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Kafka, die Popikone

Als geheimnisvolle Ikone hat inzwischen auch die Popkultur das Potenzial des Prager Dichters Franz Kafka für sich erkannt und verwertet ihn vielfach. Das scheint Kafka einerseits hipper und einem breiten Publikum zugänglich zu machen, aber vereinfachen und entpolitisieren Popkulturen nicht sein Werk?


Was war Ihr Kafka-Moment, als Sie das erste Mal auf den Schriftsteller Franz Kafka stießen? Jeder Fan erinnert sich noch an das erste Mal. Bei mir war es „In der Strafkolonie“ bei einem Deutschlehrer, der den Prager Autor sozialistisch auslegen wollte. Ich war sofort süchtig nach seinen parabolischen Chiffretexten. Kafka ist eine Kultfigur, ein Schriftsteller des Grotesken, des Resignativen. Als geheimnisvolle Ikone hat auch die Popkultur sein Potenzial erkannt und verwertet ihn inzwischen auf breiter Basis. Den Kafka-Biographen Rainer Stach überrascht diese Beliebtheit nicht. Die Figuren Kafkas seien leicht erkennbar, bildeten ein charakteristisches Bildarsenal, das als Werbelogo taugen würde, und sie seien durch ihre Rätselhaftigkeit faszinierend. Zudem haben seine Texte eine Schockwirkung, die subversive popkulturelle Strömungen gerne aufgreifen. „Das wird allerdings gegenüber dem Original oft mit Verlusten an Bedeutungsdimensionen bezahlt“, sagt Stach.

Kafka in der Musik, Kafka als Comic

Etwa erfreut sich Kafka in der Popmusik einiger Beliebtheit. Die Band Blumfeld ist nach einem seiner Protagonisten benannt, und die deutsche Band Tocotronic bezieht sich in ihren Song „Stürmt das Schloss“ auf den Roman „Das Schloß“. Doch hier zeigt sich, dass die Resignation und der kafkaeske Wille des Individuums, lieber zum undurchschaubaren Kreis der Schlossbewohner zu gehören, zugunsten rebellischer Appelle aufgegeben werden. Kafka, so ein Tagebucheintrag von ihm, wollte lieber innerhalb eines Systems unterdrückt werden, als in einer einschließenden Ausschließung davorzustehen. Vielleicht bietet er sich auch deswegen für subversive Popkulturen an: Sie kritisieren auch die Gesellschaft, degenerieren aber oft von Kult- zu Werbeikonen oder werden gar zu kapitalistischen Unternehmern, bleiben also systemimmanent, ohne das Paradox jedoch, wie der verzweifelte Kafka, offenzulegen.

Näher an der Literatur sind Comics. Besonders der Knesebeck Verlag veröffentlicht viele Comic-Adaptionen des Kafkaschen Œuvres, wie „Der Proceß“, „Das Schloß“, „In der Strafkolonie“ oder „Die Verwandlung“. Ihr Lektor Marc Schmidt erklärt, warum: „Kafkas Texte evozieren Bilder und Ideen, die eine große Inspiration für Zeichner sind.“ Seine Stücke seien schwer und dunkel, ein Comic biete einer breiten Leserschaft einen leichteren Zugang. „Und Fans können das jeweilige Werk mit einem neuen Blickwinkel lesen.“

David Zane Mairowitz hat die Texte zu einigen der Graphic Novels zusammengestellt. Ihm zufolge biete sich Kafka durch seine bildhafte Sprache für eine Adaption an. „Ein Mann wacht auf und entdeckt, dass er sich über Nacht in ein Ungeziefer verwandelt hat. Ist das nicht schon ein Comic?“, fragt er. Aber auch er gibt zu, dass durch Adaptionen der Inhalt verändert werde. So lässt er den „Proceß“, anders als den Roman, an konkreten Orten in Prag spielen, und die Zeichnerin Chantal Montellier lässt den Protagonisten Joseph K. wie Kafka aussehen, was eine eher autobiographische Interpretation nahelegt. Neben den Kürzungen im Originaltext fließen auch mal Anglizismen ein, oder es werden durch zusätzliche Kommentare der Protagonisten Deutungen aufgedrängt, wo Kafka offen bleibt. „Die Comics haben nicht die Tiefe der Schriften und können sie nie imitieren“, räumt Mairowitz ein.

