Schlagwort: Konzert

Last Night in the Bittersweet von Paolo Nutini

Lange war es still um den schottischen Künstler Paolo Nutini. Ganze acht Jahre sind vergangen seit seiner letzten Veröffentlichung. Im Juli meldete sich Nutini mit einem Album und Sound zurück, mit dem wohl niemand gerechnet hat. Über einen Künstler, der sich ständig weiterentwickeln will und dies auch kann.


Paolo Nutini ist zurück. Nach „These Streets“ (2006), „Sunny Side Up“ (2009) und „Caustic Love“ (2014) veröffentlicht Nutini sein viertes Studioalbum „Last Night in the Bittersweet“ (2022). Und man darf sagen: endlich! Acht Jahre musste man sich in Geduld üben. Nicht zum ersten Mal, denn Paolo Nutini ergibt sich nicht dem gewohnten Release-Rhythmus von zwei bis drei Jahren. Er nimmt sich Zeit. Nutini möchte sich weiterentwickeln und nicht wiederholen. Das, so viel sei schon vorab verraten, ist ihm mehr als nur gelungen. „Last Night in the Bittersweet“ ist eine 72-minütige in 16 Songs verpackte Masterclass, die sich so leicht nicht in Worte fassen lässt. Aber einen Versuch ist es wert.

Das Album eröffnet mit unerwarteten Klängen: In „Afterneath“ baut sich die Musik bedrohlich schleichend auf, durchsetzt von Klagerufen Nutinis, gefolgt von einem Sample von Patricia Arquette aus Tarantinos „True Romance“ (1993) sowie Beatnik-Poesie. Das ist erst einmal eine Ansage! Mit „Radio“ folgt eine melancholische Ballade, die ganz unaufgeregt daherkommt und gleichzeitig entwaffnend ehrlich ist.

Radio (Live In The Bittersweet)

Gemeinsam mit „Through the Echoes“ spannt „Radio“ eine verbindende Brücke zum 2014 erschienen Album „Caustic Love“. Sie bieten sicheres Geleit für die Hörer*innen ins neue Album, um dann sofort Platz zu machen für basslastigen Post-Punk-Sound („Acid Eyes“) und mit „Lose It“ Krautrock wieder aufleben zu lassen.

„Lose It“ bei Later with Jools Holland vom 11.6.2022

In der zweiten Hälfte lässt sich Nutini weiter treiben durch die weite Welt der Musik-Genres: Von Fleetwood-Mac-/Stevie-Nicks-Hippie-Rock („Children of the Stars“) über New-Wave-Pop („Petrified in Love“) bis hin zur Piano-Ballade „Julianne“, die ganz im Stile Paul McCartneys ist. Dieser Sound-Mix dürfte eigentlich nicht funktionieren und wenn dann nur in Form eines Compilation-Albums. Doch „Last Night in the Bittersweet“ funktioniert. Gut sogar. Sehr gut. Denn alles wird von zwei Dingen zusammengehalten: viel Emotion und Paolo Nutinis Stimme.

„Through the Echoes” bei Later with Jools Holland vom 11.6.2022

Und das Album funktioniert auch live. Auf der Bühne ist die Transformation des Künstlers sogar noch deutlicher zu sehen. 2007 stellte Rod Stewart in einer BBC-Dokumentation, die Nutini auf US-Promo-Reise seines ersten Albums „These Streets“ begleitete, fest: „He’s a bit awkward on the microphone at the moment. (…) He’s got to look at the audience more.“ Nutini hat damals noch fast ausschließlich vorneübergebeugt (man kann es nicht anders sagen) und mit geschlossenen Augen gesungen. Im Laufe der Jahre hat er sich aufgerichtet und angefangen, auf der Bühne zu tänzeln, das erinnerte aber eher an den etwas hüftsteifen Onkel auf einer Hochzeitsfeier. Und 15 Jahre später?

Als Paolo Nutini am Montagabend, den 26.9.2022, die Bühne des ausverkauften Leipziger Täubchenthals betritt, ist von Unbeholfenheit am Mikrofon nichts mehr zu sehen. Völlig gelöst, grinsend von einem Ohr zum anderen, steht und tanzt Nutini über die Bühne, hält lange und intensiven Blickkontakt mit dem Publikum. Als hätte dieses Album auch für die Liveshows eine Befreiung gebracht. Nutini und seine grandiose Band haben sichtlich Spaß an dem, was sie tun. Und das Publikum dankt es ihnen lautstark.

© Shamil Tanna / Atlantic Records UK

Am Ende des Konzertabends sitzt Paolo Nutini allein auf der Bühne: ohne Backdrop, ohne Video im Hintergrund, ohne Lichteffekte, ohne Band. Nichts lenkt ab, nichts, womit er konkurrieren müsste aber auch nichts, hinter dem er sich verstecken könnte. Er beendet den Abend wie auch das Album mit „Writer“, dem wohl persönlichsten Lied des Albums. „This is as honest as I can possibly be”, erklärt Nutini. Und das geht am besten mit der Akustikgitarre und dieser einzigartigen Stimme.


„Last Night in the Bittersweet“ erschien am 1. Juli 2022 bei Warner.

Titelbild: © Last Night in the Bittersweet, Shamil Tanna / Atlantic Records UK 

Wir sind ein kleines, unabhängiges und kostenfreies Kunst-Magazin. Hast du Lust, uns zu unterstützen und dabei gut auszusehen? Dann schau mal in unserem Support-Shop vorbei.

Farbenfrohe Melancholie – Black Sea Dahu live in Berlin

Mit ihrem Album White Creatures haben sich Black Sea Dahu vom etwas zu geheimen Geheimtipp zur Indie-Band der Stunde gemausert. Live entführen sie uns auf ihre Insel. Wie zum Beispiel am 10. Februar in der Kantine am Berghain.


