die Version der Siegerseite zuließ und der anschließende, gelinde gesagt, vorsichtige Umgang mit der Aufarbeitung der nationalen Vergangenheit. Roca behandelt das Geschehene aus der Perspektive der antifaschistischen Freiheitskämpfer, die sich dem vergeblichen Aufbäumen gegen die Franquisten anschlossen und daraufhin für den Rest ihres noch jungen Lebens die Heimat verloren. Dennoch ist eine unkritische Glorifizierung und Heroisierung der Protagonisten nicht zu erkennen. Der Autor verzichtet gänzlich auf Euphemismen und stellt die Ereignisse schonungslos dar.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 227Paco Roca Die Heimatlosen S. 228

© Reprodukt/Paco Roca

So räumt auch der alte Ruiz ein, dass er Taten begangen habe, die er heute bereue.

Paco Roca Die Heimatlosen S. 229

© Reprodukt/Paco Roca

Paco Roca muss zugestanden werden, dass er mit Die Heimatlosen ein Werk geschaffen hat, das trotz der alltäglichen Konfrontation mit den Ereignissen in den 1930er und 1940er Jahren spannend und unterhaltsam bleibt. Die äußerst menschlich dargestellte Erzählung leistet einen wichtigen Beitrag für Verständigung und Geschichtsverständnis. Der zentrale Wert dieser Graphic Novel liegt aber darin, dass sie die Geschichte einer Gruppe von Menschen beleuchtet, die wahrscheinlich bis heute nicht die Anerkennung erhalten hat, die sie verdient und droht, dem Vergessen anheimzufallen.

Lassen wir somit abschließend den alten Ruiz das Fazit ziehen:

Paco Roca Die Heimatlosen S. 320

© Reprodukt/Paco Roca

Der gespielte Wahnsinn und sein Publikum

Lars Eidinger, Christian Friedel und Vlad Chiriac haben wenig gemeinsam. Und doch wollen sie alle als Hamlet den Tod des Vaters rächen. Dabei vertreten sie unterschiedliche Ansätze – und nicht nur des Publikums wegen.


Wenn das Publikum lacht

Hamlet liegt in Embryonalstellung auf den Bühnenbrettern. Das Holz ist von Dreck verfärbt, obwohl zuvor ein in Hausmeisterdress gekleideter und mit nordischem Dialekt sprechender Schauspieler diese mit einem Staubsauger gereinigt hat. Denn es wurde die dänische Königsfamilie erwartet – die Königin von Dänemark, ihr Sohn Hamlet und der neue König, Bruder des alten, Claudius. König und Königin sind längst hinter der großen Dänemarkflagge verschwunden. Zurück bleibt Prinz Hamlet. Er trauert um seinen Vater Hamlet, ehemaliger König von Dänemark. Die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht nicht zu sehen. Seine Verzweiflung und Wut ist in jedem Wort zu hören, das seine kraftvolle Stimme in die Berliner Abendluft tönt. Das Publikum lacht. Es lacht. Es lacht bei einer Tragödie von William Shakespeare. Wäre dieser Hamlet vom Berliner Schauspieler Lars Eidinger verkörpert worden, würde sich dieser nun mitsamt seines Fatsuits feierlich auf die Beine erheben. Er würde zum Bühnenrand gehen und sich bedächtig an das Publikum wenden: „Ihr lacht? Ihr lacht, obwohl ich hier am Boden liege? Obwohl ich hier Dreck und Erde fresse?“ Aber der Hamlet auf der Bühne ist nicht Lars Eidinger, sondern Vlad Chiriac des Monbijou Theaters. Und warum sollte dieser, nachdem er bereits das Kindergeschrei im Park gleich neben dem Amphitheater und die Musik der Swingbar direkt am Spreeufer überspielt hat, nicht auch das Lachen des Publikums ignorieren? Zwei Orte, zwei Theater, zwei Hamlets. Und dann wäre da noch ein Dritter, der nach seinem Vater ruft.

