Schlagwort: Kalter Krieg

Der reaktionäre Blick auf 100 Jahre Krieg

Während Deutschland noch im Taumel des Jubiläums der Russischen Revolution ist und damit endlich das Reformationsjahr hinter sich lassen kann, dreht der Historiker Gregor Schöllgen die Erinnerungsdebatte schon weiter. Denn er sieht sich in seinem Buch Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte, ausgehend von Russland 1917, die vergangenen 100 Jahre Weltgeschichte an – und kommt zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine Geschichte der Kriege auf globaler Ebene handelt. Leider hat sein Sachbuch an sonstigen Erkenntnissen nicht viel zu bieten.


Schon sein Ausgangspunkt ist zweifelhaft und wirkt künstlich gewählt, um das Jubiläumsjahr der Revolution zu bedienen. Näherliegend wäre es für 100 Jahre Kriegsgeschichte den Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 zu wählen, und selbst wenn man sich für 1917 entscheidet eher den Kriegseintritt der USA, denn die Russische Revolution zu wählen, betrachtet man doch gerne das 20. Jahrhundert als amerikanisches Jahrhundert. Doch Schöllgen muss antisowjetische Reflexe bedienen. Denn die Bolschewiki seien (wie auch der Vietkong) Putschisten gewesen, die mit ihrer Idee der gesamten Welt den Krieg erklärt hätten.

Abgesehen davon, dass er bewusst pejorative Begriffe wie Putsch für Revolutionen gebraucht, hat er scheinbar den Bedeutungsgehalt solcher Begriffe in seiner unsachlichen Abneigung missverstanden, da ein Putsch von einer Herrscherclique in der Minderheit ausgeführt wird, oder auch eine gescheiterte Revolution beschreibt. Beides ist, auch wenn die Bolschewiki de facto eine Minderheit waren, nicht der Fall gewesen. Darüber hinaus zeugt dies von einer ideengeschichtlichen Unkenntnis Schöllgens: Denn erstens erklärt der Sozialismus nicht der Welt, sondern „nur“ dem Kapitalismus den Kampf (es heißt Klassenkampf, nicht Klassenkrieg), und zweitens, unterscheidet der Autor nicht zwischen dem trotzkistischen Konzept der permanenten Revolution bis zur Weltrevolution und dem Stalinismus als Sozialismus in einem Lande, ohne globalen Anspruch.

Hitler dagegen wird von Schöllgen als Putschist (im Hinblick auf 1923 ist das korrekt) und Revolutionär bezeichnet (im Hinblick auf 1933 ist das falsch, da die nationale Revolution ein Mythos ist). Es wirkt mehr als bedenklich, wenn Schöllgen die Realitäten so verschiebt, und es zusätzlich für sicher hält, Stalin habe einen Präventivschlag gegen Nazideutschland geplant, natürlich ohne dass in der Monographie irgendein Beleg angeführt wird. Eine solche Verschiebung könnte man nicht nur als antirevolutionär, restaurativ und antisowjetisch klassifizieren, sondern auch als relativierend gegenüber den Verbrechen der Feinde der Sowjetunion. Auch wenn Schöllgen sicherlich in Bezug auf Hitlerdeutschland nicht darauf hinaus will, könnte dieser Verdacht durch seine verquere Argumentation entstehen.

Von dort aus geht Schöllgen bis zum Beginn des Kalten Krieges weitgehend chronologisch vor und subsummiert die Kriegsphasen unter vereinfachte Schlagworte. Zwischen den Erläuterungen zum Zweiten Weltkrieg und dem Beginn des Kalten Krieges jedoch wird sein Zugang systematischer; sprich, er geht einzelne Charakteristika des Kalten Krieges und der Phase danach, wie Wett- und Abrüsten, durch und arbeitet damit dekadenübergreifend. Diese Teilung in Chronologie und Systematik wirkt ebenfalls willkürlich gewählt und nimmt dem Buch die Übersichtlichkeit. So hat er etwa ein Kapitel zu ethnischen Säuberungen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg verfasst, das aber eben nicht die Phase der Nachkriegszeit umfasst und daher unsystematisch wirkt. Die späteren Kapitel wirken dafür teilweise recht sprunghaft.