Schon erstaunlich, was eine Namensänderung bewirken kann. Nicht, dass die Schweizer Band Black Sea Dahu, als sie noch JOSH hießen, keine gute Musik gemacht hätten. Aber von der haben nicht viele etwas mitbekommen. Und ihr neues Album White Creatures, das gleichzeitig Debüt von Black Sea Dahu und Album Nummer drei der daran beteiligten Musiker٭innen um Sängerin und Songwriterin Janine Cathrein ist, ist eindeutig das Beste. Was nicht daran liegt, dass sie plötzlich aus dem Nichts Gesang und Instrumente beherrschen oder der Marktstrategie eines großen Labels folgen. Sondern, dass die Band sich etwas zugetraut hat, sich Zeit genommen und Raum geschaffen hat, um ihre künstlerische Sphäre gemeinsam auszuloten und ein für allemal festzuhalten.

Black Sea Dahu im Nordmeer

Noch als JOSH starteten sie ein Crowfunding, um sich für die Aufnahmen auf eine einsame norwegische Insel zurückziehen zu können. Dort angekommen verbrachten sie intensive Tage voller Aufnahmesession, in denen sie hinsichtlich Arrangement und Produktion gemeinsam, das kann man sagen, wirklich alles aus den mitgenommenen Songs herausholten, was sich herausholen ließ. Und zurück kamen sie farbenfroh: als Black Sea Dahu mit White Creatures im Gepäck, das nun beim Berner Independent Label Mouthwatering Records erschien.

Und plötzlich brauchen sie sich keine Wohnmobil-DIY-Touren mehr selbst zu organisieren, sondern nehmen einfach die Konzerte der für sie gebuchten Europa-Tour wahr. Das Beste aber: Ihre Live-Performance schöpft unmittelbar aus den intensiven Sessions. Und das Publikum wird einfach unverhohlen mit auf die abgeschiedene, norwegische Insel mitgenommen, die ihnen zum perfekten Zusammenspiel verholfen hat. Der Plan ist also ganz gut aufgegangen.

Zwischen Singer-Songwriter, Country, Folk und Jazz

Ihre erfrischende genre-technische Unentschlossenheit und eine gewisse Grundspannung, die sich durchs gesamte Set zieht, unterstützen die Kurzweiligkeit ihrer Live-Performance. Sodass ihre Show in der Kantine am Berghain trotz holpriger (aber sympathischer (aber holpriger)) Ansagen, zur runden Sache wurde. Im weichen, zeitlos jazzigen Sound, der Welten vom Mainstream entfernt zu sein scheint, liegt ein breites Spannungsfeld, das gemeinsam erforscht wird. Bei Songs, die eher in eine Country-Richtung ausschlagen, wie zum Beispiel In Case I Fall For You, erinnert ihre Musik manchmal ein wenig an Bands wie Lola March, wenn auch melancholischer. Und dann wieder an überhaupt niemanden.

Quelle: YouTube

Denn unterm Strich werden die sehr vielseitigen Kompositionen und Dynamiken des Albums durch einen der Band ureigenen Sound verbunden. Die tiefe, durchdringende Stimme von Janine Cathrein wirft einen Anker in die Musik, der auch stürmischer See standhält. Immer wieder ziehen sich die Songs auf ihren ungewöhnlichen, unaufgeregten Gesang und ihr Gitarrenspiel zurück und denen sich auf die sechsköpfige Band und mehrstimmigen Gesang aus.

Viel Aussagekraft für ihre Musik hat etwa der Song Pure, dem man noch anmerkt, dass er um ein Gefühl herum entstanden ist, das sich zunächst im persönlichen Songtext niederschlug. Der Song, der auch in schlichter Singer-Songwriter-Bearbeitung funktionieren würde, wird mit aller gebotenen Vorsicht andächtig mehrstimmig getragen. Instrumental hebt die Band dabei die rhythmisch extrem feine Dynamik aus der Gitarrenspur heraus und entfaltet sie so weit, bis aus der verträumten Komposition ein voluminöser Folksong wird. Der Wirkung des Songs scheinen Black Sea Dahu sich durchaus bewusst zu sein. Nicht umsonst fand er in der Kantine am Berghain Einsatz als Eröffnungssong. Er ist die Fähre zur Insel.

Quelle: YouTube

Weiterlesen-Tipp:

Wikipedia: Das Schweizer Fabelwesen „Dahu“.


Black Sea Dahu sind noch eine Weile live unterwegs. Ihr Album White Creatures erschien am 12. Oktober 2018 bei Mouthwatering Records.

Titelbild: © Black Sea Dahu

Seltsam einnehmend intim. Hundreds in der Passionskirche

Stell dir vor, in Kreuzberg strömen die Menschen sonntags zu Hunderten in eine Kirche. Hören andächtig zu. Und werden noch nicht mal enttäuscht. Im Gegenteil.


Berlin, 3.12.2017

Gar nicht so leicht, ein gutes Konzert in einer Kirche zu spielen. Gerade die Passionskirche im Bergmannkiez mit ihrem endlosem Hall macht es ihrem Publikum schwer, sich auf die immer häufiger dort stattfindenden Konzerte zu konzentrieren. Sóleys Show im letzten Jahr litt unter dem Sound. Und auch Joco, die dankbarerweise die Hundreds-Tour als Support begleiteten, wirkten gegenüber ihrem voluminösen Albumsound ungekannt dünn. Wie man einem solchen Saal aber wirklich gerecht werden kann, stellten Hundreds, der ewige Geheimtipp, noch am selben Abend ein für allemal unter Beweis.

Auf wundersame Weise gelingt es Hundreds ja schon seit ein paar Jahren, mit einer Musik zu begeistern, die anmutig und verschroben zugleich ist und die sie immer wieder weiterentwickeln. Aus Liebe zum Perfektionismus eignen sie sich allerhöchstens Kleinstteile aus verschiedenen Stilen an, um daraus nur wieder ihren eigenen Sound neu zu entdecken. Gesampelter Gesang, Ambient- oder Dubstep-Elemente können bei einzelnen Songs zentrale Rollen spielen oder ein ganzes Album lang gar nicht auftreten. Was alles durchdringt, sind musikalische Virtuosität, die sich durch Harmonievielfalt, kalkulierte Dissonanzen und kontrolliert arhythmische Elemente auszeichnet, und ein brillianter Gesang, der imposant und melancholisch seinen Weg hindurch findet. Immer wieder ziehen sich die Songs auf Klavier und Gesang zurück in eine gitarrenlose Leere, die dem Ganzen etwas Intimes und Einzigartiges verleiht.

