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“Postfaktisch? Am Arsch! Warum uns das neue Modewort nur noch tiefer in die Scheiße bringt”

Postfaktisch – das Wort des Jahres. Überall ist es gerade zu lesen und stellt so etwas wie das Gütesiegel aller Aufrechten gegen den grassierenden Rechtpopulismus dar. Hier Wahrheit – da Lüge. Doch war vor Höcke, Trump und Co. wirklich alles so richtig wahr? Und hilft uns diese Wortneuschöpfung irgendwie weiter? Nö.

Ein politischer Kommentar von Gastautor Nils Hesse


„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster“

Antonio Gramsci

Oh, da ist ja was passiert, da hinten, über dem großen Teich. Da haben die Amis doch tatsächlich diesen Typen mit einer großen Portion Menschenverachtung unter dem blonden Scheitel zum Präsidenten gewählt. Die Aufregung der letzten Wochen könnte kaum größer sein. Am Tag nach der Wahl waren die Sozialen Netzwerke so etwas wie die Trauerfeier für die Welt, wie wir sie kannten. Alle schienen unglaublich überrascht, dass das „Irrationale“ (Trump) über das „Rationale“ (Clinton) gewonnen hat. In den Analysen tauchte immer wieder das Wort „postfaktisch“ auf, mit dem sich auch der Beitrag von Dirk Sorge auf postmondän beschäftigt. Es ist ja auch was dran: Viele Menschen scheinen gerade nicht zugänglich für eine demokratische Auseinandersetzung. Sicherlich spielen auch die Sozialen Medien dabei eine Rolle: Den Menschen fällt es deutlich leichter sich in den anonymen Blasen des Internets ihre eigenen Wahrheiten zu basteln und diese auch ständig von anderen bestätigt zu bekommen. Doch woher kommen diese Emotionen? Haben die Menschen auf einmal einen Schlag auf den Kopf bekommen oder waren sie schon immer da? Waren wir vor Trump, vor AfD und Pegida tatsächlich in einem seligen Zeitalter des Faktischen, in der sich immer das bessere, faktischere und letztlich wahrere Argument durchgesetzt hat? Waren wir wirklich auf so einer Habermas‘schen Party, auf der der alte Jürgen mit Partyhütchen und einem schönen Glas Rotwein glückselig grinsend in der Ecke hängt? Funktioniert Demokratie und Gesellschaft überhaupt so? Nicht wirklich.

Das Politische ist immer auch Emotion

Zunächst einmal: Ja, es stimmt, Donald Trump ist ein widerlicher Rassist, Sexist und Sozialchauvinist. Er verkörpert so ziemlich all das, was manche dazu bringt sich auf eine einsame Insel zurückzuziehen und der gesamten Menschheit den Mittelfinger zeigen zu wollen. Aber ist das Problem tatsächlich, dass Trump sich mit der Bedienung von Twitter, Facebook und Co besser auskennt als Hillary Clinton? Ist das Problem mit der AfD tatsächlich, dass sie zu Propagandazwecken auch gerne mal Fakten verdrehen oder sie ihnen schlicht egal sind und letztlich offensichtlich die Emotionen vieler Wähler*innen ansprechen? Nein. Das Problem ist, dass Trump und die Wir-sind-das-Volk-Schreihälse halt eben rassistische, sexistische und sozialchauvinistische Arschlöcher sind. Das Problem sind nicht die (Nicht-)Wahrheit und die Emotion, sondern die dahinterliegende und propagierte Ideologie.