Doch auch für die Phase des Kalten Krieges hat Schöllgen einige reaktionäre Weisheiten zu bieten. So unterteilt er die Blöcke tatsächlich in den freiheitlichen Westen unter amerikanisch-britischer Kontrolle und der unterdrückerischen Sowjetunion, was den irrsinnigen Anschein erweckt, der Westen sei ein gelungenes und eben nicht repressives System. Diese Simplifizierung, die eines jeden Intelligenz beleidigen muss, führt Schöllgen aber rund 100 Seiten später selbst ad absurdum. Denn dann weist er auf dem parallel verlaufenden Nord-Süd-Konflikt hin und gibt zu, die USA hätten sich sowohl hier als auch im Ost-West-Konflikt dilettantisch, ignorant und arrogant verhalten. Inwiefern eine ignorante Imperialpolitik freiheitlich sein soll, beantwortet der Historiker nicht.

Dafür hat Schöllgen noch ein paar Binsen zur Implosion der Sowjetunion 1991 zu bieten. Denn sowohl diese Erniedrigung Russlands wie auch die im Ersten Weltkrieg seien eine Erklärung für die Politik Wladimir Putins, die dem Land das Selbstbewusstsein als Großmacht zurückgeben will. Abgesehen davon, dass Putin dieses kritikwürdige Versprechen hält, handelt es sich dabei nicht gerade um eine tiefsinnige Erkenntnis, wegen der man Schöllgens Buch zu lesen bräuchte. Ähnlich verhält es sich bei den letzten Kapiteln zu Terrorismus und Flüchtlingen. Aufgrund des summarischen Charakters vieler Kapitel, fällt es schwer, mehr als nur eine Aneinanderreihung von Fakten zu erkennen – und dafür wäre jedes Lexikon oder Handbuch fruchtbarer.

Man gewinnt kaum Neues aus Schöllgens Buch, außer bekannter Daten und Banalitäten, wie der ausgelutschten These, die Nachkriegsphase sei in einen Dritten Weltkrieg gemündet, wegen globaler Krisen, Stellvertreterkriegen und dem globalen War on Terror etc. Und selbst wenn das noch als überschaubare Sammlung oder Einführung in die Weltgeschichte der vergangenen 100 Jahre fungieren könnte, so machen Schöllgens Ressentiments gegen alles Soziale oder Sozialistische Krieg nur zu einer Hassrede, voller reaktionärer Klassifizierungen. Vielleicht sollte sich Gregor Schöllgen wieder von der internationalen Politik abwenden, jetzt da er emeritiert ist, und sich abermals mit dem beschäftigen, was er die letzten Jahre gemacht hat: sehr wohlwollende Portraits deutscher Firmen schreiben oder eine Biographie über irgendeinen Sozialdemokraten. In beiden Metiers war er weniger störend als auf dem Parkett der Weltgeschichte.


Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte erschien 2017 bei der Deutschen Verlagsanstalt in München, hat 368 Seiten und kostet 24 Euro.
Titelbild: © DVA / Verlagsgruppe Randomhouse

Arno Schmidt – “Die Gelehrtenrepublik”

Arno Schmidt Die Gelehrtenrepublik

Vielleicht ist Arno Schmidts “Die Gelehrtenrepublik” heute kein „aktuelles“ Buch mehr. Vielleicht ist es seit 1989 weniger ein fantastischer als ein „historischer“ Roman. Handelt es doch, wie viele der frühen schmidtschen Werke, wenn auch in stark abstrahierender Form, vom Blockkonflikt, vom Kalten Krieg.

