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Farbenfrohe Melancholie – Black Sea Dahu live in Berlin

Mit ihrem Album White Creatures haben sich Black Sea Dahu vom etwas zu geheimen Geheimtipp zur Indie-Band der Stunde gemausert. Live entführen sie uns auf ihre Insel. Wie zum Beispiel am 10. Februar in der Kantine am Berghain.


Schon erstaunlich, was eine Namensänderung bewirken kann. Nicht, dass die Schweizer Band Black Sea Dahu, als sie noch JOSH hießen, keine gute Musik gemacht hätten. Aber von der haben nicht viele etwas mitbekommen. Und ihr neues Album White Creatures, das gleichzeitig Debüt von Black Sea Dahu und Album Nummer drei der daran beteiligten Musiker٭innen um Sängerin und Songwriterin Janine Cathrein ist, ist eindeutig das Beste. Was nicht daran liegt, dass sie plötzlich aus dem Nichts Gesang und Instrumente beherrschen oder der Marktstrategie eines großen Labels folgen. Sondern, dass die Band sich etwas zugetraut hat, sich Zeit genommen und Raum geschaffen hat, um ihre künstlerische Sphäre gemeinsam auszuloten und ein für allemal festzuhalten.

Black Sea Dahu im Nordmeer

Noch als JOSH starteten sie ein Crowfunding, um sich für die Aufnahmen auf eine einsame norwegische Insel zurückziehen zu können. Dort angekommen verbrachten sie intensive Tage voller Aufnahmesession, in denen sie hinsichtlich Arrangement und Produktion gemeinsam, das kann man sagen, wirklich alles aus den mitgenommenen Songs herausholten, was sich herausholen ließ. Und zurück kamen sie farbenfroh: als Black Sea Dahu mit White Creatures im Gepäck, das nun beim Berner Independent Label Mouthwatering Records erschien.

Und plötzlich brauchen sie sich keine Wohnmobil-DIY-Touren mehr selbst zu organisieren, sondern nehmen einfach die Konzerte der für sie gebuchten Europa-Tour wahr. Das Beste aber: Ihre Live-Performance schöpft unmittelbar aus den intensiven Sessions. Und das Publikum wird einfach unverhohlen mit auf die abgeschiedene, norwegische Insel mitgenommen, die ihnen zum perfekten Zusammenspiel verholfen hat. Der Plan ist also ganz gut aufgegangen.

Zwischen Singer-Songwriter, Country, Folk und Jazz

Ihre erfrischende genre-technische Unentschlossenheit und eine gewisse Grundspannung, die sich durchs gesamte Set zieht, unterstützen die Kurzweiligkeit ihrer Live-Performance. Sodass ihre Show in der Kantine am Berghain trotz holpriger (aber sympathischer (aber holpriger)) Ansagen, zur runden Sache wurde. Im weichen, zeitlos jazzigen Sound, der Welten vom Mainstream entfernt zu sein scheint, liegt ein breites Spannungsfeld, das gemeinsam erforscht wird. Bei Songs, die eher in eine Country-Richtung ausschlagen, wie zum Beispiel In Case I Fall For You, erinnert ihre Musik manchmal ein wenig an Bands wie Lola March, wenn auch melancholischer. Und dann wieder an überhaupt niemanden.

Quelle: YouTube

Denn unterm Strich werden die sehr vielseitigen Kompositionen und Dynamiken des Albums durch einen der Band ureigenen Sound verbunden. Die tiefe, durchdringende Stimme von Janine Cathrein wirft einen Anker in die Musik, der auch stürmischer See standhält. Immer wieder ziehen sich die Songs auf ihren ungewöhnlichen, unaufgeregten Gesang und ihr Gitarrenspiel zurück und denen sich auf die sechsköpfige Band und mehrstimmigen Gesang aus.

Viel Aussagekraft für ihre Musik hat etwa der Song Pure, dem man noch anmerkt, dass er um ein Gefühl herum entstanden ist, das sich zunächst im persönlichen Songtext niederschlug. Der Song, der auch in schlichter Singer-Songwriter-Bearbeitung funktionieren würde, wird mit aller gebotenen Vorsicht andächtig mehrstimmig getragen. Instrumental hebt die Band dabei die rhythmisch extrem feine Dynamik aus der Gitarrenspur heraus und entfaltet sie so weit, bis aus der verträumten Komposition ein voluminöser Folksong wird. Der Wirkung des Songs scheinen Black Sea Dahu sich durchaus bewusst zu sein. Nicht umsonst fand er in der Kantine am Berghain Einsatz als Eröffnungssong. Er ist die Fähre zur Insel.

Quelle: YouTube

Weiterlesen-Tipp:

Wikipedia: Das Schweizer Fabelwesen „Dahu“.


Black Sea Dahu sind noch eine Weile live unterwegs. Ihr Album White Creatures erschien am 12. Oktober 2018 bei Mouthwatering Records.

Titelbild: © Black Sea Dahu

Goodbye HIM: A bittersweet End

HIM Abschiedstournee

Nach 26 Jahren Bandgeschichte lösen sich HIM auf. Sie verabschieden sich mit einer letzten Tournee von ihren Fans auf der ganzen Welt. Die Konzerte in Berlin und Leipzig habe ich mir mal angesehen.


„HIM? Was, der macht noch Musik?“ So reagierten die meisten meiner Freunde, auf meine stolze Ankündigung, mir HIM noch ein letztes Mal live anzusehen. Sie meinen mit „der“ natürlich Ville Valo, Frontmann der finnischen LoveMetal-Könige HIM und Traum meiner Teenager-Nächte. Von Unwissenden oft immer noch mit der ganzen Band gleichgestellt.

Seit über 15 Jahren begleiten mich die romantisch-verklärten, düsteren Songs von H(is)I(nfernal)M(ajesty) und jetzt soll Schluss sein. Für immer. Einfach so. Nach 26 Jahren, 8 Alben und zahllosen Auftritten, gab die Band das Ende bekannt und verabschiedet sich mit der Bang & Whimper Farewell Tour.

Your world is coming to it’s end – But you don’t have to be afraid – I’m here for you

Im März 2017 sagte Valo dazu:

„ After quarter of a century of Love and Metal intertwined we sincerely feel HIM has run its unnatural course and adieus must be said in order to make way for sights, scents and sounds yet unexplored. We completed the pattern, solved the puzzle and turned the key. Thank you.“

Die „gesellschaftliche Relevanz“ dieser Abschluss-Tournee ließe sich darin erkennen, dass sie einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat. Von Juni bis Dezember 2017 lieferten HIM noch mal eben über 50 Konzerte ab und bringen ihre Bandgeschichte am 31.12.17 in Helsinki auf ihrem jährlichen Silvester-Spektakel Helldone endgültig zum Abschluss.

Zunächst natürlich ein Schock (für mich)! Auf den zweiten Blick, ein weiterer Schritt in die Erwachsenen-Welt: Die (Anti-)Helden meiner Jugend sterben einer nach dem anderen weg, viele Bands haben sich längst aufgelöst und eine Zahnzusatzversicherung habe ich auch schon abgeschlossen. Die Welt dreht sich halt weiter, egal wie schön es gestern war und es ist auch nicht jedermanns Sache mit 40+ noch auf der Bühne abzudancen.

Dabei ist es schon länger ruhig geworden um HIM. 2015 war Schlagzeuger Gas Lipstick ausgestiegen. Die anderen Bandmitglieder widmeten sich stärker ihren Seiten- oder Soloprojekten, wie Daniel Lioneye. “We felt like there was nothing left to give collectively.”, so Valo.

Kaum ist das Statement draußen, sind trotzdem schon die meisten Auftritte ausverkauft. Natürlich war ich schlau genug, mir zumindest Karten für Berlin und Leipzig zu sichern. HIM sind mit über 10 Millionen verkauften Alben immerhin eine der erfolgreichsten finnischen Bands aller Zeiten. Dabei war der Anfang in den 90ern gar nicht so einfach. 1991 gegründet, dann doch wieder aufgelöst, wieder zusammen gerappelt, den Namen öfters Mal geändert. In den USA werden HIM zum Beispiel immer noch als HER gelistet. Und auch wer welchen Part innerhalb der Band übernehmen sollte, war lange nicht klar. Doch was lange währt, wurde endlich gut. Mit Wehmut denke ich da zurück an „Wicked Game“. Das wunderbare Cover des wunderbaren Chris Isaak, das HIM 1996 erstmals internationale Aufmerksamkeit bescherte. Oder an „Join me in Death“, das dann 1999 den Durchbruch in Deutschland brachte; Platz 1 der Singlecharts – das Lied sagt sicherlich noch heute jedem (den meisten?) etwas.

 

1998 kam bereits das Debüt „Greatest Lovesongs Vol. 666“ auf den Markt und machte Metal salonfähig. In Finnland brachte die Platte Gold, darüber hinaus stieß sie eher bei langhaarigen Metallern – und deren Freundinnen – auf Gehör. Hört man sich die Songs aus dieser Zeit, oder auch die Demos aus den Jahren davor nochmal an, kann man feststellen, dass die Finnen sehr viel düsterer und härter anfingen und dann über Goth Rock schließlich LoveMetal entwickelten. Passend zum Genre wurde das Heartagram (Eine Kombination aus Herz und Pentagramm) entworfen. Dass Viele ein ganz anders Bild von HIM vor Augen haben, liegt vermutlich an Ville Valo und seiner Stilisierung – in Kombination mit den sehr weich gewaschenen späteren Alben.