Wenn Hamlet Hamlet anruft

Der dritte Hamlet schreit ins Mikrofon. Seine Hände spielen auf einem Keyboard. Er steht vor einer pompösen Theaterkulisse – kein Dreck, keine Erde in Sicht. Seine Mutter, sein Onkel und seine Schulfreunde Rosencrantz und Guildenstern sitzen auf Theaterrängen. Mit einem Glas bis zum Rand gefüllt mit Alkoholhaltigem schauen sie herab auf das Schauspiel des Prinzen von Dänemark. Dieser singt schweißüberströmt: „I’ll call thee Hamlet. I’ll call thee, Hamlet, king, father, royal Dane, king, father, royal Dane. O, answer me.“ Sein Vater antwortet nicht – noch nicht. Immer wieder verlässt Hamlet durch eine Flügeltür die Bühne. Kommt kurz darauf zurück, seine Kleidung und Haare immer durchnässter, sein Gesicht immer angespannter, hält Monologe und singt Lieder – begleitet von einer Band. Diese besteht aus keinen Geringeren als den Musikern von Polarkreis 18. Auch das Gesicht des Hamlets hat man schon gesehen, an der Seite von Matthias Schweighöfer in Russendisko, als Dorflehrer in Michael Hanekes Das weiße Band und jüngst als Elser im gleichnamigen Film. Nun also Christian Friedel als Hamlet im Staatsschauspiel Dresden. Die Zuschauer*innen, die eine Musicalisierung der Tragödie oder ein Konzert des Honig-im-Kopf-Soundtracks erwarten, werden enttäuscht. Nachdem Hamlet in blutrotangestahlter Kulisse „Es war Mord“ in sein Mirko brüllt, ist das Konzert beendet. Das Schauspiel beginnt: Hamlet streift sich den Wahnsinn über, um den Tod seines Vaters zu rächen. Hier lacht (noch) keiner.

Wenn der Souffleur das Stück rettet

Der Lars-Eidinger-Hamlet ist mit seinem Publikum nicht zufrieden. Die Betonung liegt hier auf „seinem“. Denn er macht sich das Stück zu eigen. Lässt dabei seine Mitspieler*innen nicht nur sprichwörtlich, sondern auch im Regen eines Gartenschlauchs stehen. Immer wieder wendet er sich an den „Pöbel“ im Publikum. Er lässt ein Ehepaar aufstehen, bezeichnet sie als Verbrecher, weil sie ihren 12-jährigen Sohn in ein so grausames Theaterstück schleifen. Er fragt eine Zuschauerin in der ersten Reihe, ob sie endlich mithilfe ihres Smartphones den Namen von Hamlets Theaterstück eruiert hätte, um ihr dann selbstgefällig mitzuteilen, dass es sich „Die Mausefalle“ nennt. Lars Eidinger ist dafür bekannt, dass er die vierte Wand im Theater ignoriert. Nicht nur dafür wird er gefeiert – sein Hamletspiel wurde in den Himmel gehoben. Seit Jahren ist das Stück in der Schaubühne am Lehniner Platz so gut wie ausverkauft. Doch nun hat Lars Eidinger ein Problem: Er übertreibt. Denn, wenn er an diesem Abend wieder einmal die vierte Wand durchbrochen hat, muss ihn der Souffleur retten. Immer wieder vergisst er seinen Text, fällt aus der Rolle und kann die Textfetzen, die ihm zugeworfen werden, nicht aufnehmen, nicht weiterführen. Ob diese Passagen zur Inszenierung gehören oder nicht – es ist eindeutig zu viel und stört. Nicht sein Hamlet ist ein Trauerspiel, sondern sein verzweifelter Versuch, das Publikum davon zu überzeugen, dass er der wahre Hamlet sei – denn „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage!“ Der Hamlet, der in seinem vorgetäuschten Wahnsinn die Bühne verwüstet, sich in der aufgeschütteten Erde suhlt, sich eine Handvoll davon in den Mund schiebt und isst. Wo ist hier der staubsaugende Hausmeister mit dem nordischen Dialekt, der kurzzeitig alle Beteiligten auf den Boden der Tatsachen holt?

Wenn Hamlet komisch ist

Auch im Staatsschauspiel Dresden sitzt ein etwa 12-Jähriger mit seinem Vater. Doch hier lässt Hamlet beide in Ruhe. Selbst als der Kleine seinen Vater fragt, ob die nackten Brüste der Ophelia echt seien. Hamlet schiebt sich durch die Zuschauerreihen und bittet alle um Entschuldigung. Christian Friedel sieht das Publikum, bleibt aber Hamlet. Er sieht es und lässt es lachen. Denn auch sein Wahnsinn hat ein komisches Moment: So lässt er seine Spucketropfen fliegen und sie im Scheinwerferlicht entfalten, als sein Onkel Claudius ihm mit unabsichtlich feuchter Ansprache begegnet. Oder gibt nur ein betontes „Sein … Schädel“ von sich gibt, als er den Totenschädel seines Vater in den Händen hält und das Publikum die Seinsfrage erwartet. Er wandert auf einem schmalen Grad zwischen Komik und Tragik, rutscht aber nicht ab. Er gesteht sich keine Fehler ein, ist hochkonzentriert. Ein selbst in aller Zerrissenheit kontrollierter Hamlet. Seinen schauspielerischen Höhepunkt findet Christian Friedel, als sich Hamlet längst tot in einer Art Unterwelt wiederfindet. Unter der riesigen Kuppel des Staatsschauspiel richtet der dänische Prinz allein über die Duell- und Sterbeszene. Dabei schlüpft er in die Rolle der Königin Gertrud, des Königs Claudius und Laertes, Sohn des königlichen Beraters Polonius und Bruder Ophelias. Und überzeugt.

