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Marijana Dokoza – Von Krieg und Frieden

Krieg – ein abstraktes Bild in modernen Wohlstandsstaaten. Dass vor nicht allzu langer Zeit ein grausamer Krieg ein europäisches Land beherrschte, ist vielen nicht bewusst. Zur bevorstehenden Veröffentlichung ihrer belletristischen Werke in verschiedenen Sprachen, erzählt Schriftstellerin und Journalistin Marijana Dokoza von schönen und schrecklichen Einflüssen auf ihre Arbeit.

Ein Gastinterview von Daniel Hadrović
übersetzt von Sandra Marelja Muić


Kürzlich hast du die deutschsprachige Literaturlandschaft mit deinem Roman „Die Stimme“, welcher beim Dittrich Verlag erschienen ist, betreten. Besteht für hiesige Fans die Hoffnung auf weitere Übersetzungen, da du bereits mehrere Werke erfolgreich in Kroatien veröffentlicht hast?

Selbstverständlich wird es auch Übersetzungen von meinen anderen Romanen, wie beispielsweise „Grijesi“, „Sünden“, geben. Dieser Roman gründet auf der wahren Geschichte einer Frau, die ihre Vergangenheit hinter sich lässt und ein neues Leben beginnen möchte, jedoch begreift, dass sie sich vor den Sünden der Vergangenheit nicht verstecken kann. Sie wird immer wieder in die Vergangenheit zurückversetzt. Um mit ihrem Leben weitermachen zu können, wird sie einiges aus der Vergangenheit in Ordnung bringen müssen. Neben „Sünden“ ist auch die Übersetzung von „Naranyas Weinen“ ins Englische geplant, wie auch die Übersetzung von „Das Spüren“ ins Italienische.

„Die Stimme“ ist ein teils in ein medizinisches Setting gesetzter Mystery-Roman, welcher der Hauptprotagonistin Kiara auch genügend Raum für ihre Herzensangelegenheiten einräumt. Obwohl die Geschichte flüssig zu lesen ist, bedienst du dich nicht der minimalistischen Narration, der sich viele Autor/innen moderner Unterhaltungsliteratur verschrieben haben. Kannst du benennen, worauf grundsätzlich dein Hauptaugenmerk beim Schreiben liegt?

„Die Stimme“ unterscheidet sich etwas von meinen anderen Romanen, in denen das Erzählen der Ereignisse und die Beschreibung der Figuren sehr betont sind. „Die Stimme“ versetzt den Leser aus der Realität in einen Zustand, in dem er nicht mehr sicher ist, ob es um Halluzinationen geht oder ob die Hauptfiguren das alles wirklich durchmachen. Ansonsten versuche ich den Lesern mit meiner Erzählweise und dem Figurendialog das Gefühl ein Teil der Handlung zu sein zu geben und die Möglichkeit, sich in die Rolle der Figuren zu versetzen.

Würdest du mir zustimmen, dass dein Roman, neben sanften Einflüssen aus dem kroatischen Kulturraum, auch einige klassisch slawische Motive aufweist? Der Rolle von alten weisen oder intriganten Frauen beispielsweise, welche Assoziationen zu Hexen erwecken könnten, begegnet man immer seltener, je weiter man sich von Osteuropa entfernt.

Ja, selbstverständlich kann man in manchen Situationen im Roman Eigenschaften der Frauen finden, die „ein bisschen Hexen“ sind und die in der kroatischen Kultur Wurzeln haben. Jedoch sehe ich bis zu einer gewissen Grenze nichts Verkehrtes darin. In jeder Kultur gibt es „Hexen“ die als Vorlage für viele interessante Geschichten dienen.

Es geschieht alles andere als vordergründig, aber durch die unterschiedlichen Bausteine des Plots wirkt es, als wolltest du die Infiltration unserer technisierten Lebenswelt durch folkloristische Elemente inszenieren. Spiegelt dieses Verfahren vielleicht einen Teil deiner eigenen Mentalität wider, die womöglich deinem Umzug nach Deutschland geschuldet ist? Ist darin eine Metapher für etwaiges Heimweh erkennbar?