Ein Gastbeitrag von Sören Heim


Die Gelehrtenrepublik handelt damit auch immer von einem Konflikt zweier verfeindeter Mächte, die sich prinzipiell auf das gemeinsame Vernunftideal der Aufklärung beriefen. Die somit auch berechenbar füreinander waren. Nur so konnte das atomare Wettrüsten tatsächlich einen prekären Frieden garantieren. Mit der von Fukuyama als Ende der Geschichte missgedeuteten (oder ist das eine Missdeutung Fukuyamas?) Wende der späten 80er und frühen 90er ist die Zeit dieser konfrontativen Übersichtlichkeit bekanntlich vorbei. Doch lässt die Historisierung des oberflächlichen Hauptkonfliktes der Gelehrtenrepublik es nun vielleicht immerhin zu, genauere Blicke auf tiefere strukturierende Schichten des Werkes zu werfen, ohne leichtfertig einer, wie hoffentlich deutlich werden wird, schon immer grob verkürzenden Lesart als rein geopolitische Parabel zu verfallen. Vielleicht zeigt sich sogar, dass die Gelehrtenrepublik so unvermindert aktuell bleibt, gerade weil es sich nicht um engagierte Literatur handelt.

Die Gelehrtenrepublik – IRAS und der Mond

Die Gelehrtenrepublik spielt in einem beinahe typischen dystopischen Setting. Nach einem Atomkrieg, der einige Jahre vor Ansetzen der Handlung endete, stehen sich die Sowjetunion, die USA, und einige Blockfreie Staaten nach wie vor unversöhnlich gegenüber. Europa ist auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgt worden, der Westen der USA ist verwildert und wird von hominiden Mutationen bewohnt und auf dem zu einer Art Endlager umfunktionierten Mond prangt ein roter Fleck.

Verharren wir einen Moment bei dieser, einer der vielen fein-ironischen Meisterleistungen Schmidts: die Entzauberung des Nachthimmels. Sie setzt durchaus den Ton und eine Stoßrichtung des Romans. Indem Schmidt jene beeindruckende Naturgewalt, den Sturm von zweifachem Erddurchmesser, den wir als ‘Großen Roten Fleck‘ auf dem Jupiter kennen, auf den Mond verlagert (und verkleinert), eint er in zwei simplen Worten Lächerlichkeit und Bedrohlichkeit der “Zweiten Natur”, der gesellschaftlichen, die der Mensch geschaffen hat ohne sie als gemacht noch erkennen zu können. Und die man hinnimmt, wie man eben das Auf- und Untergehen des Mondes hinnimmt.

“Wie deutlich man den ‚Roten Fleck’ sieht!“ (…) (In den Krater Wargentin, im Süden, hatten beide Staaten, USA und UDSSR, angeblich ihr ‚gesamtes spaltbares Material’ geschossen … und das Ergebnis war ein rechter Halemaumau in jener Wallebene gewesen, auch bei Neumond sichtbar. (…) dabei konnte sich jedes Kind am Arsch abklavieren, daß man die Versuchsexplosionen bloß in den interplanetarischen Raum verlegt hatte: woher sonst die vielen ungewöhnlich hellen Sternschnuppen?!) (15)“

Irgendwo auf dem Ozean schwimmt derweil IRAS herum, die neutrale „International Republic for Artists and Scientists“, wo die Künste gefördert werden und das Wissen der Menschheit bewahrt. IRAS erscheint als der wohlorganisierte Hort der Restvernunft, und ist doch bis ins Tiefste gespalten. Da werden Soldaten trickreich auf der Insel stationiert „Aber das war doch auch wieder nur so ein westliches Ablenkungsmanöver!: Selbst wenn die Inselcharta unglücklicherweise das Wort ‚Berufssoldaten’ enthielt: gemeint war doch (…) daß der Soldatengeist als solcher hier nicht erwünscht sei“ (141). Da wird spioniert, was das Zeug hält, da werden Anlagen mit Atomkraft betrieben, obwohl es verboten ist dort „Atome hinzubringen“ (103) – auch das so ein toller augenzwinkernder Schmidt. IRAS bringt die Fronten des Kalten Krieges auf engstem Raum zusammen, und hat doch einen einenden Anspruch; ständig stellt sich die Frage, ob das Programm nicht bereits gescheitert sei, und das Scheitern erscheint als von allen Akteuren in Kauf genommen, jedoch ist die Katastrophe etwas, das es zu verhindern gilt (mit IRAS scheiterte wohl auch, ist das nicht ein hellsichtiger Ausblick auf das Menschenbild der heutigen multipolaren Weltordnung und ihrer postmodernen Ausleger und Auslegungen, ein emphatisch-allgemeiner Begriff von Menschheit).