Wenn Hamlet mehr ist als nur Hamlet

Zurück zum Anfang: Hamlet liegt auf den dreckigen Bühnenbrettern und trauert um seinen Vater. Das Publikum lacht. Der Vlad-Chiriac-Hamlet hat es nicht leicht. Er verkörpert nicht nur den Hamlet, sondern spielt noch Guildenstern, Laertes und Fortinbras, den Prinz von Norwegen. Das heißt, runter von der Bühne, den Hamlet mitsamt seines gespielten Wahnsinns abstreifen und mit dem neuen Gewand eine andere Rolle anziehen. Und das in rasender Geschwindigkeit. Nur zwei Schauspieler und einer Schauspielerin bespielen die Bühne. Aus diesem Grund ist der Inhalt sehr verdichtet. Das Bühnenbild schlicht: ein paar Bühnenbretter, ein karger Holzthron verziert mit zwei Schwertern, eine übergroße Dänemarkflagge im Hintergrund und auf dem Programmzettel das Shakespeare-Zitat „MEHR INHALT, WENIGER KUNST“. Aber wie der Christian-Friedel-Hamlet ist auch der Vlad-Chiriac-Hamlet auf den Punkt da. Das Timing stimmt. Und was besonders auffällt: Er hat Präsenz. Da bedarf es keiner großen Bewegungen. Oftmals steht er einfach nur da und lässt Wut, Trauer und Wahnsinn durch seine Augen und Stimme sprechen. Aber Vlad Chiriac hat es nicht leicht. Sein Publikum fordert mehr Witz, so wie sie es aus den Shakespears-Stücken des Monbijou Theaters kennen. Regisseur und Regisseurin wussten wohl im Vorfeld von der Problematik. Haben Extraszenen eingebaut, diese überzeichnet – fast schon zu albern –, beziehen das Publikum mit ins Stück ein, um die Forderung nach Witz abzufangen. Nichtsdestotrotz ist die Unruhe zu spüren, wenn dem Publikum eine meist sehr kurze tragische Szene auf den kargen Holzbrettern geboten wird.

Wenn es keinen wahren Hamlet gibt

Christian Friedels Hamlet ist sauber, ein bisschen verschwitzt, aber sauber und kontrolliert. Das gesamte Stück ist auf eine breite Masse angelegt: ein bisschen Musik hier, ein bisschen Pomp da. Aber sein Hamlet ist groß. Er wächst von Minute zu Minute. Das Publikum kann dabei zusehen, wie der Prinz sich und seine Mitmenschen immer weiter in den Abgrund zieht. Das ist leider das, was Lars Eidinger fehlt. Sein Wahnsinn kennt keine Steigerung. Denn dieser ist von Anfang an ungebremst präsent. Wer Lars Eidinger will, bekommt Lars Eidinger. Manchmal in voller Dröhnung. Auch sein Hamlet ist groß, aber der dahinter stehende Schauspieler überheblich. So überheblich, dass man sich wünscht, jemand ginge auf die Bühne und wasche diesem mitsamt des Drecks die Überheblichkeit vom Leibe. Aber warum sollte man das tun, wenn das von ihm vorgeführte Publikum im Takt klatscht? Da wirkt das Schauspiel vom Monbijou Theater fast erholsam. Denn hier kann man den Schauspieler*innen nicht vorwerfen, sie wären arrogant oder das Stück zu pompös. Sie machen schlichtes Volkstheater, sind auf dem Boden geblieben und ihre Zuschauer wollen sie so sehen – mit ihrem Witz und ihrer Albernheit. Ja, Lars Eidinger, Christian Friedel und Vlad Chiriac haben wenig gemeinsam. Und doch wollen sie alle als Hamlet den Tod des Vaters rächen. Dabei vertreten sie unterschiedliche Ansätze. Drei Hamlets: einer, der in seinem Spiel das Publikum ignorieren muss; einer, der das Publikum in seinem Spiel kaum sieht und einer, der sein Publikum erziehen will. Und „[d]er Rest ist Schweigen.“