The fire in her eyes grew dim and then died

Blutenden Herzens stand ich also am vergangen Freitag in der Schlange vor der Columbiahalle Berlin und musste feststellen, dass eine Abschiedstournee offensichtlich jede verkümmerte Spießerin, die vor 20 Jahren mal in Ville Valo verliebt war, raus lockt. Die Masse der Fans verband dort eigentlich nichts, abgesehen von der Tatsache, dass man in Jugendzeiten vielleicht mal ähnliche Musik hörte. So ist es nicht verwunderlich, dass es auf dem Konzert zu Rumgeschubse und Pöbeleien kam. Und zwar nicht, weil alle in der ersten Reihe stehen wollen, sondern weil so manch einer den Abend mittlerweile lieber auf dem heimischen Sofa verbringt und vergessen hat, dass es auf Veranstaltungen wie Konzerten auch mal lebendiger zugehen kann. Vielleicht hatte mich aber auch die Ankündigung „This wasn’t a night to be sad, but one to celebrate the music one last time. “ des Bassisten Migé Amour ein wenig zu naiv-positiv gestimmt. Zum Glück sollte das Konzert in Leipzig besser werden…

I’m your Christ and I want you

HIM war immer schon eine Band, die etwas hinter ihrem Frontmann verschwand. Dabei sind ihre Mitglieder fähige und rotzcoole Musiker. Lily Lazer aka Linde ist beispielsweise Frontmann der (Alternative) Metal-Band Daniel Lioneye und war in dieser Form schon Support von Cradle of Filth. Aber an Ville Valo kamen sie unter HIM nicht vorbei. Und das, obwohl er zu Beginn der HIM-Saga dazu überredet werden musste, den Sänger zu geben und auch das Texte-Schreiben übernahm er eher unfreiwillig, da sonst einfach keiner die nötige Motivation aufbringen konnte. Dass er dann schnell zum Mädchenschwarm und Gesicht der Band avancierte, ist wohl eine logische Folge aus so viel Charisma, dieser Stimme und den teilweise fast triefenden Texten.

Einerseits ist dieser Umstand der Reduktion auf Mädchen-Kuschelrock schade, da die (teilweise wirklich gute) Musik der Finnen so oftmals verkannt wurde. Andererseits brachte er einen Erfolg, den sicher keine Band missen wollen würde.

Kein Wunder also, dass das Publikum auf den Konzerten auch größtenteils weiblich war. Bei den Männern fiel ein gewisser Anteil an sympathischen Ville-Verschnitten, ins Auge, mit Kajal und Mütze. Bei dem Leipziger Auftritt waren wirklich viele Menschen mit HIM- und Heartagram-Tattoos anwesend, was darauf schließen lässt, dass die Texte und Songs der Band für viele eine große Bedeutung hatten oder haben. Es geht da nicht um einfache Schwärmerei, sondern um eine Art Lebensgefühl, ja Ideologie. Ein romantisch-melancholischer Liebesfilm auf einem verwitterten Friedhof. Und am Ende reicht es vermutlich vollkommen, dass man sich untereinander erkennt. Auch wenn die Außenwelt darüber lächeln mag.

Nach einer eher belanglosen Vorband – The Biters – spielten HIM ganze zwei Stunden ihre großen und kleineren Hits. Natürlich routiniert und professionell, dennoch merkte man den Musikern an, dass sie Spaß hatten. Zur Einstimmung gab es erstmal „Your Sweet 666“ vom Debütalbum und anschließend laut und energiegeladen alles über „Wings of a Butterfly“, „Right here in my Arms“, „Funeral of Hearts“ und natürlich „Join me in Death“.

HIM Abschiedstournee 2

Leider war der Sound im patschuli-geschwängerten Konzert-Haus in Leipzig nicht sonderlich gut und dann vergaß Ville auch den Text von „Gone with the Sin“. Mit Hilfe der Fans und seinem gewohnt trockenen Humor war das aber alles gar nicht schlimm und der Auftritt am Ende doch sehens- und vor allem hörenswert!

Die einzige Bühnendeko war ein riesiges Stahl-Heartagram, ansonsten gab es eine bunte Lichtshow, die ganz nett, aber sicher nichts Spektakuläres war. Aber wozu auch? Den Fans reichte dann doch die Musik. Einzelne hatten sich wirklich Mühe gegeben und hielten Ballons mit aufgemaltem Heartagram und Schilder mit Dankesschriften in die Luft. Ville sah öfters mal ins Publikum und reagierte wahrhaftig mit Salutieren und zuckersüßem Lächeln! Sogar Knicklichter wurden von einem engagierten Groupie verteilt, um bei „Tears on Tape“ ein blaues Meer aus Tränen im Zuschauerraum zu erschaffen. Hach!

Natürlich lässt sich so ein Auftritt nicht mit alten HIM-Konzerten vergleichen, bei denen Ville eine Kippe nach der anderen rauchend seine Show ablieferte. Aber für einen Abschluss war es ok.

HIM Abschiedstournee 3

In 777 ways I love you ´til death do us part

Man will sich doch verabschieden bevor jemand endgültig geht. Während das im echten Leben leider oft nicht klappt, haben HIM uns hier die Möglichkeit dazu gegeben. Und dafür waren die Fans fast so dankbar, wie für all die Songs, die ihnen aus dem Herzen sprachen.

Zugabe war dann ganz passend, als letzter Song ever „When Love and Death Embrace“ und eher undramatisch, ließ Ville das Mikro einfach fallen und ging von der Bühne. Das war’s. Das mit dem „This wasn’t a night to be sad, but one to celebrate the music one last time. “ stimmte auch für die Zeit während des Konzerts, doch nachdem endgültig der letzte Klang verhallt war, sahen all die ZuschauerInnen doch eher traurig und verloren aus.

Aber sind wir doch mal ehrlich, was ändert das jetzt? Für mich persönlich eigentlich wenig. Das Heartagram auf meinem Zeigefinger bleibt für immer und die Musik kann ich weiterhin hören wann immer ich möchte. Ok, es wird wohl nix Neues mehr geben…aber dafür muss ich mich auch nie wieder von „HIM-Fans“ zurechtweisen lassen. Außerdem kann man wohl auf eine Art „Best-Of“ hoffen. Vielleicht stimmt ja sogar das Gerücht, dass es noch ein paar niemals veröffentlichte Geheimsongs gibt. Mit dem Gedanken tut HIMs Ende dann auch gar nicht mehr so weh.

P.S.: VILLE, I LOVE YOU!!!!!

Tides from Nebula – Sternennebel im Urban Spree

Polens Nummer 1 in Sachen Post-Rock lockte die Berliner ins Urban Spree und zeigte was sie kann. Aber auch, woran es fehlt.


Tides from Nebula, Urban Spree, 17. Mai 2017

Obgleich die Sonne sich endlich auch auf den Sommer eingelassen zu haben schien, war eine ganze Menge Menschen in der letzten Woche gern bereit, den lauen Berliner Abend noch etwas warten zu lassen und sich ins dunkle Urban Spree zu verkriechen, um dort den melodischen, teils melancholischen Klängen der polnischen Post-Rock-Helden Tides from Nebula zu lauschen.

So ziemlich genau vor einem Jahr präsentierte das Quartett aus Warschau – damals leider als Trio – auf dem RAW-Gelände sein viertes Album, Safehaven, welches in kompletter Eigenregie aufgenommen werden konnte, weil im band-eigenen Studio. Thisquietarmy hatte das Publikum letztes Jahr auf eher experimentelle Weise eingestimmt, dieses Mal hatten Tides from Nebula den ganzen Abend für sich allein; so gab es am Ende sogar zwei Zugaben! Und das Konzert war dann auch wie das „neue“ Album: Solide, ohne viel Klimbim, keine lange Stimmen-Samples oder atmosphärische Pausen. Das Publikum hörte gespannt zu und wurde weder von großen Licht-Effekten (wobei es schon ein bisschen Blinken und Glitzern gab), noch von langen Ansagen abgelenkt. Stand überhaupt ein Micro auf der Bühne?

Dafür gab es viele eingängige und schöne Melodien, denen Keyboard und Gitarre ihre prominenten Rollen zu verdanken hatten und die manchmal fast an maybeshewill erinnerten. Was nicht heißen soll, dass es den Songs an Druck oder sich steigernden „Gitarren-Ausbrüchen“ fehlte, doch macht die Band ihrem Namen alle Ehre. Bei Songs wie „Home“ hat man zwischenzeitlich eher den Eindruck verträumt durch einen nebligen Wald zu gehen und schließlich in den schwarzen Nachthimmel zu blicken – düster-ish, aber voller funkelnder Sterne –, als in ein schönes Gewitter. „We are the mirror“ hingegen vereint dann, nach guter alter Post-Rock-Manier atmosphärische Ruhe-Phasen, mit Chaos und Gitarren-Loops. Simple Melodien steigern sich in den Songs zu einem musikalischen Höhepunkt, zu aggressiven Klanglandschaften, in denen der Zuhörer einfach nur noch dabei ist und nirgends anders, so wie Fans des Genres es gewöhnt sein mögen.