Mein Umzug nach Deutschland hat sicherlich auf meine Einstellung Einfluss gehabt, was sich später auch auf mein Schreiben auswirkte. Womit der Mensch aufgewachsen ist und welche Erfahrungen er gesammelt hat, bleibt immer in ihm erhalten. Später baut man dieses mit neuen Erkenntnissen auf. Als ich nach Deutschland kam, lernte ich viel über verschiedene Kulturen und ihre Denkweisen, was mir die Möglichkeit gab, die eigene Kultur mit der fremden zu vergleichen oder das eigene Aufwachsen mit dem von jemanden aus einer anderen Kultur. Deutschland half mir auch auf meine Heimat anders zu schauen. Ich würde sogar sagen, meine Heimat mehr wahrzunehmen, vielleicht auch sie stärker zu spüren. Da, wo man zuhause ist, denkt man nicht viel darüber nach. Natürlich spiegelt sich das alles auch in meinem Schreiben wieder.

Lass uns bei deinem Geburtsort bleiben. Du bist in der Stadt Zadar geboren und aufgewachsen, welche im Zuge des Kroatienkrieges unter Beschuss stand. In deinem vorangegangenen Roman „Grijesi“ (Sünden), der nur auf Kroatisch erschienen ist, hast du das Thema Krieg aufgegriffen, aber nicht an deine eigene Biografie geknüpft, sondern an reale Erlebnisse einer Bekannten von dir, welche ebenfalls aus Zadar stammt. Das steht im starken Kontrast zu einem Mystery-Roman. Ist es dir ein Anliegen, „Grijesi“ auch deutschen Lesern irgendwann vorstellen zu können, oder richtet es sich an eine kroatische Zielgruppe, die konkrete Bezüge zu damaligen Ereignissen knüpfen kann?

Im Roman „Die Sünden“ gibt es keine Kriegsbeschreibungen, sondern einzelne Situationen, in denen sich die Frau, über die ich schreibe, befunden hat. Sie hat im Heimatkrieg ihren Verlobten verloren und sie verrät uns alles, was sie in der Kriegszeit durchgemacht hat. Es stimmt, „Sünden“ ist der pure Gegensatz zu „Die Stimme“. Sie ist die Lebensgeschichte einer Frau, mit der ich mich ein Jahr lang in Mainz getroffen hatte, da sie heute in Deutschland lebt. Sie erzählte mir über ihr Leben und ich übertrug die Geschichte aufs Papier. Ihre Geschichte ist sehr dramatisch, viele sagten mir, sie hätten geweint, als sie das gelesen haben. Sie ist nach Deutschland gekommen, um ihrer Vergangenheit zu entkommen, sie holte sie aber auch in Deutschland ein. Der Roman ist nicht bloß an eine kroatische Zielgruppe gerichtet, sondern an alle Lesergruppen. Der Ehemann der weiblichen Hauptfigur im Roman ist beispielsweise Deutscher. Dies ist vorrangig die Geschichte über eine durch ihre Vergangenheit traumatisierte Frau. Die Vergangenheit holte sie in Deutschland ein, obwohl sie jetzt in einer ganz anderen Gesellschaft lebt als vor dreißig Jahren.

Für deine kroatischen Fans dürfte irritierend sein, dass „Die Stimme“ ausschließlich in Deutsch erschienen ist – ist das richtig? Was sind die Gründe dafür, denn du hast das Manuskript in Kroatisch verfasst?

Ja, ich wurde oft gefragt, warum ich das Buch nicht zuerst in Kroatien veröffentlicht habe, obwohl ich „Die Stimme“ auf Kroatisch geschrieben habe. Ich habe das Manuskript einer angesehenen Buchkritikerin zum Lesen gegeben, sie war von der Handlung begeistert und riet mir, das Buch zuerst auf Deutsch erscheinen zu lassen, da der deutsche Markt viel größer ist als der kroatische und somit auch seine Möglichkeiten – und so fing alles an. Jetzt werde ich oft in Netzwerken gefragt, wann der Roman auf Kroatisch erscheinen wird, was sicherlich in absehbarer Zeit passiert. Zuerst werde ich mich aber auf das englische Sprachgebiet konzentrieren, da man mit einem Buch in englischer Auflage verschiedene Teile der Welt erreichen kann.

Du schreibst nicht nur Belletristik, sondern arbeitest als Journalistin für die größte seriöse kroatische Zeitungen „Večernji list“. Außerdem bist du Chefredakteurin des Wochenmagazins „Fenix“. Hatten dich die Kriegsjahre bei deiner Berufswahl beeinflusst?