Mit dem Freien Westen und der UDSSR stehen sich zwei Gesellschaften unversöhnlich gegenüber, die innerhalb des Romankosmos nicht in Bausch und Bogen verdammt werden können (ist doch ein Drittes ebenso undenkbar wie der Sieg einer der beiden Seiten wünschenswert – nur die Konfrontation bei gleichzeitigem Zwang zur Zusammenarbeit zwingt ja beide Seiten einen (rest-)zivilisatorischen Standard zu bewahren). Die Gelehrtenrepublik ist wohl unter den herrschenden postapokalyptischen Verhältnissen durchaus nicht der schlechteste Kompromiss:

„Sie hat, wie die Episode des Schriftstellers Stephen Graham Gregson zeigt, durchaus ihre Berechtigung, indem sie auch als internationaler Schutzraum für verfolgte Autoren funktioniert: Denn Gregson sah sich nach Erscheinen seines Romans „Fals=Werke AG“ 23 Mordanschlägen und 485 Strafanträgen von Seiten der Textilindustrie ausgesetzt, „bis endlich die IRAS hier eingriff“ (Torpedokäfer).

Dennoch wird IRAS zerbrechen, wobei die Gründe dafür nicht allein im auf der Insel ausgetragenen Konflikt zu suchen sind, hätte dieser doch so: „Das Ergebnis? „Wir drehen uns! : Auf der Stelle?“ (149) durchaus ad infinitum fortgeführt werden können.

Yahoo! Sex mit Tieren?

Im ersten Teil des Romans bereist Charles Henry Winer den Hominidenstreifen, gelegen hinter einer Mauer, die im Streifen bezeichnender Weise als „Worlds End“ benannt wird, im mittleren Westen der USA. Es handelt sich um ein Reservat, das bedingt als Antithese der im zweiten Teil entfalteten Welt von IRAS verstanden werden kann. Hier leben Zentaurenstämme, Spinnenkolonien und Schmetterlingsmenschen, allesamt Mutationen, entstanden in der Folge des Atomaren Krieges. Winer erlebt seinen Erstkontakt mit dieser bizarr anmutenden Sphäre der „Usamerikanischen“ Gesellschaft (?) als sexuelle Vereinigung mit dem Zentaurenmädchen Thalja, gleichsam aufregend wie verstörend:

“Im Di¬ckicht also (und sie stand da¬ge¬gen; ihr ers¬tes Mal; schnar¬chend vor Glück.) / Ich gab mir auch alle Mühe (und doch eine ver¬dammt ko¬mi¬sche Si¬tua¬ti¬on: ich mußte immer die Augen zu ma¬chen! Es sei denn, sie bog ge¬ra¬de das Ge¬sicht aufs ge¬fähr¬lichs¬te nach hin¬ten, her; es lang¬te nicht ganz, aber wir kü߬ten we¬nigs¬tens die Luft vor un¬se¬ren Ge¬sich¬tern. Und da konn¬te man sich ein Mäd¬chen ein¬bil¬den.) /”

Wenn Winer so mit Thalja verkehrt, in der man sich „ein Mädchen einbilden“ kann, das Tier aber schwer ausklammern, so verschließt er seine Augen nicht einfach vor dem tierischen Körper, weil ihm das Überschreiten der Gattungsgrenze zuwider wäre (er kopuliert ja gerade gern mit diesem Körper), sondern es ist auch symptomatisch für das konstante Ausklammern des Tierischen am Menschen, ein zentrales Thema der Gelehrtenrepublik, das im Akt jedoch nicht mehr gelingen kann. Ähnlich wie der Erzähler in Gullivers Travels nach dem Verkehr mit einem Yahoo (einer Menschenform, die rein ihren Trieben zu folgen scheint), vor sich selbst erschrickt und seine Triebe ganz zu verleugnen trachtet, ist das Erschauern vor dem tierisch-Triebhaften auch hier angelegt. Winer allerdings löst das im Komischen vorerst auf, und ist letztlich zufrieden, als er erfährt, dass von den „Förstern“, die die Hominidenzohne überwachen, solcherart Beziehungen nicht als Sodomie angesehen werden (45). Das Gesetz erspart ihm die grundlegende individuelle Auseinandersetzung mit Selbst und Umwelt.