Quelle: YouTube

Und da liegt dann auch der Knackpunkt, sofern es denn einen gibt. Tides from Nebula machen die Musik, die von einer europäischen Post-Rock-Band heute erwartet wird. Dies machen sie auch wirklich gut, sowohl live als auch bei Aufnahmen legen sie höchsten Wert auf die Soundqualität. Das Einzige, was man bei ihnen aber wohl nicht finden wird, sind schwierige, unzugängliche oder auch andersartige, innovative Parts. Nicht umsonst wurde „Safehaven“ 2016 auf Platz 10 der besten Post-Rock-Veröffentlichungen des Jahres gewählt und eine Tour reiht sich an die nächste, wobei die Reichweite sich von Polen auf Europa und die Welt ausgeweitet hat. Läuft bei denen.

Tides from Nebula sind aber auch im wahrsten Sinne des Wortes eine Live-Band. Nicht nur, dass sie es irgendwie schaffen über die Musik (oder auch das Spielen im Zuschauer-Raum) aus Publikum und Band eine vereinte Menschenmenge zu machen, die Zuhörer also zu berühren, sie scheinen in den letzten Jahren auch nonstop auf der Bühne gestanden zu haben. Trotz der paar hundert Gigs, die sie mittlerweile auf dem Buckel haben, geht ihnen die Puste nicht aus. Sicherlich ist ihnen eine gewisse Routine anzumerken, dennoch bringen sie live eine Fülle von Emotionen und eine sehr positive Atmosphäre rüber. Der Song „Only with presence“ vom Vorgänger-Album „Eternal Movement“ ist sodann live mindestens so energiegeladen und unbeschwert-mitreißend wie man es vermuten würde, wenn man ihn mal „von Band“ gehört hat. Auch wenn die vier Polen onstage wie ernste Rocker scheinen, sind sie in Wirklichkeit äußerst freundliche, junge Menschen ohne jegliche Star-Allüren, die ihr Gepäck auch mal endlos durch die Nacht tragen und einem Bierchen mit Fans meist eher zugeneigt sind.

Also, solltet Ihr die Chance haben Tides from Nebula live zu sehen, tut es! Ihre Musik ist zum Tag- (und Nacht-)Träumen bestens geeignet und lohnt sich immer.

Superheroes, Ghostvillains + Stuff live. Notwist im Astra

Dass sie nicht nur eine der komplexesten Studiobands des Indie-Rock sind, sondern auch live seit Langem zu den Vielseitigsten zählen, macht Notwist zur Rarität. Nun bringt gerade ihr Live-Album sie in eine ungekannte Situation. Es macht sie erstmals berechenbar.


Was haben Max Punktezahl, Karl Ivar Rafseth, Cico Beck, Andi Haberl und Markus und Micha Acher gemeinsam? Allesamt sind sie Ausnahmemusiker, die in zahlreiche Projekte verstrickt sind. Und eines dieser Projekte ist bei allen jeweils seit Jahren glücklicherweise Notwist. Beim einen sind dies erst drei, beim anderen 28 Jahre. Doch es ist nur zu hoffen, dass bei allen noch zahlreiche folgen werden. Denn wer ihre Alben für vollendet hält, kennt ihre Konzerte noch nicht. Sänger Markus Acher sieht das wie folgt:

„Die Stücke sind ja zum Zeitpunkt einer Studio-Platte meist noch sehr neu, und nicht live gespielt. Und auch nur eine Momentaufnahme. Viele entwickeln ein Eigenleben und verändern sich sehr im Laufe der Jahre. […] Ich denke, manche Stücke haben erst nach einer langen Zeit ihre eigentliche Form gefunden.“

Markus Acher im Interview mit postmondän

Das Konzert am Sonntag im Astra nun war Teil einer kleinen Release-Tour für ihr im Herbst erschienenes Live-Album „Superheroes, Ghostvillains + Stuff“, die Zusatzshow zum Konzert im Lido am 6.11., das bereits nach kurzer Zeit ausverkauft war. Dass sie für diesen Zusatztermin erst drei Monate später Zeit fanden, spricht Bände darüber, in wievielen Töpfen die Bandmitglieder derzeit rühren. Doch ebendieser Umstand der späten Zusatzshow fasste das Konzert auch in einen sehr besonderen Rahmen. Denn er gewährte dem Publikum ausreichend Zeit, sich auf den Abend vorzubereiten. Was dieses erwarten konnte, ist bereits auf sechs Schallplattenseiten gepresst, die man nicht oft genug hören kann.

Dabei stehen Notwist doch eigentlich für Avantgarde, Progress und ständige Weiterentwicklung. Live bedeutete dies stets: das Aufbrechen von Kompositionen, die Beleuchtung einzelner Elemente aus immer neuen Richtungen. Dass sie über die Jahre immer mehr Stilelemente in ihre Musik aufnahmen und viele neue Richtungen gleichzeitig einzuschlagen schienen, machte sie nicht zuletzt zur unberechenbaren Liveband. Durch Ein- und Ausstiege verschiedener Musiker öffnete die Band sich ständig für das Neue. Doch darum ging es im Astra nun ausnahmsweise mal nicht, sondern um eine Präsentation der bereits eingefangenen Arrangements.

Wie diese sich nun wirklich live anfühlen, passt wiederum auf keine Platte. Zum einen sind da die ohnehin schon ausgefeilten Songs, in Versionen, die nun wirklich alles Vorstellbare aus diesen herausholen. Zum anderen die spürbare Leichtigkeit, in der sie vorgetragen werden. Ein virtuoses Verhältnis zu Dynamiken. Zur Perfektion präzise abgerufene Sounds und Effekte. Markus Acher, der seinen Gesang zwischendurch fast beiläufig live sampelt. Enthusiastische Musiker, die sich immer wieder in den Rausch der gemeinsamen Musik treiben lassen, ohne auch nur die Idee von Unkonzertriertheit zuzulassen. Die sechs völlig verschiedene Zugänge zur Musik haben und dennoch ein dichtes Zusammenspiel finden, obwohl sie sich gegenseitig größte Freiheit gewähren. Und gemeinsam alle Genres durchwandern, um dann doch wieder im Refrain von „Pilot“ zu landen. Und wieder. 13 Minuten und 13 Sekunden lang. Live wie auf Platte. Vor einem Publikum, das sich final nicht zwischen Tanzen und Staunen entscheiden kann.

Auch die Samples zwischen den Songs sind identisch zum Livealbum. Nur die Tracklist wird variiert und vor allem um alte Schätze erweitert. „Superheroes, Ghostvillains + Stuff“ ist ein Monument von Notwists Live-Kunst. Dass sie dieses zu allem Überfluss offensichtlich jederzeit aus dem Stand abrufen können, stellen sie jeden Abend ihrer laufenden Tour aufs Neue unter Beweis. Spannend wird sein, zu sehen, wie sie es anstellen, die Songs von deren „eigentlichen Formen“ aus, welche im Astra fraglos präsentiert wurden, in Zukunft wieder aufzubrechen und weiterzuentwickeln. Dass sie dies tun werden, steht mit Blick auf die Bandgeschichte fast außer Frage.

Und so laut, berauscht und tänzerisch es zwischenzeitlich wird, klingt die im Astra präsentierte Show am Ende der Zugabenreihe altbewährt mit „Consequence“ und „Gone Gone Gone“ andächtig und demütig aus, was einen bleibenden Eindruck manifestiert. Notwist-Konzerte gewähren ihrem Publikum eine kunstvolle und melancholische Perspektive der Welt, die noch für eine ganze Weile anhält. Could be enough, möchte man denken. If only we are pilots. Once a day.

Titelbild © Patrick Morarescu

Isolation Berlin – Großes Theater

Wenn Isolation Berlin auf die Bühne treten, sind sie und ihr Publikum gemeinsam einsam. Sie feiern Trostlosigkeit, Kälte und sich selbst. So auch am 17. Dezember 2016 im Columbia Theater Berlin.


Keine Frage, die Medien lieben sie. Weil sie keinem Trend folgen und doch den Zeitgeist treffen. Weil sie so traurig, schwermütig und tiefsinnig sind. Und weil sie das liefern, nach dem sich scheinbar alle gesehnt haben. Isolation Berlin haben in diesem Jahr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Von einigen werden sie als die deutsche Indie-Rock-Entdeckung 2016 gehandelt. Neben Bands wie Drangsal, Annenmaykantereit, Von wegen Lisbeth und Milliarden waren sie für den Preis für Popkultur in der Kategorie „Hoffnungsvolle Newcomer“ nominiert. Den Preis gab es nicht, aber weiterhin gute Presse. Rezensionen und Bandporträts lesen sich fast wie ihre Songtexte selber. Kritiker٭innen verlieren sich in bedeutungsschwangeren Formulierungen wie „trügerische Euphorie“, „eisige Abgründe“ oder „eine blutrote U-Bahnfahrt von leichtem Walzer bis zur Endstation im Lärm“ (s. Spiegel online und Intro), wenn sie ihren Sound beschreiben. Als hätten die Schreiber٭innen Angst, den vier Musikern und ihrer Botschaft nicht gerecht zu werden. Auch der Vergleich mit Bands wie Ton, Steine, Scherben oder Tocotronic verringert nicht den Druck, etwas ganz Großes in den vier Mittzwanzigern zu sehen.