Quelle: Instagram

Auf der gerade beendeten Elektro Akustik Tour, die sie auch in die Elbphilharmonie führte, riefen Hundreds nicht einfach ihre Veröffentlichungen ab, sondern präsentierten erhebliche Weiterentwicklungen der Arrangements. Und spiegelten teils ihre Songs gar in völlig veränderten Versionen. Aus dem einst vergleichsweise leichten Happy Virus wird eine düster aufgeladene, abstrakte Klavierballade. Andere Songs werden mit Elementen des Krautrocks, analogen Synthies und maschinellen Beats, aufgeblasen. Gerade das Spiel zwischen Bekanntem und Neuem erzeugt hier eine Grundspannung, die das Konzert über anhalten sollte. Abgerundet wurde der Berliner Hundreds-Auftritt von einer Kammerchor-Version mit Joco und Missincat des Songs Flume von Bon Iver, einer ähnlich kompromisslosen Band, die in den letzten Jahren gezeigt hat, wie weit sich ein komplett eigentümlicher Sound entwickeln kann. Und schon hat man vier wichtige Vertreter einer jungen Independent-Avantgarde in einem Satz erwähnt. Nicht nur wirkten die von Hundreds präsentierten Versionen, als seien die Songs bloß dafür komponiert worden. Die Passionskirche verräumlichte diese auf denkbar imposante Weise.

Und plötzlich ergab alles Sinn: Alle Formen, die die Songs bisher angenommen hatten, mussten zwangsläufig auf die neuen Fassungen hinauslaufen. Die ganzen Alben und EPs waren nur eine Vorbereitung des Berliner Konzerts. Die gesamte Musikgeschichte von Klassik bis Kraut dient bloß als begrifflicher Kontext für diesen Abend. Und die Passionskirche kann nur zu dem einen Zweck errichtet worden sein, sich von Hundreds einnehmen zu lassen. Das mit den Erscheinungen mag nun so ein Kirchending sein. Dennoch habe ich lange kein so einnehmendes und lang nachwirkendes Konzert besucht.

Beitragsbild: © Lars Kaempf

Überladung Spielwut. Dispatch im Columbia Theater Berlin

Eigentlich mehr Mythos als Band nahmen Dispatch ihr erstes Album nach 17 Jahren zum Anlass, mal wieder auf Europatour zu gehen. Das war so nötig, dass ihre Show im Berliner Columbia Theater in einer einstündigen Zugabe ausartete.


Wobei Show eigentlich das falsche Wort ist. Denn Dispatch machen keine, sie spielen einfach. Außerdem haben sie auf Konzerten eh schon viel zu viel vor, um eine Performance einzustudieren, wenn sie all ihren musikalischen Errungenschaften ihre Karriere auch nur ansatzweise gerecht werden wollen. Da Dispatch die altbekannte Formel verinnerlicht haben, dass Musik, die sich klar auf ein Genre begrenzt, bereits tot ist, schwanken sie tapfer zwischen Akustik, Rock, Reggae, Folk und Funk. Das macht das Ganze extrem abwechslungsreich und kurzweilig – nicht zuletzt einfach, weil sie es können. Sich selbst haben sie damit aber nie einen Gefallen getan. Zwar bleibt der Sound der Band damit einzigartig, doch das Alleinstellungsmerkmal der Band kann aber eben auch als ihre große Schwäche ausgelegt werden. Immerhin führte es dazu, dass die Wege der drei Bandmitglieder sich für einige Jahre trennten und man sich auf Projekte konzentrierte, die für die jeweils eigene Musik prägender war.

Dispatch in Berlin

https://www.instagram.com/p/BZSTvAsjhFV/?taken-by=dispatch

Quelle: Instagram

Gerade auf ihrem 2000er Album, dem stilistisch unentschlossenen, Who Are We Living For? sind die drei Richtungen schon recht exakt definiert, in die die drei Musiker sich im nächsten Jahrzehnt entwickeln sollten. Nur taten sie dies eben unabhängig voneinander: Chad Urmston gründete State Radio, machte politisch engagierten, aggressiven Reggae-Rock, und brachte zuletzt zwei Folk-Soloalben als Chadwick Stokes heraus. Brad Corrigan gab einer neuen Band sein Namenskürzel Braddigan und besann sich auf perkussiv aufgeladene Singer-Songwriter-Songs. Pete Francis widmete sich indes solo einem gitarrenlastigen Rock-Pop, dem produktionstechnisch saubersten, aber musikalisch auch angepasstesten Projekt der Reihe. Jeder baute unabhänig voneinander aus, was er zuvor bei Dispatch einbrachte. Und Dispatch wurde nachträglich zur Supergroup der in die Breite gehenden Szene.

2012 lotete man die gemeinsame Zukunft bereits mit einer EP aus. Als die Band ein neues Album ankündigte, war dennoch völlig unklar, in wohin es musikalisch geht. Im weitesten Sinne kam ein Folk-Rock-Album dabei herum, das aus verschiedenen Richtungen als geglücktes Experiment zu bewerten ist: dynamische Vielfalt, viel Platz für breite Riffs, vielseitige Texte und Gesangsspuren und durchdringende musikalische Präsenz, dazu eine viel sorgfältigere Produktion als frühere Alben der Band. Man merkt auf America, Location 12 schnell, dass die Band sich viel Zeit genommen hat, um sich gegenseitig gerecht zu werden. Nicht nur kommt niemand zu kurz, auch wird die Vielseitigkeit wieder zur Stärke ausgearbeitet. Heraus kommt ein perfektes Folk-Album für Leute, die Folk eigentlich hassen, wenn nicht musikalisch, dann für dessen wiederkehrende Begleiterscheinungen wie Kitsch, Konservatismus oder Sexismus. Es greift viele Richtungen des Genres auf, vereinnahmt sie und macht sie zu etwas durch und durch Wuchtigem und Entschlossenem. Zu Dispatch.