Politik und Emotion haben schon immer und werden auch immer zusammengehören wie Punk und Sterni. Kann mensch sich wirklich vorstellen sich aus rein rationalen Gründen für Politik zu interessieren? Keine*r beginnt sich für Politik zu interessieren, weil das Rentenkonzept jener Partei die Rentenformel viel rationaler anpassen will als eine andere (Obwohl, vielleicht funktioniert das bei Menschen, die in der Jungen Union aktiv werden tatsächlich so. Wer da Erfahrungen hat, möge sich melden!). Politisierung funktioniert über Empörung, Abgrenzung und eben Emotion. Zum Beispiel gibt da immer diese Zeit im Leben – vielleicht zwischen 14 und 18 oder so –, in der die Welt so wunderschön beschissen ist. Der Kopf ist voll von Fragen, Wut und Abgrenzung: Warum verhungern Menschen, wenn auf der Welt doppelt so viel Nahrung produziert wird, wie alle Menschen bräuchten? Das ist doch ungerecht! Warum produzieren wir Strom mit einer Technologie, die in der Lage ist die Welt vollkommen zu verwüsten? Das ist doch bescheuert! Warum zünden Leute Unterkünfte von Geflüchteten an? Scheiß Nazis! Und so geht es weiter. Im besten Fall entsteht daraus eine nachhaltige Politisierung, die Dinge hinterfragt und aus den politischen Angeboten ein Weltbild zusammenbastelt. Dazu braucht es allerdings klare politische Alternativen, die auch fernab von langweiligen Sitzungen und Besprechungen Emotionen und Wut kanalisieren und positiv in politische Forderungen umsetzt.

Postfaktisch war der ganze Laden schon lange / Entpolitisierung

Der (institutionalisierten) Politik sind allerdings weitgehend die Emotion und die Alternativen abhandengekommen. Das liegt zum großen Teil daran, dass etwa seit Mitte der 80er das Dogma „There is no alternative“ (Thatcher) über allem Politischem schwebt. Findige Thinktanks hatten ganz „faktisch“ herausgefunden, dass es keine Alternative zu Deregulierung, Privatisierung, Sozialabbau und ausgeglichenen Staatshaushalten gebe. Diese Idee wurde durch die Standortkonkurrenz im globalen Kapitalismus in die meisten Köpfe gepresst. Letztlich war der Neoliberalismus so hegemonial, dass letztlich nahezu alle Parteien in den westlichen parlamentarischen Demokratien, egal ob konservativ, sozialdemokratisch oder liberal in den westlichen Industrienationen die Alternativlosigkeit verinnerlicht hatten. Plötzlich führten sozialdemokratische Parteien Kürzungen im sozialen Bereich durch, die sonst nur von staatsskeptischen liberalen zu erwarten waren. Grüne führten Kriege, die sonst eher den Konservativen zugerechnet werden worden wären. Kurz: Die Parteien wurden sich immer ähnlicher und kämpften um die sogenannte „Mitte“.

Das Ganze passierte aber nicht nur in den Sphären der parlamentarischen Politik. In den Unis und Hochschulen wurden mittlerweile mehrere Generationen von Wirtschaftswissenschaftler*innen ausgebildet, die genau eine Theorie kennen: Der rationale Nutzenmaximierer – Homo Oeconomicus. Wie wissenschaftlich es ist eine Wissenschaft genau auf einer Annahme zu basieren, lassen wir mal dahingestellt. Die Alternativlosigkeit wurde also vor allem durch Expert*innen legitimiert, die „faktenbasiert“ darlegen konnten, wie die Welt aus ihrer Sicht denn so läuft. Abgesehen davon, dass viele ihrer Annahmen faktisch nicht eingetreten sind – Stichwort Trickle-Down-Effekt – , ist die proklamierte Alternativlosigkeit natürlich Quatsch. Es gibt immer Alternativen, es ist nur die Frage, ob sie gedacht, artikuliert und um sie gekämpft werden, oder nicht. Die paradoxe Situation einer faktenbasierten Alternativlosigkeit, die es faktisch nicht geben kann, könnte vielleicht am ehesten als faktischer Postfaktizismus beschrieben werden.

Die zwei Folgen dieses gesellschaftlichen Klimas:

Einerseits zogen sich die Menschen immer mehr auf sich als Individuum und vielleicht noch ihren nächsten Verwandtschafts- und Freundeskreis zurück. Große politische Organisationen wie Kirchen, Gewerkschaften oder auch Parteien verloren und verlieren an Bindekraft. Ganz im Sinne der hegemonialen neoliberalen Ideologie wurde jede*r „seines Glückes Schmied“. Überall muss Leistung gebracht werden, auf der Arbeit, beim Poweryoga oder in der Beziehung. Zunehmend sind die Menschen auf sich als Individuum zurückgeworfen. Wer es in dieser Welt nicht bringt, ist eben ein*e Versager*in und soll sich auch ruhig wie einer fühlen. Das ist die Kehrseite der Story mit dem ‚Tellerwäscher‘ und dem ‚Millionär‘, die als American Dream so populär ist. Wenn alle Gewinner*innen sein wollen sind letztlich doch die meisten Verlier*innen. Ohne Verlieren kann es kein Gewinnen geben. Und gerade im neoliberalen Kapitalismus stehen wohl die meisten eher auf der Tellerwäscher-Seite.