Dann stehen sie am 17. Dezember 2016 – als Abschluss eines erfolgreichen Jahres – auf der Bühne des ausverkauften Columbia Theaters in Berlin. Kein großes Hallo, kein euphorisches „Guten Abend, Berlin!“ Eher unaufgeregt, ja fast nüchtern abgeklärt singt Tobias Bamborschke, als hätte er nie etwas anderes getan: „Ich bin ein Produkt. Ich will, dass ihr mich schluckt. Dass ihr mich konsumiert. Euch in mich verliert“. Dabei hebt er bühnensicher die Arme in die Höhe und deutet dann ins Publikum. „Ich will, dass ihr mich liebt. Und auch die ganze Welt. Ich lebe für Applaus. Bis der Vorhang fällt.“ Eine unmissverständliche Ansage an das Publikum. Und ein geschickter Zug des ehemaligen Schauspielstudenten: Wie entzieht man sich zu Beginn eines Konzerts jeglicher Kritik? Man geht in strenger Selbstreflexion mit sich selbst ins Gericht und schreit das Urteil heraus.

Quelle: YouTube, © berlinconcert

Ja, er ist das Produkt. Genauer gesagt ist er das Zentrum eines guten Produkts. Während er mit gewaltiger Bühnenpräsenz alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, werden seine drei Mitspieler zu Statisten. Die Band interagiert nicht. Alle wirken konzentriert, versunken in ihrem Sound. Auf der Bühne ist kaum Bewegung. Und Tobias Bamborschke? Er weiß, was er da tut. Und wenn er singt, dass es schwerfalle aufzustehen, wenn man nicht wisse wieso, glaubt man ihm. Schließlich unterstreicht er die Schwere durch seine kraftlose und monotone Artikulation. Aber die Gefühle, die Melancholie, Traurigkeit und Trostlosigkeit, die er in all den Rock-Chansons beschreibt, gingen dem Konzert voraus. Auf der Bühne spielt er seine Rolle. Die Gesten sind einstudiert, etwa wenn er singt: „Siehst du da die dicke Frau?“ und in die Leere zeigt, als stünde sie dort. Er tut es nicht zum ersten Mal. Nur einmal, glaubt man, ein nicht geplantes Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen: Nachdem ihm die Menge laut und textsicher „Der Schlachtensee ist lang. Und auch ohne dich ganz schön“ entgegensingt.

Isolation Berlin live im Columbia Theater Tobias Bamborschke live mit Isolation Berlin

Es ist nicht zu überhören: Isolation Berlin hat eine Fangemeinde. Sie kann jedes Wort mitsingen – ihres Debütalbums „Und aus den Wolken tropft die Zeit“ und sämtlicher EPs. Diese Fanschar umfasst nicht etwa nur Student٭innen Mitte zwanzig – auch wenn sie die Mehrheit bilden. Bis 50 Jahre ist alles dabei. Und sie feiern ihre Band, die nur wenig mit ihnen in Aktion tritt. Sehr kurze Ansagen kündigen ihnen an, was sie ohnehin nach den ersten Tönen erraten würden: den Titel des nächsten Liedes. Danach gibt es Jubelschreie und Applaus, wie zu Beginn gefordert. Den letzten Song widmet der Sänger dem wichtigsten Menschen in seinem Leben: sich selbst. Das sorgt für den ersten Lacher des Abends im Publikum. Die letzten Zugaben performt Isolation Berlin mit ihrer geliebten Vorband Der Ringer und dann fällt der Vorhang.

Ja, Isolation Berlin beherrschen ihr Handwerk. Sie wissen, wie sie einen grauen, dumpfen Schleier über ihre Zuhörer٭innen legen und es mitziehen – in besungene Abgründe, in Weltschmerz und Selbstmitleid. Aber das Konzept ist durchdacht, die Abgründe sind geplant. Trotzdem oder gerade deswegen scheinen sich viele in ihnen und ihren Songtexten wiederzufinden – die manchmal naiv mit vorhersagbaren Reimen gerade herauserzählt und manchmal mit Methaphern und Pathos überladen werden. Vielleicht ist es das, was den Kritiker٭innen so imponiert und sie zu ebenso bildlichen Umschreibung ihrer Musik verführt: die naive und gleichzeitig ausgewachsene Melancholie. Trotzdem sollte sich doch eine٭r dazu hinreißen lassen, Isolation Berlin einen Wikipedia-Artikel zu schreiben. Was ist denn das für ein Produkt ohne Wikipedia-Eintrag?

Isolation Berlin im Columbia Theater

Bilder: © Anna Stuhrmann und Katharina van Dülmen

Russian Circles – wider die Eingängigkeit

Brachial und ohrenzerschmetternd, harmonisch und melancholisch. Russian Circles, Post-Rock-Trio aus Chicago, erfüllen die Kriterien ihres Genres und trotzen dennoch dessen Stereotypen. Im Leipziger Conne Island präsentierten sie nun ihr neuestes Werk Guidance. Mit dabei: Helen Money und das Cello.


07.11.2016, Conne Island, Leipzig

Vor wenigen Wochen noch fand sich das Conne Island als nicht wegzudenkende Institution der Leipziger Kultur- und Politlandschaft mehr oder weniger freiwillig in den Schlagzeilen der großen Verlagshäuser des Landes wieder. An diesem Novemberabend sollte der politische Diskurs jedoch einmal in den Hintergrund rücken, um stattdessen instrumentellen und sinfonieartigen Klangwerken im Post-Rock-Format eine Bühne zu bieten.

Als Support betrat zunächst Helen Money die Bühne im nahezu ausverkauften Kulturzentrum in Connewitz. Die Instrumentalistin, die eigentlich Alison Chenley heißt und im kalifornischen Los Angeles beheimatet ist, kehrte zurück zur ursprünglichen Bedeutung des Terminus der Solokünstlerin. Lediglich mit ihrem Cello ausgestattet komplettierte sie ihre Bühnenpräsenz, dies jedoch mit einer solchen Wirkung, dass man eher dazu neigte, mindestens ein Quintett vor sich zu haben. Die klassisch studierte Cellistin nutzte die ganze Bandbreite ihres Instruments und ging sogar darüber hinaus. Angeschlossen an einen Verstärker machte sie die hervorgerufenen Rückkopplungen zu ihrer Kunst, indem sie das Cello in sämtliche Richtungen manövrierte. Mit einem kleinen Dankeschön überließ sie schließlich dem Hauptakt das Podest.

Der nannte sich an diesem Abend Russian Circles. Das Trio aus Chicago offenbarte sich klanglich als noch einnehmender und kommunikativ als noch weniger redselig – wie bei ihnen üblich, verloren sie während ihres Auftritts nicht ein einziges Wort. Damit taten sie niemandem im Publikum unrecht, knüpften sie doch auf diese Weise argumentativ an ihr instrumentelles Werk an. So hielten sie sich selbst im Hintergrund und waren aufgrund der Lichttechnik nur schemenhaft zu erkennen. Nur die Silhouetten zeigten Regungen, die sich gewissermaßen an diejenigen des Publikums anschlossen.

Quelle: YouTube

So spielten sie ihr Set herunter, das nicht unwesentliche Teile ihres im August veröffentlichten Longplayers Guidance beinhaltete. Dieser Spielplan hatte es jedoch in sich. Neben den harmonisch und teils melancholisch angeschlagenen Tönen waren es vor allem die brachialen Riffs sowie der dominante Einsatz der Drums von Dave Turncrantz (für den ein Ventilator essentiell zu sein scheint), die den Raum mit einer wahnsinnigen Lautstärke und überbordender Vibration auf links drehten. Ein nicht allzu schwerwiegend anzumerkender Kritikpunkt ist somit, dass das Conne Island für das Volumen der Russian Circles eventuell etwas zu klein geriet.

Kompositorisch bewegt sich die Band ohnehin in eigenen Gefilden. Angesichts der Tatsache, dass die Chicagoer ihre Herkunft in einem der Epizentren des Post-Rocks sehen dürfen, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, um aus der Menge hervorzustechen. Zwar definieren sie sich vor allem durch experimentelle Songs, die meistens die Sechs-Minuten-Grenze überschreiten. Ebenso verzichten sie auf einfache Stilmittel wie das Crescendo, das letztlich kathartisch in einer Explosion mündet, sodass die Strukturen unvorhersehbar bleiben. Dennoch müssen Russian Circles Alleinstellungsmerkmale zugutegehalten werden. Diese sind wohl am ehesten darin zu sehen, dass die Band sich nicht davor scheut, sich gleich mehrerer Stilrichtungen wie allen voran dem Metal und Post-Hardcore zu bedienen und mit ihren eigenen Interpretationen in Verbindung zu setzen. Diesen charakteristischen Weg, mit dem sie düstere und emotionale Erzählungen vertonen, verfolgen sie auch in ihrem nun sechsten Studioalbum. Und damit ließen sie die an diesem Abend anwesenden Zuhörer٭innen unisono mit gedämpften Trommelfellen und imponiertem Wohlwollen zurück.