Den größten Einfluss hatte mein Vater auf mich, der für das Volksblatt gearbeitet hatte. Das Volksblatt, welches in Zadar herausgegeben wird, ist die älteste aktive Zeitung in Europa. Ich bin mit Zeitungen und Büchern, die er immer wieder nach Hause brachte, aufgewachsen. Darunter befand sich sogar deutsche Literatur. Hedwig Corths-Mahler ist beispielsweise eine deutsche Autorin, deren Bücher ich alle gelesen habe, als ich noch ein kleines Mädchen war.

Ich war dreizehn, als der Heimatkrieg begann, und lebte im Dorf, welches nur einige Minuten von Škabrnja entfernt war. Škabrnja ist der Ort, in dem man massenweise die Bewohner geschlachtet hatte. Am Tag, als die serbische Armee in Škabrnja eingedrungen ist, befand ich mich im Hof meines Hauses und wusste nicht, wohin ich flüchten sollte. Es entstand eine große Panik und die Menschen flüchteten, schrien, ich werde den Tag nie vergessen. Später befand ich mich als Flüchtling mit einem Mädchen zusammen, die in einem Schulaufsatz beschrieben hatte, wie sie aus Borovo Selo geflohen war und wie sie sich von ihrem Vater, den sie nie wieder gesehen hatte, verabschiedete. Sie lebt heute auch in Deutschland. Wenn es diesen Krieg nicht gegeben hätte, wäre vielleicht auch mein Werdegang ganz anders. Niemand weiß, was ihm das Schicksal bringen wird. Diese Kriegssituationen, in denen ich mich selber gefunden hatte, erleichterten mir die Gefühlsbeschreibungen der Hauptfigur von „Sünden“, so hatte ich selbst mehr Einfühlungsvermögen. Ich wusste jedoch von klein auf, dass ich keinen „normalen Beruf“ will.

Mir las keiner eine Gute-Nacht-Geschichte vor, das tat ich selber. Wenn ich mich zum Schlafen legte, dachte ich mir verschiedene Szenarien und Geschichten aus und schlief so leichter ein. Journalismus und Literatur sind zwei große Lieben von mir, die sich verflechten. Ich bin stolz, heute Chefredakteurin von „Fenix“ zu sein. Wenn wir über aktuelle Ereignisse berichten, die von Krieg handeln, behandeln wir die Informationen wahrhaftig, objektiv und wahrheitsgetreu. Was passiert ist, muss man auch in Erinnerung behalten, damit es nie wieder geschieht. Das bedeutet aber keinesfalls, dass man Kinder bzw. die folgenden Generationen zum Hass gegen andere erziehen soll. Ganz im Gegenteil, man sollte ihnen beibringen, niemanden aufgrund seiner Nationalität, seiner Religion oder seiner politischen Ansicht zu hassen, damit sich nie wieder ein Krieg wiederholt. Mich hat mein Vater gelehrt, dass man immer das Seinige lieben und das Fremde respektieren sollte. Wenn sich alle daran halten würden, gäbe es viel weniger Probleme.

Über deinen beruflichen Werdegang kann man noch mehr erfahren, wenn man recherchiert, aber zu deinem Privatleben findet man sehr wenig. Andere Autorinnen suggerieren mit detaillierten Informationen zu ihrem Privatleben eine Verbindung zu potentiellen Konsumenten. Wie ist deine Haltung dazu?

Ich bin der Meinung, dass Privates privat bleiben soll, deswegen verwendet man auch den Begriff „Privatperson“. Es gibt Menschen, die es lieben, im Privatleben anderer rumzuschnüffeln. In meinen Romanen gibt es auch Teile von mir als Privatperson, aber das können nur diejenigen erkennen, die mich gut kennen. Ich glaube, dass alle Schriftsteller zu einem gewissen Teil in ihre Romane etwas von sich einfließen lassen, aber eigentlich sind introvertierte Menschen für andere viel interessanter als diejenigen, die zu viel von sich preisgeben.

Du bist als Journalistin rund um die Uhr mit allen möglichen Themen aus dem aktuellen Weltgeschehen versorgt. Zeichnet sich schon ab, welche Einflüsse und Ideen in dein nächstes Buchprojekt einfließen könnten?