Winer reist eine Weile mit den Zentauren, und lässt sich deren Lebensform in der Folge von einem „Förster“ genauer erklären. Zentauren leben in patriarchalisch strukturierten, nomadischen Stämmen, sie haben wohl keine Religion, mit Ausnahme eines „in der Historischen Entwicklung unvermeidbaren Animismus“ (47), so der „Förster“. Wie Winer erfährt tendieren sie, „wie alle Heerden; Erbteil ihrer equiden Hälfte – zum Massenschrecken“ (ibid.). Die Zentauren leben in dauerhafter Feindschaft mit den Never=Nevers, mit hominiden Spinnenwesen, die „ganz junge Zentis fingen“ (23). Wann immer ein Never=Never einen Zentauren getötet hat, findet eine ritualisierte Jagt statt, bei der neben den ausgewachsenen Spinnen auch alle Kinder getötet und die Brut vernichtet wird:

„Die Zentaurenkälbchen, gleichviel ob männ= ob weiblichen Geschlechts hatten sich die wabbligen Eiersäckchen gesammelt (…) die legten sie auf einen Stein, und zertraten die Dinger mit den Hufen wie Knallerbsen, Knatsch hier; dort: Knatsch! (Und freuten sich und lachten.“ (31)

Diese genozidalen Rachefeldzüge „Wir haben schon hundertneunzig auf einmal gehabt“ (Ibid.), die dabei empfundene Freude, sind Winer angesichts der Natur der Never=Nevers „verständlich“ (ibid); er lässt sich sogar selbst mitreißen: „Aber wirklich: Solche Mistviecher! Ich lieh meinem Widerwillen ungekünstelten Ausdruck, und man nickte erfreut ringsum“ (ibid.)
Anders sieht die Sache jedoch aus, als Winer und Thalia später mit einem der „Fliegenden Köpfe“, einer Mensch-Schmetterlings Kreuzung, die die „Förster“ Masken nennen, zusammen treffen. Winer beobachtet andächtig „(Aber süße Gesichter!: So einen Mund, von der raffinierten Länge, und die geile Nase dazu – hatte ich noch nicht gesehen“ (41). Doch Thalja holt alsbald

„aus, und zerknallte es zwischen ihren Fäustchen wie Kinder eine Tüte (…) sie saugten angeblich Frauen die Milch aus, die Fliegenden Köpfe! Knaben den ersten Samen (…) Die männlichen [haben] einen gleich großen, wie aufgepusteten, Penis (setzten sich manchmal lüstern hinten an Zentaurenmädchen an, der Sage nach – was diese ländlichen Schönheiten sich so für Alibis zu verschaffen wissen!“ (ibid.)

Die Legenden erinnern nicht umsonst an antisemitische Tropen von Kindermord und Brunnenvergiftung. Winers bezüglich der Never=Nevers hasserfüllte, hier bestürzte Reaktion „Dabei war’s handgreiflicher Blödsinn; die konnten ja nie und nimmer“, gibt Aufschluss über seine Bereitschaft, allein aufgrund äußerlicher Kriterien über Leben und Tod zu entscheiden (Immerhin, wie bedrohlich die Never=Nevers wirklich sind, lässt sich aus den Berichten von Zentauren und Förstern nicht zureichend rekonstruieren, spielt der Ekel vor der Spinne mit dem Europäergesicht hier vielleicht eine tragende Rolle?).