Andererseits erlebt gerade die Nation als kollektiver gesellschaftlicher Kit eine große Renaissance. Hierbei bedingen sich zwei Dinge gegenseitig. Zum einen waren Rassismus und Nationalismus nie komplett aus den Köpfen verschwunden, es war nur nicht besonders angesehen ihn auch öffentlich vor sich herzutragen oder gar in diesem Sinne zu handeln. Zum anderen kommt auch ein globalisierter neoliberaler Kapitalismus nicht ohne die Heimstatt Nationalstaat aus. Er braucht ihn als rechtlichen Bezugsrahmen, der die Eigentumsverhältnisse absichert, wichtiger in diesem Zusammenhang ist aber, dass die Nation auch eine wichtige ideologische Bindewirkung in einer ökonomisch entgrenzten Welt darstellt. Wenn mal wieder der Exportweltmeister Deutschland gefeiert wird, kann sich jede*r Deutsche ein bisschen auf die Schulter klopfen und sich selbst beglückwünschen etwas zum Sieg Deutschlands im großen Kampf der nationalen Wirtschaftsstandorte beigetragen zu haben. Von der Beute dieses Kampfes gibt’s natürlich nichts, aber ein gutes Gefühl irgendwie was für Deutschland getan zu haben, hilft ja vielleicht auch ein bisschen die Unübersichtlichkeiten der Welt hinter einem Vorhang aus schwarz-rot-gold zu vergessen.

Krise der parlamentarischen Demokratie – was tun?

In beinahe allen bürgerlich-parlamentarischen Demokratien erlebten wir in den letzten Jahren eine zunehmende Zentrierung der politischen Auseinandersetzung um die sogenannte gesellschaftliche Mitte, gepaart mit einer Politik, die weitgehend als alternativlos legitimiert wurde. Demokratie aber lebt vom Streit, vom Diskurs und davon, dass unterschiedliche Interessen um gesellschaftliche Hegemonie ringen. Passiert dies nicht mehr oder immer weniger, eröffnen sich Räume gerade für rassistische und menschenfeindliche Ideologien, wie etwa den Rechtpopulismus. Diesen Zusammenhang haben politische Theoretiker*innen wie etwa Chantal Mouffe (Lesetipp: Über das Politische: Wider der kosmopolitischen Illusion) deutlich herausgearbeitet.

Jedoch sind weder der Siegeszug des Rassismus und Nationalismus, noch die Vereinzelung und der Leistungsdruck im neoliberalen Kapitalismus alternativlos. Was allerdings ganz klar nicht gelingen wird, ist eine emotionale Auseinandersetzung, wie sie gerade etwa um und durch Trump oder auch die AfD geführt wird, einfach zu rationalisieren und sie als postfaktisch und damit nicht einer Auseinandersetzung würdig abzuqualifizieren. Klar müssen Lügen – gerade wenn sie rassistisch, sexistisch oder sonst wie menschenfeindlich sind – als solche entlarvt werden. Wir dürfen uns aber nicht der Illusion hingeben, dass Fakten die braunen Widerlichkeiten beenden würden. Es braucht keine neuen Kategorien um die Entwicklung, die wir gerade erleben zu beschreiben. Postfaktisch war der Laden schon lange. Neu ist, dass es aus einer anderen oder vielleicht auch nur radikaleren Richtung kommt.