Als Journalist lernt man Menschen kennen, die eine solche Lebensgeschichte haben, dass man eigentlich gar keine Phantasie zu haben braucht, man braucht ihnen nur zuzuhören. Genau wie ich dem realen Vorbild für „Sünden“ zugehört habe. Ein anderes Mal lernte ich für ein Zeitungsinterview eine Frau kennen, deren Lebensgeschichte eine neue Romanvorlage ausgezeichnet wäre. Sie ist achtmal dem Tod entgangen. Ihr passierten unglaubliche Dinge im Leben und aus diesem Grund sagt sie heute, dass sie glaubt, jederzeit wieder einer Gefahr begegnen zu können. Mit Ihr werde ich mich Ende Dezember treffen und dann werden wir sehen, in welche Richtung diese Zusammenarbeit uns bringen wird.

Auf welchen Online-Plattformen kann man dir folgen und in Erfahrung bringen, wo man dir live begegnen und Lesungen von dir besuchen kann?

Meine Bücher kann man im Buchhandel und auch über Amazon, www.booklooker.de sowie in anderen Online-Büchereien bestellen. Ich bin auch auf Facebook, Instagram und Twitter zu finden.

Der Winter steht vor der Tür. Erzähle zum Abschluss doch bitte, wie und wo du die Feiertage verbringen wirst.

Ich werde drei Wochen mit meiner Familie in Zadar verbringen und dazwischen einen Leseabend in Bosnien und Herzegowina haben. Die Winterfeiertage werde ich sowohl zur Erholung als auch für die Arbeit nutzen.

Vielen Dank, für die Einblicke in deine Arbeiten! Auf ein baldiges Wiedersehen!

Vielen Dank für das angenehme Gespräch.


Daniel Hadrović ist als Autor und Filmemacher aktiv. Seine kleinen Independent-Produktionen tragen surreale und gesellschaftskritische Züge.

Der reaktionäre Blick auf 100 Jahre Krieg

Während Deutschland noch im Taumel des Jubiläums der Russischen Revolution ist und damit endlich das Reformationsjahr hinter sich lassen kann, dreht der Historiker Gregor Schöllgen die Erinnerungsdebatte schon weiter. Denn er sieht sich in seinem Buch Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte, ausgehend von Russland 1917, die vergangenen 100 Jahre Weltgeschichte an – und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine Geschichte der Kriege auf globaler Ebene handelt. Leider hat sein Sachbuch an sonstigen Erkenntnissen nicht viel zu bieten.


Schon sein Ausgangspunkt ist zweifelhaft und wirkt künstlich gewählt, um das Jubiläumsjahr der Revolution zu bedienen. Näherliegend wäre es für 100 Jahre Kriegsgeschichte den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 zu wählen, und selbst wenn man sich für 1917 entscheidet eher den Kriegseintritt der USA, denn die Russische Revolution zu wählen, betrachtet man doch gerne das 20. Jahrhundert als amerikanisches Jahrhundert. Doch Schöllgen muss antisowjetische Reflexe bedienen. Denn die Bolschewiki seien (wie auch der Vietkong) Putschisten gewesen, die mit ihrer Idee der gesamten Welt den Krieg erklärt hätten.

Abgesehen davon, dass er bewusst pejorative Begriffe wie Putsch für Revolutionen gebraucht, hat er scheinbar den Bedeutungsgehalt solcher Begriffe in seiner unsachlichen Abneigung missverstanden, da ein Putsch von einer Herrscherclique in der Minderheit ausgeführt wird, oder auch eine gescheiterte Revolution beschreibt. Beides ist, auch wenn die Bolschewiki de facto eine Minderheit waren, nicht der Fall gewesen. Darüber hinaus zeugt dies von einer ideengeschichtlichen Unkenntnis Schöllgens: Denn erstens erklärt der Sozialismus nicht der Welt, sondern „nur“ dem Kapitalismus den Kampf (es heißt Klassenkampf, nicht Klassenkrieg), und zweitens, unterscheidet der Autor nicht zwischen dem trotzkistischen Konzept der permanenten Revolution bis zur Weltrevolution und dem Stalinismus als Sozialismus in einem Lande, ohne globalen Anspruch.

Hitler dagegen wird von Schöllgen als Putschist (im Hinblick auf 1923 ist das korrekt) und Revolutionär bezeichnet (im Hinblick auf 1933 ist das falsch, da die nationale Revolution ein Mythos ist). Es wirkt mehr als bedenklich, wenn Schöllgen die Realitäten so verschiebt, und es zusätzlich für sicher hält, Stalin habe einen Präventivschlag gegen Nazideutschland geplant, natürlich ohne dass in der Monographie irgendein Beleg angeführt wird. Eine solche Verschiebung könnte man nicht nur als antirevolutionär, restaurativ und antisowjetisch klassifizieren, sondern auch als relativierend gegenüber den Verbrechen der Feinde der Sowjetunion. Auch wenn Schöllgen sicherlich in Bezug auf Hitlerdeutschland nicht darauf hinaus will, könnte dieser Verdacht durch seine verquere Argumentation entstehen.