Dispatch – Skin the Rabbit

Quelle: YouTube

Diese wiederum stellten sich im Columbia Theater als spielwütige, jamverliebte Band vor und gaben einen ausgiebigen unverstellten Auftritt, der zum einen die Arbeitsweise der Band klarmachte: Sobald ein Part sich abnutzt, wird die rascheste Idee aufgegriffen, in welche ein Song abknicken könnte, so brutal der Tempo-, Dynamik- und Genrewechsel dann auch ausfallen mag. Zum anderen wurde die Rollenverteilung innerhalb der Band klar: Niemand nimmt sich vor den anderen zurück, alle ringen ständig um den Vordergrund. Was in keiner anderen Band funktionieren würde, wird bei Dispatch unterhaltsam ausgereizt. Wem am Schlagzeug langweilig wird, der nimmt eine Gitarre und stellt sich nach vorn, wer den Text kann, singt mit wann er will. Ein vierter, zusätzlicher Musiker schließt die Lücken, falls grad keiner Lust hat zu singen oder Schlagzeug zu spielen. Das bewährt erstaunlich gut.

Und so sind Dispatch live eben auch ein Songwriterkollektiv, das seinem Publikum keine Facetten ihrer zahlreichen Projekte und historischen Ausformungen schuldig bleiben möchte. Auch wenn das präsentierte Set am Ende völlig überladen ist, kann dieses am Ende doch sehr zufrieden heimgehen. Dispatch wiederum scheinen von einer tiefen Unzufriedenheit angetrieben zu werden. Genauso wichtig wie ihre Musik ist der Band auch ihr politisches Engagement. Sie steht hinter mehreren Stiftungen und verbindet Touren immer auch mit Besuchen bei Hilfsprojekten, die sie unterstützen, und nutzen ihre Konzerte für Statements und Aufrufe. In Berlin war ersteres nun das Migration Hub und das Projekt Wefugees, letzteres neben Entsetzen über die amerikanische Regierung ein Aufruf, der hier nur abschließend wiederholt werden kann. Egal, was ihr auch macht: Geht Sonntag wählen.

Titelbild: Instagram

Tides from Nebula – Sternennebel im Urban Spree

Polens Nummer 1 in Sachen Post-Rock lockte die Berliner ins Urban Spree und zeigte was sie kann. Aber auch, woran es fehlt.


Tides from Nebula, Urban Spree, 17. Mai 2017

Obgleich die Sonne sich endlich auch auf den Sommer eingelassen zu haben schien, war eine ganze Menge Menschen in der letzten Woche gern bereit, den lauen Berliner Abend noch etwas warten zu lassen und sich ins dunkle Urban Spree zu verkriechen, um dort den melodischen, teils melancholischen Klängen der polnischen Post-Rock-Helden Tides from Nebula zu lauschen.

So ziemlich genau vor einem Jahr präsentierte das Quartett aus Warschau – damals leider als Trio – auf dem RAW-Gelände sein viertes Album, Safehaven, welches in kompletter Eigenregie aufgenommen werden konnte, weil im band-eigenen Studio. Thisquietarmy hatte das Publikum letztes Jahr auf eher experimentelle Weise eingestimmt, dieses Mal hatten Tides from Nebula den ganzen Abend für sich allein; so gab es am Ende sogar zwei Zugaben! Und das Konzert war dann auch wie das „neue“ Album: Solide, ohne viel Klimbim, keine lange Stimmen-Samples oder atmosphärische Pausen. Das Publikum hörte gespannt zu und wurde weder von großen Licht-Effekten (wobei es schon ein bisschen Blinken und Glitzern gab), noch von langen Ansagen abgelenkt. Stand überhaupt ein Micro auf der Bühne?

Dafür gab es viele eingängige und schöne Melodien, denen Keyboard und Gitarre ihre prominenten Rollen zu verdanken hatten und die manchmal fast an maybeshewill erinnerten. Was nicht heißen soll, dass es den Songs an Druck oder sich steigernden „Gitarren-Ausbrüchen“ fehlte, doch macht die Band ihrem Namen alle Ehre. Bei Songs wie „Home“ hat man zwischenzeitlich eher den Eindruck verträumt durch einen nebligen Wald zu gehen und schließlich in den schwarzen Nachthimmel zu blicken – düster-ish, aber voller funkelnder Sterne –, als in ein schönes Gewitter. „We are the mirror“ hingegen vereint dann, nach guter alter Post-Rock-Manier atmosphärische Ruhe-Phasen, mit Chaos und Gitarren-Loops. Simple Melodien steigern sich in den Songs zu einem musikalischen Höhepunkt, zu aggressiven Klanglandschaften, in denen der Zuhörer einfach nur noch dabei ist und nirgends anders, so wie Fans des Genres es gewöhnt sein mögen.

Quelle: YouTube

Und da liegt dann auch der Knackpunkt, sofern es denn einen gibt. Tides from Nebula machen die Musik, die von einer europäischen Post-Rock-Band heute erwartet wird. Dies machen sie auch wirklich gut, sowohl live als auch bei Aufnahmen legen sie höchsten Wert auf die Soundqualität. Das Einzige, was man bei ihnen aber wohl nicht finden wird, sind schwierige, unzugängliche oder auch andersartige, innovative Parts. Nicht umsonst wurde „Safehaven“ 2016 auf Platz 10 der besten Post-Rock-Veröffentlichungen des Jahres gewählt und eine Tour reiht sich an die nächste, wobei die Reichweite sich von Polen auf Europa und die Welt ausgeweitet hat. Läuft bei denen.