Die Kritik muss an der Ideologie, die in den Köpfen derer herumspuckt, die an Stammtischen hetzen, in rechten Think-Tanks Strategien entwickeln, auf der Straße für Deutschland „spazieren gehen“ oder Brandsätze auf Unterkünfte für Geflüchtete werfen ansetzen. Sie sind nationalistisch, rassistisch, sexistisch und homophob – schlicht menschenfeindlich. Dagegen gilt es sich zu organisieren. Gleichzeitig muss der trostlosen Alternativlosigkeit etwas entgegengesetzt werden. Es braucht progressive, emanzipatorische, linke Kollektivität(en), die der Vereinzelung und dem Nationalismus etwas entgegensetzen. Gegenwärtig scheint sich alles eher auf einen Abwehrkampf zu fokussieren – es soll bloß nicht noch schlechter werden. Tatsächlich müssen daraus aber wenigstens mittelfristig Forderungen und Aktionen entstehen, die über Trump, AfD und die Verhältnisse vor dem Erstarken der Rechten hinausweisen.

Vielleicht können etwa die Bewegungen, die sich gerade in den USA gegen Trump bilden das schaffen. Sie sind sehr divers, das ist ihre Stärke und vielleicht auch ihre Schwäche. Wenn es aber gelingt, gemeinsam über die Verteidigung bürgerlicher Freiheiten gegen Trump hinaus, gemeinsame Forderungen zu artikulieren und auch zu erkämpfen, dann hätte die Wahl Trumps vielleicht doch einen positiven Aspekt. Die Offensive muss her, um Kollektivität jenseits von „Wir sind das Volk“, Nation und Dumpfbackigkeit herzustellen. Ja, das bedeutet Streit, Auseinandersetzungen, Emotion und eben keinen Konsens. Aber genau das ist es, was es schon viel früher gebraucht hätte, sowohl im Zweiparteiensystem der USA, als auch in der ziemlich mittigen politischen Landschaft in Deutschland. Nur mit echten Alternativen kann es gelingen diese Auseinandersetzung zu gewinnen.

Trump, Höcke, Petry und Konsorten sind Symptome einer gesellschaftlichen Entwicklung, die viel tiefer und früher angesetzt hat als bei ihren Wahlerfolgen. Sie sind nicht einfach aus dem Nichts gekommen und es hilft auch nichts den verbreiteten Hass aus einer intellektuellen Warte nonchalant als schlicht falsch zu klassifizieren und sich damit bei einem gemütlichen Rotwein auf das Vintage-Sofa einer hippen Szenekneipe fallen zu lassen. Das, was gerade passiert, ist vielleicht der letzte Weckruf. Auch Trump und das, wofür er steht, wird vor Deiner Haustür bekämpft.


Nils Hesse

Nils Hesse hat auch mal was mit Gesellschaft studiert. Schreit und spielt Gitarre bei Postford. Mag Bier aus 0,33er Flaschen, Gummibärchen und manchmal Menschen.

 

 

 

 

 

 


Titelbild: © Lenn Colmer

Beate Zschäpe – Filmstar?

Nein, das auf dem Foto ist nicht Beate Zschäpe, sondern Schauspielerin Anna Maria Mühe. Sie spielt die Terroristin in dem angekündigten ARD-Mehrteiler über den NSU. Ähnliche Filmprojekte folgen. Das darf nicht passieren.

Ein Kommentar von Katharina van Dülmen


„Anna Maria Mühe mimt Beate Zschäpe“, so kündigt das Berliner Fenster den ARD-Mehrteiler über den NSU an, der seit Anfang 2014 geplant, seit 2015 abgedreht ist, aber noch nicht ausgestrahlt wurde. „Schwierig“ ist das erste Wort, das mir in den Kopf kommt. Der NSU-Prozess ist nach über zwei Jahren noch nicht abgeschlossen und Beate Zschäpe nach jahrelangem Schweigen immer noch nicht vollkommen aussagebereit. Wie soll der Plot des Films also aussehen?