So findet sich in Hominiden das Menschliche vertiert, bis hin zum wahnhaften, kollektiven Morden. Gerade soweit abgewandelt und aus der Sphäre des genuin Menschlichen, der Gesellschaft, ausgegrenzt, dass es als tierisch erscheint, aber dem Beobachter nicht so sehr entzogen, als dass er es nicht als ihm ähnlich erkennen könnte. Die Bereitschaft zur Paarung mit Zentauren, aber auch die Lust am Wettkampf mit ihnen sprechen hier Bände. Nur zu verständlich, dass Winer im intimsten Moment mit Thalja die Augen schließen muss. Hier ergibt sich übrigens eine Interessante Parallele: In der SU erschaudert der Erzähler beim Sex einer Genossin, die im Gegensatz zu ihm ein “neuer Mensch” sein könnte: ein transplantiertes Gehirn im Frauenkörper. Auch hier wird verdrängt, was nicht sein darf, soll die eigne Identität nicht in Frage stehen: die Möglichkeit, dass der Gegenüber geistig nicht identisch mit seinem körperlichen Selbst ist (und das schlimmste: dass das Gehirn aus einem Mann stammen könnte?).
Aber was sind die Kämpfe der Hominiden untereinander gegen das, was die Aufseher mit ihnen veranstalten? Denn so „natürlich“ aus der atomaren Katastrophe hervorgegangen wie es Anfangs wirkt, ist die Fauna im Hominidenstreifen nicht.

“Wir überwachen sämtliche Trupps ärztlich: brutal missratene; bösartige Männchen; allzugroß Gehörnte – was bei der Geburt Schwierigkeiten machen könnte – werden rück=sichts=los abgeschossen (…) Schärfste Rassentrennung. Zählung und Überwachung teils unauffällig aus der Luft, wie erlebt“ (44f).

Und auch gänzlich unmotiviert müssen Zentauren für Zielübungen herhalten: „Manche hatten, vor Drill und Wüsteneinsamkeit, den Koller gekriegt; und mit dem MG ganze Zentaurenrudel abgeschossen“. Winer bemerkt dazu treffend „Dann ist das allerdings kein Wunder mehr, wenn (…) bei Knällen gern ‚Panischer Schrecken’ ausbricht“ (62). Liegt da nicht der weitreichende Schluss nahe, dass, was am Zentauren archaisch und gar tierisch erscheint, (auch) Produkt menschlicher Herrschaft und Kontrolle, mithin Spaltprodukt des Gesellschaftlichen ist?
Die Stummen „Masken“ dagegen werden von den Menschen direkt gezüchtet, um sie geformt nach Portraits vergangener menschlicher Schönheiten als höhere Haustiere zu halten: „Es handelt sich immerhin um das Schönheitsideal von ´ner ganzen Anzahl Leute; und danach veredelten die hier dann eben eine ganze Linie“ (56). Vielleicht, spekuliert Winer, dienen sie auch als Gespielinnen:

„das wäre ja nun doch wohl ganz entschieden Sodomie gewesen! (Oder ob die das etwa auch anders ansahen? Und systematisch ausgebaut hatten: daß meinetwegen jeder Soldat ‚im Mannschaftsstande seine ‚Fliegende Maske’ im Zimmer hatte?“ (58).

Der Nachwuchs der Masken muss zu noch profaneren Zecken herhalten: „Man kann die Puppen durchaus durch Sieden abtöten, und das Gewebe textil verarbeiten; jede ergibt über ein halbes Pfund dünnes, sehr festes Garn; hier: meine Träger sind daraus“ (51). Der Mensch in der Maske wird durchaus als dem Menschen Ähnliches erkannt, wie es die ‚Liebe’ eines jungen Soldaten zu einer Maske nahe legt:

„wie nach 3 Monaten die geliebte Maske runzelig geworden war; innerhalb von 2 Tagen einschnurrte; noch einmal tonlos „Böhhh“ machte – und dann in sich zusammensank, ein Lappen Gummi: Jünglingstränen; Verzeiflung; tentative de suicide; Abmagerung und andere interessante Symptome“ (62f).

Doch die gefühlte Ähnlichkeit steht der industriellen Tötung des Nachwuchses zwecks Verarbeitung zu Konsumgütern in keiner Weise im Wege. Allein die Never=Nevers stören als Fressfeinde noch, „also müssen diese Never=Nevers weg“ (52)

Die Deutschen sterben aus (nein! wirklich! jetzt!) ?