Tides from Nebula sind aber auch im wahrsten Sinne des Wortes eine Live-Band. Nicht nur, dass sie es irgendwie schaffen über die Musik (oder auch das Spielen im Zuschauer-Raum) aus Publikum und Band eine vereinte Menschenmenge zu machen, die Zuhörer also zu berühren, sie scheinen in den letzten Jahren auch nonstop auf der Bühne gestanden zu haben. Trotz der paar hundert Gigs, die sie mittlerweile auf dem Buckel haben, geht ihnen die Puste nicht aus. Sicherlich ist ihnen eine gewisse Routine anzumerken, dennoch bringen sie live eine Fülle von Emotionen und eine sehr positive Atmosphäre rüber. Der Song „Only with presence“ vom Vorgänger-Album „Eternal Movement“ ist sodann live mindestens so energiegeladen und unbeschwert-mitreißend wie man es vermuten würde, wenn man ihn mal „von Band“ gehört hat. Auch wenn die vier Polen onstage wie ernste Rocker scheinen, sind sie in Wirklichkeit äußerst freundliche, junge Menschen ohne jegliche Star-Allüren, die ihr Gepäck auch mal endlos durch die Nacht tragen und einem Bierchen mit Fans meist eher zugeneigt sind.

Also, solltet Ihr die Chance haben Tides from Nebula live zu sehen, tut es! Ihre Musik ist zum Tag- (und Nacht-)Träumen bestens geeignet und lohnt sich immer.

Belzebong: Schall und Rauch im Magazinkeller

Belzebong_Magazinkeller

Am vergangenen Freitag veranstaltete die Kultur Guerilla Bremen im Magazinkeller ein Konzert mit Belzebong aus Polen und Sonic Wolves aus Italien. Sie brachten satte Riffs und stonigen Doom. Der Underground lebt noch.


03.03.2017, kurz vor Doom – Niemand dürfte sich aus purem Zufall im Magazinkeller des Bremer Schlachthofs verirrt haben. Und wenn doch, so hat er oder sie mit Sicherheit einen memorablen Abend verlebt. Selbstverständlich nicht im Sinne einer Rob Zombie Show, denn dafür mangelte es eindeutig an Platz. Zum anderen ging es schlichtweg um die Musik – wie bei jedem guten Rock Konzert.

Nachdem die ersten Bierchen gemütlich getrunken waren, begann die dreiköpfige Vorband Sonic Wolves zu spielen. Unter dem fachkundigen Publikum als „die Band mit dem Drummer von Ufomammut“ bekannt, heizten sie den Laden nach fuzzy Heavy Rock Art ein. Im Auge des Sturms hypnotisierte der Song He Said… mit einem Herz aus Blues:

Der Magazinkeller füllte sich zusehends, nachdem schließlich Belzebong die Bühne betreten hatten und programmatisch mit Bong Thrower den Doom des Abends einläuteten. In behäbigem Rhythmus schwangen der Bassist und die beiden Gitarristen die Matten und walzten sich sanglos von Song zu Song.

Jeder davon gab eine wuchtige Stoner Doom Expression ab, die nicht unter zehn Minuten lag. Bands wie Sleep und Electric Wizard haben es vorgemacht; die 2008 in Polen gegründete Band dreht (mit selbstgenanntem Bezug auf Black Sabbath und Gras) den Strick aus rauchigen, leidenschaftlichen Riffs weiter.

Der Joint, der von irgendwo aus dem verzückten Publikum kam, wäre nicht zwingend notwendig gewesen, um sich den massiven Klangteppichen hinzugeben. Das Fazit des Abends fällt jedoch ungetrübt davon aus: Musikalische Leidenschaft und Frickelei sind allem Anschein nach noch tief im Underground verwurzelt. Kleines Konzert, maximale Befriedigung!

Titelbild: © Lennart Colmer

The xx in Berlin. Karneval auf Berlinerisch

Nachdem The xx ihre Berliner Fans fast vier Jahre hatten warten lassen, traten sie am Samstag endlich in der fast 9.000 Menschen fassenden Arena Treptow auf.


Die anstehende Menschenmenge vor der Arena ließ eher ein Konzert einer Größe wie Lana del Rey vermuten und auch innerhalb der Halle konnte man sich den besonderen Flair einer Hipster-Massenveranstaltung schwer wegreden. The xx versammeln mit ihrem minimalistischen, und doch tiefgründigen Indie-Pop, der zum Gläschen Wein bei Kerzenschein genauso passend sein kann, wie zu dröhnenden Bässen im Club, nun mal eine ganze Menge verschiedener Menschen. Diese unterschiedlichen Seiten ihrer Musik präsentierten die drei Musiker*innen auf dem Konzert sodann beispielhaft. Während der Auftakt ihrer Welt-Tournee im November 2016 noch etwas schüchtern, fast unsicher wirkte und Gitarristin Romy Madley Croft und Bassist Oliver Sim dort nicht müde wurden, zu betonen wie sehr sie sich freuten endlich wieder auf der Bühne zu stehen, was man ihnen durchaus abnahm, war die Show in Berlin sehr viel dynamischer und ließ bald eine Club-Atmosphäre entstehen.

Gespielt wurden Songs vom neuen Album „I See You“ – welches glücklicherweise Florian Silbereisen von der Spitze der deutschen Album-Charts verdrängen konnte – aber ebenso ältere, düster anmutende Ohrwürmer. Jamie xx hatte genügend Raum auch seine Solo-Stücke einfließen zu lassen und so das Publikum durch immer krassere Bässe zum Tanzen zu bringen. An einem elegant transparenten DJ-Pult stehend bediente er die Drum-Computer, griff jedoch auch mal zum analogen Drumstick, um Becken und Trommel klingen zu lassen. Licht- und Bühneninstallation passten perfekt zur jeweiligen Stimmung der Lieder, die oftmals fast nahtlos und gekonnt ineinander übergingen. Mal erzeugten übergroße, sich drehende Spiegelwände eine fast bedrohlich-psychedelische Atmosphäre, dann tanzten bunte Neonlichter fröhlich mit den Zuschauern zu „On Hold“.