Trilogie mit Perspektivwechsel

Laut FAZ handelt es sich bei dem für 2016 geplanten und von Welt-Herausgeber Stefan Aust und Fernsehproduzentin Gabriele Sperl produzierten „TV-Highlight“ um eine Trilogie, die verschiedene Perspektiven einnimmt. Der erste Teil soll sich mit dem Milieu der Täter٭innen, „in den neuen Bundesländern radikalisierenden Jugendlichen, mit den Neonazis“, beschäftigen. Die Perspektive der Ermordeten und ihrer Angehörigen, „die durch die jahrelang fehlgeleiteten Ermittlungen der Polizei selbst zu Verdächtigen […] wurden“, soll im zweiten Teil dargestellt werden. Im dritten Teil spielen die Ermittler٭innen, die lange „im Dunkeln tappten“, die Hauptrollen. Und dann ist noch eine abschließende Dokumentation angekündigt. Bis auf die das Projekt beschreibenden Ankündigungen und ein paar „Das klingt gewagt“-Zitate finde ich keinen Kommentar, keine kritischen Auseinandersetzungen. Nur einzelne Stimmen einiger Leser٭innen unter den Ankündigungen im Netz bestätigen mich in meiner Ansicht: Eine filmische Auseinandersetzung mit der Person Beate Zschäpe und ihrer Rolle im NSU ist zu früh – viel zu früh – und gefährlich.

Spielfilme lenken Gefühle

„Mit diesem auf den ersten Blick kaum zu überschauenden Projekt möchte ich die Menschen emotional so erreichen, dass sie beginnen, die Bedeutung dieses Geschehens wahrzunehmen und zu erkennen, dass unsere Gesellschaft einen dunklen, braunen Fleck hat, den viele, nicht nur die Politik, lieber verdecken möchten. Das muss sich ändern“, so die Produzentin Gabriela Sperl laut FAZ. Ist die Gesellschaft wirklich schon so abgestumpft, dass sie nicht allein durch die Nachrichten von zehn rassistisch motivierten Morden, 15 Banküberfällen und mindestens zwei Bombenanschlägen emotional berührt wird? Braucht sie wirklich noch einen (leicht verdaulichen, verständlichen und mit passender Musik unterlegten) Spielfilm, der ihnen die zu spürenden Emotionen vorkaut und ihr sagt, bei welcher Tat des NSU sie was zu fühlen hat? Denn das ist es, was Spielfilme tun:

„Der Wunsch zu fühlen bildet eine Hauptmotivation dafür, sich Filme anzusehen. Als dramaturgische Gebilde lenken Filme Zuschauergefühle. Sie bauen ein affektives Feld auf, besitzen eine spezifische Affektstruktur. Zu unterscheiden ist u.a. zwischen Fiktionsaffekten, die auf die erzählte Welt bezogen sind, und Artefaktaffekten, die auf die ästhetische Gestaltung bezogen sind.“

Lexikon für Filmbegriffe

Ein Spielfilm ist Fiktion, egal, ob er auf einer wahren Begebenheit beruht oder nicht. Damit ein Film spannend und emotional berührend bleibt, hat er einen bis ins Kleinste kalkulierten Spannungsbogen. Überspitzt gesagt: Alles wird dieser Affekthascherei untergeordnet – auch das zu Erzählende. Gleichzeitig wird den Zuschauer٭innen bei einem Plot, der auf einer wahren Begebenheit basiert, vorgegaukelt, dass das, was dort erzählt wird, der Realität entspricht. Die Zuschauer٭innen sollen glauben, dass es genauso passiert ist. Genauso. Ich gebe Frau Sperl ja recht, in letzter Zeit wurde mehr als deutlich, dass es zurzeit sehr großen Aufklärungsbedarf beim Thema „dunkle, braune Flecken“ in der Gesellschaft gibt. Aber ist eine Trilogie mit Perspektivwechsel der richtige Ansatz?

Figuren werden gezeichnet

Perspektivwechsel sind bei einem solchen Thema gefährlich, denn sie sind motiviert: So spielen sie den Zuschauer*innen einen objektiven Blick auf ein Geschehen vor. Sollen sich die Zuschauer٭innen der NSU-Trilogie etwa in jede der beteiligten Gruppen einfühlen und ihre Motivationen für ihr Verhalten nachvollziehen? Denn Emotionen werden in Spielfilmen auch über Sympathie und Empathie erreicht: Sympathie (Fühlen-für) und Empathie (Fühlen-mit) bilden unterschiedliche Formen der Anteilnahme an Filmfiguren“, so das Lexikon für Filmbegriffe.