Titelbild: © Chris Strong

„Wir sind Explosionen im Himmel!“

Eine eigentümliche Geste, den eigenen Bandnamen bei der Begrüßung des Publikums gleich mit zu übersetzen. Und eine besonders liebenswürdige, sollte es doch das Einzige bleiben, was Explosions in the Sky an diesem Abend auf der Bühne sagen. Der Rest ist Musik.


20.06.2016, Huxleys Neue Welt, Berlin

Den Anfang an diesem Abend im Huxleys machen Immanu El. Die 2004 gegründete schwedische Band um die beiden Zwillingsbrüder Claes und Per Strängberg geben mit ihrer angenehmen Mischung aus Post-Rock und Dream-Pop die perfekte Einstimmung auf die Hauptband. Nicht umsonst wurden die sympathischen Schweden bereits des Öfteren mit bekannten Größen aus der Szene verglichen, darunter die Bands Logh, Ef, Sigur Rós und eben auch Explosions in the Sky. Im Unterschied zur Hauptband jedoch, liegt ein besonderer Fokus von Immanun El auf dem Zusammenspiel der Musik mit dem Gesang. Deswegen kann zwischen den Liedern auch gerne mal mit dem Publikum gesprochen werden. Fast jedem Lied folgt ein freundliches Dankeschön. Doch während die Vorband singt und spricht, bleiben Explosions in the Sky – mit Ausnahme von ihrer Begrüßung – den Abend über stumm.

Explosions in the Sky, das sind Munaf Rayani, Mark Smith, Chris Hrasky und Michael James aus Austin, Texas. Die instrumentale Post-Rock Band gibt es bereits seit 1999. Ihr Debüt-Album How Strange, Innocence (2000) hatte mit nicht mehr als 300 CD-Rs nur eine kleine Auflage und erreichte damals nur wenige Menschen. Mittlerweile gehört die Band längst zu den bekannten der Szene und spätestens nach ihrem Auftritt in der Late Show with Stephen Colbert müsste man sie auch außerhalb der Szene kennen.

Quelle: YouTube

Wenn die Remastered-Version ihres Debüt-Albums, die 2005 veröffentlicht wurde, als eine Versöhnung mit ihren ersten musikalischen Experimenten angesehen werden kann, dann haben sich Explosions in the Sky auf ihrem gerade erschienenen neuen Album The Wilderness wohl ein stückweit neu erfunden. Die wohlbekannten und für die Band typischen Crescendos und Klimaxe wird man auch hier nicht vermissen. Doch da ist auch etwas Neues. Es hört sich an wie ein kontemplatives Horchen. Als würde Stille klingen. Dabei erinnern die elektronischen Parts ein wenig an Mark Smiths Nebenprojekt Eluvium. Die Musik auf diesem Album bewegt sich nicht mehr nur in eine Richtung, sie nimmt den Raum ein, breitet sich aus und verändert ihn.

Raumdeutung durch Musik – das bekommt man heute Abend im Huxleys in Berlin zu spüren. Die Halle ist gefüllt, um die eintausend Menschen stehen verteilt, auf den Tribünen an den Seiten, dem hinteren Balkon. Als die Band anfängt zu spielen, setzt sich die Masse in Bewegung. Erst zaghaft, einige nicken mit dem Kopf, während andere zu „The Wilderness“ den Fuß auf und ab bewegen. Die Band spielt einen Song nach dem anderen, ohne zwischen ihnen eine Pause einzulegen. Ein einziges Lied ensteht, eine Musik, die langsam in den Raum eindringt, die Menschen mitnimmt und sie dazu einlädt, sich selbst im Raum zu bewegen. Auf „The Ecstatics“ folgt „The Birth and Death of the Day“, folgt „With Tired Eyes, Tired Minds, Tired Souls, We Slept“. Je länger die Band spielt, desto mehr scheint das Publikum Teil der Musik zu werden. Selbst die Lichtshow der Scheinwerfer wird nicht auf die Bühne, sondern in den Zuschauerraum geworfen. Wer nicht gedankenversunken die Augen schließt, der bekommt Lichter zu sehen, die wie Aurora Borealis in immer neuen Farben den Raum verschwimmen lassen. Es wirkt ein bisschen so, als hätten Musik und Licht sich verbündet, um Löcher in Zeit und Raum zu reißen. Colors in Space.

Hinter der Welle aus Musik und Licht verschwindet die Band. Da sind keine Rockstarallüren, da ist keine Trennung von Musikern und Publikum. Da ist nur die Musik und da sind wir. Fast erscheint es schon symbolisch, als zu „Disintegration Anxiety“ Regenbogenfarben den gesamten Raum erleuchten. Mittlerweile spielt nicht mehr nur der Geigenbogen auf der Gitarre das Crescendo. Würde man die Szenerie auf stumm schalten, könnte man an den Körpern der Menschen die Musik ablesen. Es wundert nicht, dass Explosions in the Sky von Filmkomponisten so geschätzt werden. Am Ende spielt die Band „The Only Moment We Were Alone“. Der Titel dieses Liedes scheint ambivalent. Einerseits war dieser Abend ein sehr persönlicher, das Publikum in sich selbst versunken. Aber irgendwie war er auch ein Zusammen. Und deswegen gibt es am Ende doch noch etwas von den Menschen hinter den Instrumenten zu hören: ein Dankeschön.

Titelbild: © Julia-Luise Hüske

AnnenMay­Kantereit. Die neue Naivität

Komisch, wie schnell man sich an diesen merkwürdigen Bandnamen gewöhnt hat. Aber AnnenMayKantereit geben in der Popkultur momentan nunmal den Takt an. Etwas machen sie richtig. Warum steht bei ihren aktuellen Konzerten dennoch so viel auf dem Spiel? Und wenn sie sich ihre eigene Nische geschaffen haben – warum gelingt es ihnen immer weniger, sie auszufüllen?


Freitag im Tempodrom

Der rote T3-Bulli, mit dem sie schon so viele Konzertreisen bestritten haben, muss im Moment viel hin- und herfahren, wenn er allein die aktuelle Tour von AnnenMayKantereit meistern muss. Da wollen plötzlich so große Hallen wie das Kölner Palladium, der Ringlokschuppen in Bielefeld oder die Hamburger Große Freiheit 36 beschallt und beleuchtet werden, dass man nur hoffen kann, er hat hochtourige Unterstützung. Am Freitag gaben die Herren aus Köln den ersten ihrer bislang drei angekündigten Berlin-Auftritte dieses Jahres, und bespielten erstmals das Tempodrom. Und obwohl das Konzert – wie alle anderen angekündigten Konzerte – innerhalb kürzester Zeit ausverkauft war, war es für AnnenMayKantereit ein Wagnis, dort aufzutreten. Denn mit Klubs oder Straßenshows hat die Atmosphäre in der Winterresidenz des Circus Roncalli nicht mehr viel zu tun.

Eine Veränderung der Räume verändert die Ansprüche an ein Konzert und zwingt Bands, sich neu zu erfinden, Shows zu entwickeln – ein Anspruch, dem AnnenMayKantereit mit Trotz begegnen und den zu erfüllen sie gar keine Zeit haben. Denn den Sprung vom Lido oder SO36 haben schon einige Bands geschafft, aber nicht in diesem Tempo. Der Auftritt im SO36 war erst im September, dazwischen lagen diverse Fernsehauftritte und eine Zirkuszelt-Tour. Und das nächste Konzert im Tempodrom ist auch schon im Mai. Der momentane Hype um die Kölner Band ist ohne Frage beispiellos. Seit Kurzem ist dann auch noch das heiß ersehnte Album Alles Nix Konkretes draußen, und kleinere Läden zu bespielen, ergibt ja irgendwie keinen Sinn, wenn man auch die großen vollkriegt. Warum AnnenMayKantereit am 1. April 2016 auf der Bühne des Tempodroms stehen, ist völlig klar. Weil sie’s können. Interessanter ist doch die Frage, warum alle anderen da sind?

Warum dieser Hype?

Denn wären AnnenMayKantereit bloß eine kitschige kleine Teenie-Popband, auf die sie einige Kritiker٭innen reduzieren möchten, wäre ihr Publikum nicht so wild gemischt. Und mit der unersättlichen Sehnsucht des deutschen Publikums nach Männern mit merkwürdigen Stimmen, die schon Lindenberg und Grönemeyer zu Marken machte, lässt sich der Erfolg auch nicht vollends erklären. Obwohl beide Ansätze natürlich helfen. Denn jedes Wort, das die Bandmitglieder am Freitag zwischen den Songs sagten, ertrank in Beifall, so als wäre jede ihrer Bewegungen Popkultur. Selbst ihr Tour- und Session-Trompeter, der ein Freund der Band zu sein scheint und gerade im Abi steckt, löste mit seinen zwei kurzen Bühnenauftritten in einem Teil des Publikums Sprechchöre und in einem anderen das Gefühl aus, man würde etwas verpassen, obwohl man doch die ganze Zeit mit dabei ist. Und eine besondere Stimme hat dieser Henning May ja.