Quelle: YouTube

Die gefühlvollere Seite von The xx betonte Sängerin Romy mit Songs wie „Say something loving“ und während Oliver Sim kunstvoll bewies wie stylisch sich ein Bass spielen lässt, konnte sich der Zuschauer des Eindrucks nicht verwehren, dass die drei Musikerinnen – jeder für sich – gewachsen zu sein scheinen. Ob auseinander, zusammen oder wieder zusammen – es lässt sich nicht wirklich sagen. The xx haben sich entwickelt, verändert; das lässt sich nicht zuletzt auch an ihrem neuen Album hören, auf dem man die alte Melancholie von „Coexist“ oder „xx“ nicht so einfach wiederfindet. Ihre Musik ist eindeutig ihre Musik, aber vielleicht klingt sie live zudem einen Funken weniger unbeschwert, daran ändert auch das Konfetti, das Zuschauer im Gedenken an einen in Berlin nicht stattfindenden Karneval immer wieder in die beeindruckende Lichtshow warfen, nichts. Aber hieran ist ja auch nichts Verwerfliches, denn auch Künstler werden älter.

Insgesamt war es ein rundes, vielleicht etwas kurzes Konzert, das die Zuhörer sicherlich ein kleines Stückchen glücklicher in die Samstagnacht entließ und was kann man von einem Konzert schon mehr erwarten?

Superheroes, Ghostvillains + Stuff live. Notwist im Astra

Dass sie nicht nur eine der komplexesten Studiobands des Indie-Rock sind, sondern auch live seit Langem zu den Vielseitigsten zählen, macht Notwist zur Rarität. Nun bringt gerade ihr Live-Album sie in eine ungekannte Situation. Es macht sie erstmals berechenbar.


Was haben Max Punktezahl, Karl Ivar Rafseth, Cico Beck, Andi Haberl und Markus und Micha Acher gemeinsam? Allesamt sind sie Ausnahmemusiker, die in zahlreiche Projekte verstrickt sind. Und eines dieser Projekte ist bei allen jeweils seit Jahren glücklicherweise Notwist. Beim einen sind dies erst drei, beim anderen 28 Jahre. Doch es ist nur zu hoffen, dass bei allen noch zahlreiche folgen werden. Denn wer ihre Alben für vollendet hält, kennt ihre Konzerte noch nicht. Sänger Markus Acher sieht das wie folgt:

„Die Stücke sind ja zum Zeitpunkt einer Studio-Platte meist noch sehr neu, und nicht live gespielt. Und auch nur eine Momentaufnahme. Viele entwickeln ein Eigenleben und verändern sich sehr im Laufe der Jahre. […] Ich denke, manche Stücke haben erst nach einer langen Zeit ihre eigentliche Form gefunden.“

Markus Acher im Interview mit postmondän

Das Konzert am Sonntag im Astra nun war Teil einer kleinen Release-Tour für ihr im Herbst erschienenes Live-Album „Superheroes, Ghostvillains + Stuff“, die Zusatzshow zum Konzert im Lido am 6.11., das bereits nach kurzer Zeit ausverkauft war. Dass sie für diesen Zusatztermin erst drei Monate später Zeit fanden, spricht Bände darüber, in wievielen Töpfen die Bandmitglieder derzeit rühren. Doch ebendieser Umstand der späten Zusatzshow fasste das Konzert auch in einen sehr besonderen Rahmen. Denn er gewährte dem Publikum ausreichend Zeit, sich auf den Abend vorzubereiten. Was dieses erwarten konnte, ist bereits auf sechs Schallplattenseiten gepresst, die man nicht oft genug hören kann.

Dabei stehen Notwist doch eigentlich für Avantgarde, Progress und ständige Weiterentwicklung. Live bedeutete dies stets: das Aufbrechen von Kompositionen, die Beleuchtung einzelner Elemente aus immer neuen Richtungen. Dass sie über die Jahre immer mehr Stilelemente in ihre Musik aufnahmen und viele neue Richtungen gleichzeitig einzuschlagen schienen, machte sie nicht zuletzt zur unberechenbaren Liveband. Durch Ein- und Ausstiege verschiedener Musiker öffnete die Band sich ständig für das Neue. Doch darum ging es im Astra nun ausnahmsweise mal nicht, sondern um eine Präsentation der bereits eingefangenen Arrangements.

Wie diese sich nun wirklich live anfühlen, passt wiederum auf keine Platte. Zum einen sind da die ohnehin schon ausgefeilten Songs, in Versionen, die nun wirklich alles Vorstellbare aus diesen herausholen. Zum anderen die spürbare Leichtigkeit, in der sie vorgetragen werden. Ein virtuoses Verhältnis zu Dynamiken. Zur Perfektion präzise abgerufene Sounds und Effekte. Markus Acher, der seinen Gesang zwischendurch fast beiläufig live sampelt. Enthusiastische Musiker, die sich immer wieder in den Rausch der gemeinsamen Musik treiben lassen, ohne auch nur die Idee von Unkonzertriertheit zuzulassen. Die sechs völlig verschiedene Zugänge zur Musik haben und dennoch ein dichtes Zusammenspiel finden, obwohl sie sich gegenseitig größte Freiheit gewähren. Und gemeinsam alle Genres durchwandern, um dann doch wieder im Refrain von „Pilot“ zu landen. Und wieder. 13 Minuten und 13 Sekunden lang. Live wie auf Platte. Vor einem Publikum, das sich final nicht zwischen Tanzen und Staunen entscheiden kann.