Der erzählerische Rahmen der Gelehrtenrepublik, die ob ihrer Enthüllungen nur in einer Tote Sprachen erscheinen darf (das erledigt ein „Gelehrter“, der mit Erzählweise und Inhalten der Erzählung oft nicht einverstanden ist, was sich in bissigen Fußnotenkommentaren ausdrückt), ist ein subtiler Schlag ins Gesicht deutscher Selbstüberhöhung. Tot: das Deutsche, in dem der Text vorliegt, tot: das Deutsche, das doch so urwüchsig, rein, Sprache der alten Völker sein soll, tot: das als Antagonismus zur Künstlichkeit der romanischen Sprachen gedachte Deutsche, Widerpart der Sprachen der „lebensfeindlichen“ liberalen Demokratien (überhaupt, die Sprache in Schmidts Romanen so gegen den Strich, dass es den Deutschtümlern wehtun muss, und Poe und Cooper hochgehalten gegen die deutsche ‚Hochkultur’) . Der Erzähler der Gelehrtenrepublik verabscheut alles Deutsche, Seitenhiebe darauf durchziehen den gesamten Roman. Immerhin, unfreiwillig(?) kam der Morgenthau-Plan hier doch noch zu seinem Recht, die Ängste eines Thilo Sarrazin, die Beschwörungen eines Günther Grass wurden erhört. Warum eigentlich? Was haben die Deutschen getan? Und warum kann Winer das Deutsche den Deutschen nicht verzeihen?

Die uns nahe liegende Erklärung wird ausgespart, außer ein paar Allgemeinplätzen wird zu Klärung nichts beigetragen. Doch die völlige Abwesenheit des ‘Zivilisationsbruch Ausschwitz’ (wie oft, doch ganz anders als etwa bei Grass gelagert, in Schmidts Werk) ist keine Schwäche des Romans, ist kein Zurückschrecken vor dem Thema, ist genau genommen nicht einmal Aussparung: Denn sie sagt letztlich mehr über die Gesellschaft der Welt der Gelehrtenrepublik und die Gesellschaft, in der die Gelehrtenrepublik veröffentlicht wurde, als die Thematisierung es hätte können. Wo andere Nachkriegsromane über die Shoa schwiegen, indem sie (am Rande, relativierend, das Volk entschuldend) ein wenig verdruckst über sie sprachen, ist der Völkermord in der Gelehrtenrepublik stets als Verdrängtes anwesend. Auf IRAS bedrängen uns die US Denkmäler mit romantisch-deutscher Innerlichkeit, und die Denkmäler der UDSSR spötteln: “Stalingrad: Sie kamen, sahn; flohn” (122). Gleichzeitig werden Selektion und Zuchtwahl auf der sowjetischen Seite der Gelehrtenrepublik mit durchaus „humanistischem“ Anspruch weitergeführt (die linke Linie eugenischen Denkens wird seit 1945 ganz gern unter den Teppich gekehrt oder zumindest vergessen), während der mittlere Westen und wohl auch das zerstörten Europa als „Hominidenversuchsfeld“ (49) abgeriegelt sind. Reservate als Orte der Deckelung menschlicher Tiernatur.

Der Wunsch des Übersetzers, dass der Autor doch sich abgewöhne „eine ganze Nation in Bausch und Bogen zu verdammen“ (22), muss Wunsch bleiben, weil weder der Übersetzer, noch der Verfasser die Auslöser der Ablehnung zu greifen vermögen, obschon oder gerade weil deren Keimformen auch in der Nachkriegsgesellschaft überlebt haben. Die Gesellschaft hat sich nach dem Krieg nicht substantiell verändert, höchstens kosmetische Korrekturen wurden gemacht; das gilt für die reale Nachkriegsgesellschaft in der die Gelehrtenrepublik erscheint, wie auch für die im Roman beschriebene postnukleare Gesellschaft. Nur über eines scheint man sich dort ziemlich einig zu sein: Dass dem Verschwinden der Deutschen keine Träne nachzuweinen ist, dass es vielleicht zumindest die Konfliktlage vereinfacht hat. Dass ein Ort wie IRAS überhaupt möglich sein soll bestätigt die prinzipielle Rationalität, die der Blockkonfrontation innewohnt, die Bewahrung des menschlichen Wissens, die gemeinsame Förderung der Kunst, das ist etwas, auf dass man sich mit dem NS nicht hätte einigen können, ja: nicht dürfen. Übersetzt man das getilgte deutsche Moment mit dem Weiterleben des Nationalsozialismus und dessen etwa von George L. Mosse in The Crisis of German Ideology herausgearbeiteten Vorformen und gedanklichen Grundlagen, so lässt sich von hier aus sogar eine Brücke schlagen zum Islamismus als neuerlich betont antirationale Bedrohung der oben skizzierten prekären bipolaren Konfrontation, die ja ohnehin seit 1989 Geschichte ist und nur noch in Spaltprodukten fortwest.