In einem Interview mit der BZ erklärt Schauspielerin Anna Maria Mühe den Plot rund um die Figur Beate Zschäpe so: „Unser Film zeigt die Geschichte von Beate, wie sie 14 Jahre alt ist, bis sie 24 Jahre alt ist. Wie sie Uwe Mundlos kennenlernt, sich in ihn verliebt. Und wie sie Uwe Böhnhardt kennenlernt und sich in den verliebt.“ Können wir also eine Liebesgeschichte erwarten, die in vielen grässlichen Taten endet? Beginnt die Geschichte mit einer pubertierenden 14-Jährigen, die langsam der Liebe wegen in die Terrorzelle hineinrutscht? Gibt es in dem Film vielleicht sogar einen Punkt, an dem die Zuschauer٭innen Mitleid mit der Protagonistin haben? Betätigen sich die Filmemacher٭innen als Psycholog٭innen, die der Protagonistin durch den Film ein psychologisches Gutachten ausstellen? Ja, das sind alles Spekulationen. Fest steht jedoch, dass die Figur Beate Zschäpe gezeichnet, charakterisiert werden muss, dass sie von einer beliebten Schauspielerin gespielt wird, dass ihre Lebensgeschichte bis zum noch nicht abgeschlossenen Prozess dargestellt wird, dass das Drehbuch bereits fertiggestellt war, bevor die Fakten vollends geklärt sind, bevor der Gerichtsprozess entschieden ist. Mich würde sehr interessieren, wie die Hinterbliebenen der Ermordeten über das Projekt und ihrer eigenen Darstellung in der Verfilmung denken.

Kommerzielle Ausschlachtung?

Vielleicht tue ich den Filmemacher٭innen unrecht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser ARD-Mehrteiler unter dem Kalkül produziert wurde, das Thema für ihre Zwecke zu nutzen, solange es noch „heiß“ ist. Denn ihre Presseleute haben ganz Arbeit geleistet: Über das Projekt war schon Anfang 2014 in den Medien zu lesen. Ein Blick nach Amerika zeigt, dass die Inanspruchnahme der Filmrechte aktueller Themen längst Mode geworden ist: Jüngst hat Hollywood-Star Leonardo DiCaprio bekannt gegeben, den VW-Skandal zu verfilmen. Filmstoffe scheinen rar und umkämpft zu sein.

Aber nicht nur die ARD hat sich des NSU-Themas angenommen, auch das ZDF hat (zufällig?) zeitgleich ein Doku-Drama (AT: „Letzte Ausfahrt Jena“) mit Lisa Wagner als Beate Zschäpe abgedreht. Achja, und dann soll die NSU-Geschichte auch noch ins Kino kommen. Basieren wird der von Constantin Film produzierte Film auf dem Buch „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU“ von Journalist und Produzent des ARD-Mehrteilers Stefan Aust sowie Autor Dirk Laabs. „Die Autoren rekonstruierten darin die Jagd nach den Neonazis und geben Einblick in den Kampf des Bundesamts für Verfassungsschutz gegen den rechten Terror“, schreibt Die Welt.

Gruseln bei Popcorn und Bier

Auch wenn ich, bevor ich die Filme überhaupt gesehen habe, urteile: Das Projekt ist äußerst fragwürdig. Nicht jedes Thema muss in einem Spielfilm aufgearbeitet werden, nicht jedes Thema kann in einem Spielfilm aufgearbeitet werden, nicht jedes Thema darf in einem Spielfilm aufgearbeitet werden und nicht jede٭r sollte in Spielfilmen eine Plattform bekommen. Kommerzieller Erfolg durch emotionale Affekthascherei darf kein Grund für die Darstellung eines so sensiblen und noch nicht abgeschlossenen Themas sein. Was ist aus den informativen, auf Fakten basierenden Dokumentationen geworden, was aus dem vollends fiktiven Filmstoff?

Ein Zitat aus einem Kneipengespräch: „Naja, die ehemaligen Anwälte der Zschäpe, Heer, Sturm und Stahl müssen in der Verfilmung auf jeden Fall unbenannt werden – die Namen klingen nach einer schlechten SAT.1-FILMFILM-Produktion.“

Titelbild: Anna Maria Mühe beim Berliner Film Festival 2014, Foto von e Siebrands/Wikimedia Commons