Auch die Samples zwischen den Songs sind identisch zum Livealbum. Nur die Tracklist wird variiert und vor allem um alte Schätze erweitert. „Superheroes, Ghostvillains + Stuff“ ist ein Monument von Notwists Live-Kunst. Dass sie dieses zu allem Überfluss offensichtlich jederzeit aus dem Stand abrufen können, stellen sie jeden Abend ihrer laufenden Tour aufs Neue unter Beweis. Spannend wird sein, zu sehen, wie sie es anstellen, die Songs von deren „eigentlichen Formen“ aus, welche im Astra fraglos präsentiert wurden, in Zukunft wieder aufzubrechen und weiterzuentwickeln. Dass sie dies tun werden, steht mit Blick auf die Bandgeschichte fast außer Frage.

Und so laut, berauscht und tänzerisch es zwischenzeitlich wird, klingt die im Astra präsentierte Show am Ende der Zugabenreihe altbewährt mit „Consequence“ und „Gone Gone Gone“ andächtig und demütig aus, was einen bleibenden Eindruck manifestiert. Notwist-Konzerte gewähren ihrem Publikum eine kunstvolle und melancholische Perspektive der Welt, die noch für eine ganze Weile anhält. Could be enough, möchte man denken. If only we are pilots. Once a day.

Titelbild © Patrick Morarescu

Isolation Berlin – Großes Theater

Wenn Isolation Berlin auf die Bühne treten, sind sie und ihr Publikum gemeinsam einsam. Sie feiern Trostlosigkeit, Kälte und sich selbst. So auch am 17. Dezember 2016 im Columbia Theater Berlin.


Keine Frage, die Medien lieben sie. Weil sie keinem Trend folgen und doch den Zeitgeist treffen. Weil sie so traurig, schwermütig und tiefsinnig sind. Und weil sie das liefern, nach dem sich scheinbar alle gesehnt haben. Isolation Berlin haben in diesem Jahr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Von einigen werden sie als die deutsche Indie-Rock-Entdeckung 2016 gehandelt. Neben Bands wie Drangsal, Annenmaykantereit, Von wegen Lisbeth und Milliarden waren sie für den Preis für Popkultur in der Kategorie „Hoffnungsvolle Newcomer“ nominiert. Den Preis gab es nicht, aber weiterhin gute Presse. Rezensionen und Bandporträts lesen sich fast wie ihre Songtexte selber. Kritiker٭innen verlieren sich in bedeutungsschwangeren Formulierungen wie „trügerische Euphorie“, „eisige Abgründe“ oder „eine blutrote U-Bahnfahrt von leichtem Walzer bis zur Endstation im Lärm“ (s. Spiegel online und Intro), wenn sie ihren Sound beschreiben. Als hätten die Schreiber٭innen Angst, den vier Musikern und ihrer Botschaft nicht gerecht zu werden. Auch der Vergleich mit Bands wie Ton, Steine, Scherben oder Tocotronic verringert nicht den Druck, etwas ganz Großes in den vier Mittzwanzigern zu sehen.

Dann stehen sie am 17. Dezember 2016 – als Abschluss eines erfolgreichen Jahres – auf der Bühne des ausverkauften Columbia Theaters in Berlin. Kein großes Hallo, kein euphorisches „Guten Abend, Berlin!“ Eher unaufgeregt, ja fast nüchtern abgeklärt singt Tobias Bamborschke, als hätte er nie etwas anderes getan: „Ich bin ein Produkt. Ich will, dass ihr mich schluckt. Dass ihr mich konsumiert. Euch in mich verliert“. Dabei hebt er bühnensicher die Arme in die Höhe und deutet dann ins Publikum. „Ich will, dass ihr mich liebt. Und auch die ganze Welt. Ich lebe für Applaus. Bis der Vorhang fällt.“ Eine unmissverständliche Ansage an das Publikum. Und ein geschickter Zug des ehemaligen Schauspielstudenten: Wie entzieht man sich zu Beginn eines Konzerts jeglicher Kritik? Man geht in strenger Selbstreflexion mit sich selbst ins Gericht und schreit das Urteil heraus.

Quelle: YouTube, © berlinconcert

Ja, er ist das Produkt. Genauer gesagt ist er das Zentrum eines guten Produkts. Während er mit gewaltiger Bühnenpräsenz alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, werden seine drei Mitspieler zu Statisten. Die Band interagiert nicht. Alle wirken konzentriert, versunken in ihrem Sound. Auf der Bühne ist kaum Bewegung. Und Tobias Bamborschke? Er weiß, was er da tut. Und wenn er singt, dass es schwerfalle aufzustehen, wenn man nicht wisse wieso, glaubt man ihm. Schließlich unterstreicht er die Schwere durch seine kraftlose und monotone Artikulation. Aber die Gefühle, die Melancholie, Traurigkeit und Trostlosigkeit, die er in all den Rock-Chansons beschreibt, gingen dem Konzert voraus. Auf der Bühne spielt er seine Rolle. Die Gesten sind einstudiert, etwa wenn er singt: „Siehst du da die dicke Frau?“ und in die Leere zeigt, als stünde sie dort. Er tut es nicht zum ersten Mal. Nur einmal, glaubt man, ein nicht geplantes Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen: Nachdem ihm die Menge laut und textsicher „Der Schlachtensee ist lang. Und auch ohne dich ganz schön“ entgegensingt.

Isolation Berlin live im Columbia Theater Tobias Bamborschke live mit Isolation Berlin

Es ist nicht zu überhören: Isolation Berlin hat eine Fangemeinde. Sie kann jedes Wort mitsingen – ihres Debütalbums „Und aus den Wolken tropft die Zeit“ und sämtlicher EPs. Diese Fanschar umfasst nicht etwa nur Student٭innen Mitte zwanzig – auch wenn sie die Mehrheit bilden. Bis 50 Jahre ist alles dabei. Und sie feiern ihre Band, die nur wenig mit ihnen in Aktion tritt. Sehr kurze Ansagen kündigen ihnen an, was sie ohnehin nach den ersten Tönen erraten würden: den Titel des nächsten Liedes. Danach gibt es Jubelschreie und Applaus, wie zu Beginn gefordert. Den letzten Song widmet der Sänger dem wichtigsten Menschen in seinem Leben: sich selbst. Das sorgt für den ersten Lacher des Abends im Publikum. Die letzten Zugaben performt Isolation Berlin mit ihrer geliebten Vorband Der Ringer und dann fällt der Vorhang.