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Warum aber schlagen sie so ein? Sie werden ja oft als Klassensprecher einer Generation bezeichnet, was natürlich die Berichterstattung über diese vermeintliche Generation deutlich vereinfacht, lässt sie sich doch vollständig über die zwölf bisher veröffentlichten Songs einer jungen Band charakterisieren. Das erspart aufwendige empirische Erhebungen, weshalb Daniel Gerhardt in der Zeit zu dem fast freudigen Schluss über AnnenMayKantereit gelangt:

„Eine Band für die Nachfahren der Generation Y, die genauso desinteressiert und unpolitisch sind wie ihre Wegbereiter, sich aber nicht mehr dafür schämen.“

Quelle: Zeit Online

Was Gerhardt “Generation” nennt, ist vielleicht mit dem sich schrittweise verschiebenden Zeitgeist der immer selben sowie nachkommenden Personen verschiedenen Alters mit ähnlichen kulturellen Interessen besser beschrieben, unter die sowohl der Konsum von Indie-Rock als auch der von feuilletonistischen Inhalten fallen. Ist nur nicht so catchy. Von den Vorurteilen wie Alter und Kleidung ausgehend war im Tempodrom jene vermeintliche Generation Z, also junge Leute mit Turnbeuteln und Beanies stark vertreten, was allerdings nicht heißt, dass sie unpolitisch sind, sondern vielleicht bloß, dass sie ab und zu gern einen guten Abend haben möchten. AnnenMayKantereit selbst ist übrigens auch keine unpolitische Band, wie nicht nur die „Kein Mensch ist illegal“-Aufdrucke auf jeder Eintrittskarte oder Henning Mays Feature auf dem letzten K.I.Z.-Album Hurra, diese Welt geht unter zeigen. Nur reicht ihr Engagement nicht in ihre Musik selbst, die eben auf einer anderen Ebene spielt.

Der Mikrokosmos AnnenMayKantereit

Denn so richtig viel zu sagen hat Henning May, die vermeintliche Stimme seiner Generation, ja gar nicht. Irgendwann möchte er das WG-Leben hinter sich lassen und mit seiner Freundin (in spe) in einer Altbauwohnung wohnen. Bis dahin raucht er gerne und trinkt Bier mit Freunden. Ansonsten umkreisen die Texte AnnenMayKantereits fast ausschließlich privilegierte Anfang-20er-Probleme wie private Neubeginne, Trennungen, Aufbrüche oder Orientierungslosigkeit, und schaffen ihnen ein Denkmal. Aus Neon-Magazin-Themen á la „Ich bin zum Studium eine Stadt weiter gezogen. Ist mein Elternhaus jetzt noch mein Zuhause?“ wird im Song Oft Gefragt, der Henning Mays Vater gewidmet ist: „Du warst allein zu Haus, hast mich vermisst und dich gefragt, was du noch für mich bist. Zu Hause bist immer nur Du.“ – eine relativ simple, glaubwürdige Antwort auf die Frage.

Quelle: YouTube

Textlich am interessantesten ist vielleicht noch der Song Pocahontas, der klingt, als würde er in einer warmen Sommernacht vor dem Balkon einer Exfreundin vorgetragen. Er fängt die Verspieltheit in engen zwischenmenschlichen Beziehungen ein, die sich in merkwürdigen Kosenamen ausdrückt, und der damit die Größe der Details markiert, die mit einer Trennung verloren gehen können. Eine Ode an das Unverfängliche, die zwar einen Filmvergleich aufmacht, doch inhaltlich eher an Maren Ades Alle anderen als an Disney’s Pocahontas erinnert.

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Alles Nix Konkretes ist übrigens ein ziemlich gut gewählter Albumtitel, der zwar willkürlich gewählt daherkommt, gleichzeitig jedoch ein wesentliches Erfolgsgeheimnis der Band birgt: Sie bieten Unmengen an Projektionsfläche. All ihre Songs strotzen vor Übertragbarkeit. Denn den 4000 Menschen im Tempodrom scheint nicht viel gemein zu sein, so willkürlich durcheinandergewürfelt wie sie wirken. Sie unter einem gemeinsamen Generationsbegriff fassen zu wollen, erscheint von vornherein sinnlos. Aber nahezu alle sollten sich in irgendeiner Phase ihres Lebens einmal mit den von Henning May besungenen Problemen auseinandergesetzt haben, die von außen wie Luxusprobleme wirken, aber im Detail doch ziemlich konkrete Ausmaße einnehmen können. Die Vorstellrunde des Konzerts hätte also genauso gut so laufen können:

„Hallo, ich bin Henning. Wir leben in schwierigen Zeiten, aber auch ich habe Probleme. Ich traue mich, sie anzusprechen, denn alles, was ich sage, klingt cool.“ –„Hallo Henning.“

Das Wagnis, zu wachsen

Die israelische Indie-Folk-Band Lola Marsh zeigte als Support-Act, wie man dem Tempodrom künstlerisch begegnen kann, und stellten ihm ein prägnantes Set ihrer episch-theatralischen Songs entgegen. Das wurde zwar dankbar angenommen, aber so richtig klar wurde nicht, warum sie AnnenMayKantereit begleiten, denn das Hauptkonzert, auf das sie einstimmen sollten, ist doch eher als Gegenentwurf zum Theatralischen angesetzt, und sollte ja bloß die unverstellte Weiterentwicklung einer ehemaligen Schüler- und Straßenband auf die nächste Stufe heben. Auf dieser gibt es zwar eine professionelle Lichtshow und ein paar Leute, die hauptberuflich im Dienste des perfekten Sounds stehen. AnnenMayKantereit selbst könnten hingegen denselben Auftritt schon vor drei Jahren auf der Kölner Domplatte gegeben haben. Doch es ist eben diese vermeintliche Naivität, mit der sie ihrem Publikum gegenüberstehen, die im Tempodrom und angesichts des Produktionsaufwands der Tour plötzlich inszeniert wirkt. Klar hat man mit Anfang 20 seinen Klamottenstil noch nicht so ganz gefunden, aber auf einer ausverkauften Hallentour und mit einem Majorlabel im Nacken findet sich doch sicher jemand, der einem Klamotten rauslegt. Da wirken die Schluffhosen und Ballon-T-Shirts, die sie wahrscheinlich wirklich jeden Tag tragen, plötzlich gegenüber dem Anlass wie ein Kostüm, und die Holprigkeit der Bühnenshow wie ein nostalgischer Nachklang auf die Straßenband, die sie mal waren.

Und das oben beschriebene Wagnis, ohne viel Aufsehens das Tempodrom zu bespielen, wurde tatsächlich nicht immer belohnt. Zwar sind sie musikalisch so einnehmend, dass die langen und mit unbeholfenen Ansagen gespickten Pausen nach jedem Song, zu Beginn des nächsten schon wieder vergessen waren. Doch die veränderte Atmosphäre verändert auch die Songs. 3. Stock (“Ich will mit dir in einer Altbauwohnung wohnen – zwei Zimmer, Küche, Bad und ein kleiner Balkon”) etwa ist ein perfekter Song für Mixtapes oder einen Rotwein in der Badewanne. Aber im Tempodrom erzeugte er aus dem Nichts eine Kirchtags-Atmosphäre. Durch den Hall der Kuppel wollte plötzlich jeder mit jedem in einer Altbauwohnung wohnen. Und morgens auch mal Brötchen holen. Da war sie plötzlich, die Scham. Auch ein paar verstaubte Coversongs wie das umarrangierte Sunny von Bobby Hebb, das sie, so der Mythos, von ihrem ersten Konzert an über jedes weitere begleitet hat, betont doch vor allem einmal mehr die besondere Stimme ihres Sängers, und soll diese einem Publikum vorstellen, das sie längst kennt. Darüber hinaus sagt das Lied nichts aus. Vielleicht spielen sie es einfach gern, aber irgendwann kommt ein Set nicht mehr drumherum, sich zu entwickeln, und es wird spannend sein, zu sehen, wie sie weitermachen. Denn die authentischen kleinen Straßenmusiker wird man ihnen bald nicht mehr abnehmen. Auch wenn sie bis dahin noch vor vielen tausend Menschen spielen werden.

Alles auf Null – die Macht des Moses Schneider

Langsam, aber sicher, geraten AnnenMayKantereit in ein Image-Problem, und zwar aus dem einfachen Grund, dass ihre Karriere schneller abläuft, als es vorgesehen ist. Die Do-It-Yourself-Indie-Sensation der letzten zwei Jahre ist immerhin mittlerweile bei Universal, und für ihr Album stand als Produzent niemand Geringeres als der große Moses Schneider in der Pflicht, der doch eine gewisse Verantwortung am Sound deutscher Bands der letzten eineinhalb Jahrzehnte trägt. Diese Wahl ist für das Album eine glückliche Fügung, in der jedoch auch Kalkül mitschwingt, ist Schneider doch vor allem bekannt dafür, die Live-Qualitäten der Bands, die er produziert, auf Tonträger zu bekommen. Aber wenn man die Wahl hat, warum sollte man sein Debütalbum auch nicht kalkulieren? Die Erwartungen an das Album waren immerhin enorm.