Von dort aus geht Schöllgen bis zum Beginn des Kalten Krieges weitgehend chronologisch vor und subsummiert die Kriegsphasen unter vereinfachte Schlagworte. Zwischen den Erläuterungen zum Zweiten Weltkrieg und dem Beginn des Kalten Krieges jedoch wird sein Zugang systematischer; sprich, er geht einzelne Charakteristika des Kalten Krieges und der Phase danach, wie Wett- und Abrüsten, durch und arbeitet damit dekadenübergreifend. Diese Teilung in Chronologie und Systematik wirkt ebenfalls willkürlich gewählt und nimmt dem Buch die Übersichtlichkeit. So hat er etwa ein Kapitel zu ethnischen Säuberungen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verfasst, das aber eben nicht die Phase der Nachkriegszeit umfasst und daher unsystematisch wirkt. Die späteren Kapitel wirken dafür teilweise recht sprunghaft.

Doch auch für die Phase des Kalten Krieges hat Schöllgen einige reaktionäre Weisheiten zu bieten. So unterteilt er die Blöcke tatsächlich in den freiheitlichen Westen unter amerikanisch-britischer Kontrolle und der unterdrückerischen Sowjetunion, was den irrsinnigen Anschein erweckt, der Westen sei ein gelungenes und eben nicht repressives System. Diese Simplifizierung, die eines jeden Intelligenz beleidigen muss, führt Schöllgen aber rund 100 Seiten später selbst ad absurdum. Denn dann weist er auf dem parallel verlaufenden Nord-Süd-Konflikt hin und gibt zu, die USA hätten sich sowohl hier als auch im Ost-West-Konflikt dilettantisch, ignorant und arrogant verhalten. Inwiefern eine ignorante Imperialpolitik freiheitlich sein soll, beantwortet der Historiker nicht.

Dafür hat Schöllgen noch ein paar Binsen zur Implosion der Sowjetunion 1991 zu bieten. Denn sowohl diese Erniedrigung Russlands wie auch die im Ersten Weltkrieg seien eine Erklärung für die Politik Wladimir Putins, die dem Land das Selbstbewusstsein als Großmacht zurückgeben will. Abgesehen davon, dass Putin dieses kritikwürdige Versprechen hält, handelt es sich dabei nicht gerade um eine tiefsinnige Erkenntnis, wegen der man Schöllgens Buch zu lesen bräuchte. Ähnlich verhält es sich bei den letzten Kapiteln zu Terrorismus und Flüchtlingen. Aufgrund des summarischen Charakters vieler Kapitel, fällt es schwer, mehr als nur eine Aneinanderreihung von Fakten zu erkennen – und dafür wäre jedes Lexikon oder Handbuch fruchtbarer.

Man gewinnt kaum Neues aus Schöllgens Buch, außer bekannter Daten und Banalitäten, wie der ausgelutschten These, die Nachkriegsphase sei in einen Dritten Weltkrieg gemündet, wegen globaler Krisen, Stellvertreterkriegen und dem globalen War on Terror etc. Und selbst wenn das noch als überschaubare Sammlung oder Einführung in die Weltgeschichte der vergangenen 100 Jahre fungieren könnte, so machen Schöllgens Ressentiments gegen alles Soziale oder Sozialistische Krieg nur zu einer Hassrede, voller reaktionärer Klassifizierungen. Vielleicht sollte sich Gregor Schöllgen wieder von der internationalen Politik abwenden, jetzt da er emeritiert ist, und sich abermals mit dem beschäftigen, was er die letzten Jahre gemacht hat: sehr wohlwollende Portraits deutscher Firmen schreiben oder eine Biographie über irgendeinen Sozialdemokraten. In beiden Metiers war er weniger störend als auf dem Parkett der Weltgeschichte.


Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte erschien 2017 bei der Deutschen Verlagsanstalt in München, hat 368 Seiten und kostet 24 Euro.
Titelbild: © DVA / Verlagsgruppe Randomhouse