Ja, Isolation Berlin beherrschen ihr Handwerk. Sie wissen, wie sie einen grauen, dumpfen Schleier über ihre Zuhörer٭innen legen und es mitziehen – in besungene Abgründe, in Weltschmerz und Selbstmitleid. Aber das Konzept ist durchdacht, die Abgründe sind geplant. Trotzdem oder gerade deswegen scheinen sich viele in ihnen und ihren Songtexten wiederzufinden – die manchmal naiv mit vorhersagbaren Reimen gerade herauserzählt und manchmal mit Methaphern und Pathos überladen werden. Vielleicht ist es das, was den Kritiker٭innen so imponiert und sie zu ebenso bildlichen Umschreibung ihrer Musik verführt: die naive und gleichzeitig ausgewachsene Melancholie. Trotzdem sollte sich doch eine٭r dazu hinreißen lassen, Isolation Berlin einen Wikipedia-Artikel zu schreiben. Was ist denn das für ein Produkt ohne Wikipedia-Eintrag?

Isolation Berlin im Columbia Theater

Bilder: © Anna Stuhrmann und Katharina van Dülmen

Russian Circles – wider die Eingängigkeit

Brachial und ohrenzerschmetternd, harmonisch und melancholisch. Russian Circles, Post-Rock-Trio aus Chicago, erfüllen die Kriterien ihres Genres und trotzen dennoch dessen Stereotypen. Im Leipziger Conne Island präsentierten sie nun ihr neuestes Werk Guidance. Mit dabei: Helen Money und das Cello.


07.11.2016, Conne Island, Leipzig

Vor wenigen Wochen noch fand sich das Conne Island als nicht wegzudenkende Institution der Leipziger Kultur- und Politlandschaft mehr oder weniger freiwillig in den Schlagzeilen der großen Verlagshäuser des Landes wieder. An diesem Novemberabend sollte der politische Diskurs jedoch einmal in den Hintergrund rücken, um stattdessen instrumentellen und sinfonieartigen Klangwerken im Post-Rock-Format eine Bühne zu bieten.

Als Support betrat zunächst Helen Money die Bühne im nahezu ausverkauften Kulturzentrum in Connewitz. Die Instrumentalistin, die eigentlich Alison Chenley heißt und im kalifornischen Los Angeles beheimatet ist, kehrte zurück zur ursprünglichen Bedeutung des Terminus der Solokünstlerin. Lediglich mit ihrem Cello ausgestattet komplettierte sie ihre Bühnenpräsenz, dies jedoch mit einer solchen Wirkung, dass man eher dazu neigte, mindestens ein Quintett vor sich zu haben. Die klassisch studierte Cellistin nutzte die ganze Bandbreite ihres Instruments und ging sogar darüber hinaus. Angeschlossen an einen Verstärker machte sie die hervorgerufenen Rückkopplungen zu ihrer Kunst, indem sie das Cello in sämtliche Richtungen manövrierte. Mit einem kleinen Dankeschön überließ sie schließlich dem Hauptakt das Podest.

Der nannte sich an diesem Abend Russian Circles. Das Trio aus Chicago offenbarte sich klanglich als noch einnehmender und kommunikativ als noch weniger redselig – wie bei ihnen üblich, verloren sie während ihres Auftritts nicht ein einziges Wort. Damit taten sie niemandem im Publikum unrecht, knüpften sie doch auf diese Weise argumentativ an ihr instrumentelles Werk an. So hielten sie sich selbst im Hintergrund und waren aufgrund der Lichttechnik nur schemenhaft zu erkennen. Nur die Silhouetten zeigten Regungen, die sich gewissermaßen an diejenigen des Publikums anschlossen.

Quelle: YouTube

So spielten sie ihr Set herunter, das nicht unwesentliche Teile ihres im August veröffentlichten Longplayers Guidance beinhaltete. Dieser Spielplan hatte es jedoch in sich. Neben den harmonisch und teils melancholisch angeschlagenen Tönen waren es vor allem die brachialen Riffs sowie der dominante Einsatz der Drums von Dave Turncrantz (für den ein Ventilator essentiell zu sein scheint), die den Raum mit einer wahnsinnigen Lautstärke und überbordender Vibration auf links drehten. Ein nicht allzu schwerwiegend anzumerkender Kritikpunkt ist somit, dass das Conne Island für das Volumen der Russian Circles eventuell etwas zu klein geriet.

Kompositorisch bewegt sich die Band ohnehin in eigenen Gefilden. Angesichts der Tatsache, dass die Chicagoer ihre Herkunft in einem der Epizentren des Post-Rocks sehen dürfen, bleibt ihnen kaum etwas anderes übrig, um aus der Menge hervorzustechen. Zwar definieren sie sich vor allem durch experimentelle Songs, die meistens die Sechs-Minuten-Grenze überschreiten. Ebenso verzichten sie auf einfache Stilmittel wie das Crescendo, das letztlich kathartisch in einer Explosion mündet, sodass die Strukturen unvorhersehbar bleiben. Dennoch müssen Russian Circles Alleinstellungsmerkmale zugutegehalten werden. Diese sind wohl am ehesten darin zu sehen, dass die Band sich nicht davor scheut, sich gleich mehrerer Stilrichtungen wie allen voran dem Metal und Post-Hardcore zu bedienen und mit ihren eigenen Interpretationen in Verbindung zu setzen. Diesen charakteristischen Weg, mit dem sie düstere und emotionale Erzählungen vertonen, verfolgen sie auch in ihrem nun sechsten Studioalbum. Und damit ließen sie die an diesem Abend anwesenden Zuhörer٭innen unisono mit gedämpften Trommelfellen und imponiertem Wohlwollen zurück.

Titelbild: © Chris Strong