Vielleicht lässt sich die Bedeutung AnnenMayKantereits anhand der Figur Moses Schneider verstehen – hat dieser doch mit dem Diskursrock Tocotronics und dem Fragmentpunk Turbostaats zwei der literarisch anspruchsvollsten deutschen Bands über ihre wichtigsten Alben hinweg begleitet, gleichzeitig jedoch auch SEEED und den Beatsteaks zu ihren individuellen Sounds und internationaler Relevanz verholfen. Gegen diese vier Bands wirken AnnenMayKantereit auf allen Ebenen wie eine Auf-Null-Setzung. Komplexe Texte weichen deutlichen Phrasen, in denen die Kommunikationssituation meist innerhalb weniger Verse klar wird, in der es keinen abstrakten Erzähler gibt sondern immer Henning May ist, der irgendeine Person aus seinem nahen Umfeld besingt. Auch die musikalischen Elemente sind auf das ursprüngliche, straßentaugliche Ensemble begrenzt, und die ohne Frage gekonnten Westerngitarrenriffs, auf denen die meisten Songs aufbauen, sind am Ende doch auch bloß eine geschickt transportierte Kontemporsaliserung bekannter Folk-Dynamiken. Am Ende klingt das Album gar unproduziert, dafür aber ziemlich professionell. Also so, wie es klingen sollte, möchte man denken.

Henning May findet Freitag in einer Ansage auch für Schneider, der selbst ein paar der Songs des Albums mitgeschrieben hat, treffliche Worte, beschreibt seine Wirkung auf die Band als die Meister Yodas auf ein paar unerfahrene Padawans. Denn als solche haben sie momentan die besten Voraussetzungen, nicht der dunklen Mainstream-Seite des Musikgeschäfts zu verfallen. Aber der Weg eines jeden jungen Padawans, oder, um den Vergleich aufzulösen, einer jeden jungen Hype-Band, ist völlig offen. Das wissen wir nicht erst seit Star Wars: Episode VII und den Arctic Monkeys.

AnnenMayKantereit machen die Musik, auf die sie Lust haben, verstellen sich nicht und scheuen sich nicht, Gefühle zu zeigen, da ihr markanter Gesang bisher noch jede kitschige Passage wettgemacht hat. Sie schreiben die meisten Texte gemeinsam und brauchen dazu keine komplizierten Rollen zu erfinden oder ein intertextuelles Geflecht zu entwerfen. Denn das Alleinstellungsmerkmal bringt ihr Sänger ja von vornherein mit, und genießt die Freiheit, über alles singen zu können, was ihn interessiert. Ganz allein sind AnnenMayKantereit damit jedoch nicht. Immerhin haben selbst Tocotronic unlängst ihre Diskursphase für beendet erklärt und ein Konzeptalbum über Liebe, die Grundform des Pop-Albums, herausgebracht, was eine weitere deutsche Indie-Größe, nämlich Get Well Soon, ihnen wenig später unabgesprochen nachmachte, die damit ebenfalls aus epischen Gefilden zurückkehrten.

Wanda und das Bukowski-Manöver

Und auf einer ähnlichen Welle wie AnnenMayKantereit angeschwemmt kamen ja nicht zuletzt Wanda, die vielleicht Aufschluss über das Phänomen geben. Die Wiener Band, die den deutschsprachigen Indierock um einige Einflüsse des österreichischen und italienischen Schlagers erweiterte, eckten zunächst sosehr an, dass niemand umhin kam, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, und unterwanderten die Szene textlich wie einst Charles Bukowski die postmoderne amerikanische Literatur mit dem glaubhaften Vortrag triebhafter Sehnsüchte wie Drogenkonsum und Sex.

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Wanda werden ja oft mit Bilderbuch, der anderen Austropop-Hypeband verglichen, die allerdings bis auf Herkunft und Akzent nicht viel mit Wanda gemein haben – machen diese musikalisch doch pompösen Art-Punk, der am ehesten im Erbe Falcos zu stehen scheint. Wanda selbst hingegen umgibt eine unverhohlene Direktheit, die selbst Die Zeit (!) zu der Frage veranlasste, ob Wanda wirklich nur fünf ehrlich kaputte Typen sind, die Lieder spielen wollen.

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Die Wetten gehen auf Ja, auch wenn die Löcher in den unterschiedlichen Hosen ihres Sängers Michael Marco Fitzthum einander so verdächtig ähnlich sehen, als wären sie vom Universal-Chef persönlich gestanzt. In Sachen Authentizität und Erfolg ähneln sie AnnenMayKantereit ohne Frage, die für ähnliche Themen bloß romantischere Phrasen wählen und die Guter-Schwiegersohn-Front noch nicht ganz aufgegeben haben. Beide Bands tanzen auf der Grenze zum Kitsch, retten sich jedoch spielerisch durch markanten Gesang. Zwei Fragen erhellen die Unterschiede beider Bands:

  1. Würden Wandas Songs auf Hochdeutsch funktionieren? Nein. Sie funktionieren für den Indie-Bereich nur durch das Spiel mit ihrem Exotenstatus, denn ihre Jutebeutel-marktrelevanten Slogans pendeln sich zwischen „Amore!“ ein „Bussi!“ ein. „Liebe“ und „Kuss“ können da nicht mithalten und dieselben Songs in akzent- und ironiefreiem Hochdeutsch würden ohne Frage in einer anderen Schublade als der des Indie-Rocks landen. Vielleicht wären sie gezwungen, über Altbauwohnungen und Heimweh zu singen. Aber dann wäre ihre Naivität auch schon wieder dahin, denn:
  2. Würden AnnenMayKantereits Songs ohne die charismatische, raue Stimme ihres Sängers funktionieren? Ebenfalls nein. Was May singt, klingt zwar weise, jedoch nicht durch seine Texte, sondern durch die Art, wie diese vorgetragen werden. Sein bestimmter Gesang nimmt der Aussprache von Luxusproblemen oder romantischen Sehnsüchten die Scham und er genießt einen Anführerstatus im gemeinschaftlichen Aufkratzen unterdrückter Gefühle. Wäre die Stimme weniger markant, würde dieser Schutzschild wegfallen und die Band stände wieder dem Kitschvorwurf gegenüber. Und sie stände am Ende wohl doch eher nicht im Tempodrom. Vielleicht wären sie gezwungen, über Sex und lange Saufgelage zu singen. Oder einen Volkshochschulkurs in Wiener Schmäh zu belegen.

Die neue Naivität

Beide Bands schaffen es, durch den ungewöhnlichen Vortrag ihrer Musik, das Gewöhnliche ansprechen zu können, wo andere jahrelang versucht haben, das Ungewöhnliche im Gewohnten unterzubringen. Spannend wird der Vergleich beider Bands in der Frage, was für ein Feld zwischen ihnen freigesetzt wird. Denn eine Anforderung an junge Bands, die an dieser neuen Naivität teilhaben möchte, ist es sicherlich, sich wesentlich von anderen Vertretern der Szene zu unterscheiden. Aber danach sollten Musiker٭innen ja ohnehin immer streben. Von dort an gibt es noch einiges neu zu erfinden oder auszudrücken. Zum Beispiel den üblichen Karriereweg, den AnnenMayKantereit mit ihren selbstproduzierten Videos, selbstorganisierten Touren oder der schwarmfinanzierten EP letztes Jahr zurückgesetzt haben.

Auch wenn sie kein Ausdruck einer Generation ist, scheint es in der Popkultur eine gewisse Sehnsucht zum Einfachen zu geben. Zwar kann sie jeden Moment wieder in ihr Gegenteil umschlagen, aber ohne Frage ist diese Sehnsucht überzeitlich. Bloß gibt es momentan ein paar Bands, die neue Wege gefunden haben, sie zu stillen, und die damit nicht einfach nur einen Zeitgeist bedienen, sondern ihn selbst erschaffen. Ob sie selbst es sein werden, die die neugeschaffene Nische auch langfristig ausfüllen werden, ist vielleicht angesichts des gegenwärtigen Erfolgs nicht unbedingt relevant, aber dennoch fraglich. Denn AnnenMayKantereit haben, wie Wanda auch, von Karrieresprung zu Karrieresprung immer größere Schwierigkeiten, ihre Authentizität zu wahren, von der alles abhängt. Aber so bestimmt, wie Henning May das Unbestimmte klingen lassen kann, werden sie ihren Weg schon finden. Es gibt ja auch noch andere Nischen. Auf beiden Seiten der Macht.

Titelbild: © Stefan Bollmann/Creative Commons

Der Rest – allein und auch ein Teil von allem

Er kommt aus dem Hamburger Underground, hat bereits in zahlreichen Städten Deutschlands gespielt und arbeitet derzeit an seinem vierten Album. Der Rest singt deutsch, klingt dunkel und steht knöcheltief im Post-Punk. Als aktueller Support von Front Line Assembly wird er nun erstmalig im Ausland auftreten.


06.03.2016, LOGO, Hamburg

Es ist Sonntagabend und bannig kalt in Hamburg. Das sollte aber nicht weiter stören, denn wenn ein Konzert im LOGO ansteht, kann man gewiss sein, dass es dort muggelig warm wird. Ungefähr 150 Menschen gemischten Alters sind hier, um die kanadische Kombo Front Line Assembly zu sehen. In Liebhaberkreisen der Electronic Body Music und des Post-Industrials ist sie bereits ein alter, liebgewonnener Hase. Unniedlich, versteht sich. Dunkel-elektronischer Hardcore, der zum Abfeiern einlädt. Zwar bin ich dem nicht abgeneigt, aber eigentlich der Vorband wegen hier. Postmondän goes Post-Punk.