Wie sich IRAS gestaltet fällt aber auch das Urteil über eine Menschheit, die nach drei Kriegen die gleichen Konflikte weiter führt, die den Mond in einen atomaren Mülleimer verwandelt hat, die womöglich nicht notwendig direkt, aber doch potentiel auf Vernichtung drängt, die die Identität des Individuums mit sich selbst und der Gemeinschaft über den steten Krieg, bei gleichzeitigem kontrollierten Abspalten des Triebhaften herstellt. Triebhaftigkeit, die doch ständig im (halb-)Verborgenen auf Abfuhr drängt. Das wiederholt und einvernehmlich gebrochene Tabu ist die Klammer, die Innerstes und Äußeres der Gesellschaft in der Gelehrtenrepublik zusammenhält, ist auch tieferer Grund des schließlichen Zerbrechens des Projektes IRAS.

Gulliver kann’s nicht besser wissen

So wie bereits der Akt zwischen Mensch und Zentaur im ersten Teil stellt auch der Schluss der Gelehrtenrepublik einen Bezug her zur Mensch – Tier Thematik in Gullivers Travels, und der prekären Verortung des „Menschlichen“ zwischen Ratio und Trieb. Wo Gulliver das sich Erkennen im Yahoo zur Selbstidentifikation mit den rationalistischen Houyhnhnms treibt, lassen die Erfahrungen auf IRAS den Erzähler an der Menschheit verzweifeln

„Draußen, am Otsego=See vorbei: „Abdallá! : Abdallá schrien die Inselkrähen zur Rückfahrt: die menschliche Gestalt war mir zum Witz geworden! (…) Mensch! War das denn noch subjektiv? Oder Objektiv? Das wurde Einem ja richtig schlecht im Magen!:?!“ (148).

Gulliver und Winer ekeln sich aus scheinbar gegensätzlichen Gründen, die sich erst auf den zweiten Blick ähneln, vor ihren Artgenossen. Gulliver blieb die Hoffnung auf den Rationalismus der Houyhnhnms, dessen Schattenseiten in den Travels nur angedeutet werden. Dieser ist nun endgültig diskreditiert. Winer zieht es zuletzt zurück zu Thalja, zum Grasatem, doch ohne dass darin Utopie, ja sogar die Möglichkeit einer besseren Realität anders denn als Traum aufscheint: „(Und was’n Einfall das wieder: ‚einmal lebt’ich wie Götter’ !!!“

„Alles streichen. Was hatte den größten Eindruck auf mich gemacht? (…) Über die Sandebene kam eine Reiterin. Ohne zu halten an mir vorbei: nur das Gesicht wandte sie, und sah mich fest durch die eine übergroße Goldähre an : ! :
„Thalia ! ! “ / (Ohne zu halten an mir vorbei : nicht die Inrin, nicht die Russin, nicht die Schwester, und nicht die lange Bildhauerin (…) / Thalia.
Ich schlug mit der Hand auf mein geschnalltes Knie : aber morgen früh nichts wie rein mit dem Kanu in die Schilfinseln des Kalamazoo! -.-„ (151)

 


alle Zitate, so nicht anders gekennzeichnet aus:
Schmidt, Arno: Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten. Fischer: Frankfurt a.M. 1981.


SSören Heim Autorenfotoören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. Seine Kolumne HeimSpiel erscheint bei DieKolumnisten.


Beitragsbild: Arno Schmidt – Die Gelehrtenrepublik.01