Sie nennen sich Der Rest und kommen aus Hamburg. Heimspiel also. Vielleicht hat der eine oder die andere schon mal von ihnen gehört oder sie in irgendeiner Großstadt Deutschlands live erlebt – nicht sehr unwahrscheinlich, denn Der Rest tourt seit einigen Jahren immer mal wieder durch die Bundesrepublik. Wer keine Ahnung hat, von wem ich rede, sei herzlich eingeladen, ein wenig mehr über die zwei-drei-köpfige Band zu erfahren, die sich vage den Genres Avantgarde-Rock, Post- und Depro-Punk zuordnet und derzeit an ihrem vierten Studioalbum arbeitet. Zwischen dem ersten und zuletzt releasten Album liegen gerade mal drei Jahre. 2014 erschien 10 Lieder für Freunde, das geradeheraus sagt, was es meint und trotzdem einiges im Dunkeln lässt – oder vielmehr Philipp Taraz, Kopf und Stimme der Band.

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Man könnte die poetisch durchwirkte Ungeschöntheit das Steckenpferd der Gruppe nennen. In einer Rezension zu 10 Lieder für Freunde beschrieb der Sonic Seducer treffend, „dass sich die Songs der Norddeutschen vorwiegend im Schatten der menschlichen Existenz aufhalten und in eine ähnliche Kerbe schlagende Bands wie Messer oder Die Nerven wie rumpelige, verzweifelt um Bedeutung ringende Hipsterkapellen aussehen lassen.“

Woanders wurde Der Rest argwöhnisch als Teilruine der Hamburger Schule beäugt; das Bandkredo „Nicht Pop und nicht Indie, nicht Liedermacher und nicht Rock“ hat sich mit der Zeit jedoch immer stärker behaupten können. Auf Konsole wiegen die besagten thematisierten Schattenseiten des Lebens schwerer als auf der Bühne, während der mal rockig treibende, mal doomige Sound in beiden Formaten überzeugt.

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Ist es Zufall, dass Abwärts damals schon sangen „Und der Rest fährt im Sonderzug zur Endstation“ oder ist es umgekehrt Der Rest gewesen, der sich davon inspirieren ließ?… Jedenfalls wird er im Mai 2016 mit Abwärts unterwegs sein, nachdem er Front Line Assembly noch ein bisschen durch Europa begleitet hat. Man darf gespannt sein, wie die deutschsprachige Band im Ausland ankommt – ein kleiner Schritt ins Ungewisse, ein großer Schritt für Der Rest.

An diesem Sonntagabend standen Philipp Taraz und Bassistin Jeannine Max zum ersten Mal mit einem neuen Schlagzeuger auf der Bühne. Die drei wirkten wie ein eingespieltes Team und rock’n‘rollten fast pausenlos mit 12 Liedern im Gepäck, davon 4 neue, das LOGO. „Was, wenn dies mein Ende ist?“ wirft Taraz zu Anfang immer wieder ungerührt ein, um später in einem ziemlich Hardrock-inspirierten Stück zu skandieren: „Wir wollen den Horror!“ Mit Dein Lächeln verabschieden sich die Hamburger für diesen Abend – „Alles wieder normal“.

Nach einer kurzen Umbaupause betritt der Hauptact die niedrige Bühne und bringt die bunkerartige Location endgültig zum Brodeln: die EBM-Partypeople tauen endlich auf. Abgesehen davon, dass sie unterschiedlicher kaum sein könnten, stehen sich die beiden Bands auf der Bühne in Sachen musikalischer Härte nichts nach. Siedepunkt erreicht!

Unter anderem spielt Der Rest am 25.03.2016 im K 17, Berlin.

Die Mai-Tourtermine mit Abwärts gibt es hier.

Titelbild: © Le Colmer

Die große Freiheit des Matt Berninger

EL VY, Astra Kulturhaus Berlin, 6.12.2015

Matt Berninger hat eine Neue. Das ist mit Mitte 40 natürlich eine Stilfrage. Aber sie wirken glücklich zusammen.


Es ist Sonntagabend in Friedrichshain, das Astra ist voll, die Stimmung ausgelassen. Erstaunlich eigentlich, dass so viele gekommen sind, um EL VY zu begutachten. Immerhin hat das Duo erst einen Monat zuvor sein Debütalbum veröffentlicht. Aber klar, die beiden sind ja keine Unbekannten, weder Brent Knopf, Gründungsmitglied von Menomena, seit 2009 Kopf des Kollektivs Ramona Falls, noch Matt Berninger. Letzterer hat mit The National ja im Grunde schon seit Jahren alles erreicht, wofür er angetreten ist. Erst haben sie diesen weichen, warmen amerikanischen Indierocksound ausgeprägt, dann etabliert. Ihre Alben der 2000er sind bereits Kult, Songs wie Bloodbuzz Ohio in gewissen Kreisen ja schon sowas wie Hymnen. Sie müssen, wie ich irgendwo gelesen hab, wohl sogar schon einmal irgendwo als Kunstinstallation ausgestellt worden sein.

Viele waren da, um gemeinsam mit EL VY deren Album Return to the Moon live zu feiern, das ja direkt eingeschlagen ist. Ich dachte mir, ich probiere es mal andersherum und hör mir die Lieder, außer den unausweichlichen beiden Vorabsingles nicht vorher an. Also Sonntag, Astra, 20 Uhr und eine Frage: Was bewegt einen gestandenen Musik wie Matt Berninger dazu, seine Comfort Zone zu verlassen und sich in ein neues Projekt zu stürzen?

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Doch der Abend beginnt mit einer Lektion darüber, wie groß das Erbe von The National eigentlich ist. Dies zeigt sich an der clever ausgewählten Supportband The Penny Serfs, einem vielversprechenden Indieprojekt, deren Musik sich im Grunde nur darin von Folk unterscheidet, dass die Westerngitarre durch eine verzerrte E-Gitarre ersetzt wurde. Distorted Folk also. Wäre vor dem Erfolg von The National eine Band auf solche Musik gekommen? Vielleicht. Aber dieser weiche, warme Gitarrensound kommt mir irgendwie bekannt vor. Fehlt eigentlich nur die Brummstimme Berningers.

Die wird dann nach kurzer Umbaupause nachgereicht. EL VYs Auftritt beginnt unaufgeregt, und wird von einer schnieken, aber schlichten Lichtshow untermalt. Matt Berninger ist die zentrale Figur der Show. Wenn er nicht singt, zieht er unbeteiligt seine Kreise über die Bühne, scheint eine gewisse physische Unruhe produzieren zu müssen, um, wenn er doch singt, die gewohnte stabilisierende Ruhe in die Songs legen zu können. Aber er fühlt sich wohl, spielt mit seinem Publikum, manchmal sieht man ihn sogar lachen. Etwa als er merkt, wie gut Paul is Alive ankommt, der Song, den er, so die Legende, mal als Weihnachtsgeschenk für seinen Vater geschrieben hat.

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Bis auf den Gesang sind EL VYs Songs jedoch stilistisch sehr gemischt. Von Post-Pop über Disco-Elemente bis Groove-Rock-Passagen ist vieles zu hören. Einen späten Höhepunkt der Show bildet ein Punk-Cover des Fine-Young-Cannibals-Klassikers She Drives Me Crazy, in dem die Band ausbricht und Berninger nach einem Ausflug ins Publikum kurzzeitig Brille und Mikrofon vermisst.

Musikalisches Zentrum der Band ist aber ein anderer, Brent Knopf nämlich, der die Songs produziert und für die Tour arrangiert hat. Er leitet die vierköpfige Liveband, die eingespielt wirkt wie ein langjähriges Projekt. Auf ihn laufen die Songs zu, in denen selbst der markante Gesang nur ein Element unter vielen ist. Er hätte die Band locker ohne Berninger gründen können. Aber ohne ihn wäre es vielleicht nur ein wenngleich vielseitiges, so doch unentschlossenes Projekt, das vermutlich nicht das Astra gefüllt hätte. Denn auch wenn Knopf schon seit Jahren ein anerkannter und von Kritikern gefeierter Musiker ist, bleiben seine bisherigen Projekte doch Geheimtipps. Was er in Berninger sieht, scheint klar zu sein: Er schafft seiner Virtuosität einen Ausgleich, einen Ruhepol, und dem Projekt die Plattform, die es verdient.

EL VY Astra Matt Berninger Brent Knopf 3

Fotos: Katharina Grosse

Worin besteht nun andersherum die große Freiheit, die EL VY für Matt Berninger darstellt? Vielleicht ja einfach darin, dass es nach all den Jahren auch mal wieder okay sein kann, mit einem Set komplett neuer Songs auf der Bühne zu stehen und nach einer Dreiviertelstunde in völliger Versöhnung mit seinem Publikum wieder heruntergehen zu können, ohne eine Zugabe und ohne Bloodbuzz Ohio gespielt zu haben. Er wird ihn früher oder später schon noch wieder singen, aber als Musiker, der im Independent-Bereich alles erreicht hat, sagen zu können, “Nach dem nächsten Lied müssen wir aufhören, denn wir haben keine Songs mehr”, muss ein ziemlich cooles Gefühl sein, und das hat man ihm zu jedem Zeitpunkt des Auftritts angemerkt.