Er war auch der Kurator einer Wanderausstellung zu Kafka im Comic, die den Schriftsteller als Humoristen zeigen soll und damit die Vielschichtigkeit, des sonst immer so düster interpretieren Kafkas unterstreicht. „K: KafKa in KomiKs“ hieß die inzwischen beendete Ausstellung.

Jaromir 99 hat die Zeichnungen für den Comic „Das Schloß“ angefertigt. Seine Zeichnungen sind düster, kantig, grotesk und vieldeutig. Er sieht kein Problem in einer solchen popkulturellen Übertragung. „Die Ambiguität von Kafkas Werk ist ein reicher Fundus für alle Sorten von Adaptionen“, sagt Jaromir 99, „man kann kaum falsch liegen, wenn die Interpretationsmöglichkeiten so breit sind“. Die Literatur Kafkas könne qualitativ dabei nicht erreicht werden, aber im Comic kann, so glaubt er tatsächlich, die Atmosphäre plastischer geschildert werden. Atmosphäre statt literarischer Brillanz?

Im Kafkatheater

Teilweise anders als bei Comics oder Musik verhält es sich aber bei Theateradaptionen. So hat der Regisseur Jan Philipp Gloger am Hessischen Staatstheater Wiesbaden in dieser Spielzeit mit dem Stück „Kafka/Heimkehr“ eine Collage aus Kafkatexten kreiert und mit drei Kafkadarstellern und einem Vaterdarsteller vielgefeiert auf die Bühne gebracht. Zwar liegt damit der Fokus auch auf den autobiographischen Vater-Sohn-Konflikt, dennoch finden darüber hinaus auch ausdrucksstarke Mechanismen der Unterdrückung, Bedrohliches und die Minderwertigkeitskomplexe der Protagonisten ihren Platz. Das wird durch ein surreales Bühnenbild unterstrichen, in dem eine altmodische Wohnungseinrichtung mit einem Stuhlberg kombiniert wird, der beispielsweise als Bau, aus der gleichnamigen Erzählung, fungiert.

Für den niederländischen Regisseur Jakob Ahlbom sind die Unterdrückung und das Anderssein die Hauptaspekte in Kafkas Werk. Irgendetwas an einem ist anders, und schon folgen Exklusion und Unterdrückung, ob nun durch staatlich-bürokratische, sozial-familiäre oder metaphysische Instanzen. So hat er Kafka auch in seiner Proceß-Inszenierung im Staatstheater Mainz in der vergangenen Spielzeit adaptiert. Hier wird Joseph K., der aus unerfindlichen Gründen angeklagt wird, der Andere, der aus einem System blonder, maskierter, gleich aussehender und in einem totalitären System agierender Subjekte optisch hervorsticht, indem er dunkle Haare bekommt und als einziger keine Maske trägt. „K. wird angeklagt und steht damit außerhalb einer vermeintlichen harmonischen Gesellschaft, die sich selbst wiederholt“, erklärt Ahlbom seinen Ansatz. Leider kürzt er den Text stark, besetzt neun Schauspieler mit 20 Rollen und bringt den Roman in knapp zwei Stunden durch.

Vielleicht sei dies zu vereinfachend, gibt auch Ahlbom zu, wobei sein Fokus auf den Problemen sozialer zwischenmenschlicher Beziehungen liege. Er glaubt, indem man ein Buch adaptiere, zumal wenn es ein so spannendes sei, könne man neue, wenn auch eingeschränkte Blickwinkel auf den Roman eröffnen, und zwar für ein breiteres Publikum.

Wiedergeburt als Ikone

Kafka, der zu Lebzeiten nur einen sehr kleinen Kreis an Lesern hatte, ist heute so eine präsente Figur, dass er auf verschiedenste Arten ein solches breites Publikum erreicht und zu ungeahnter Popularität kommt. Denn Kafka erfüllt in seinem Werk voll und ganz den eigenen Anspruch an ein Buch, nämlich, dass es als Axt fungieren müsse, für das gefrorene Meer im Inneren des Lesers. Was ihm gelingt, funktioniert bei popkulturellen, vereinfachten Adaptionen aber nicht ganz: Manche, wie Gloger oder Ahlbom, haben seine Werke teils aufrüttelnd im Theater adaptiert, ohne zu konkret zu werden und die Vieldeutigkeit Kafkas zu reduzieren, was bei Comic oder Film, sind sie zu detailliert oder abgewandelt, nicht mehr funktioniert. Die Popmusik versucht ihn eher zu instrumentalisieren, etwa als mythisch-ikonischen Rebell.

Daraus ergibt sich eine kulturkritische Dialektik. Zum einen ist es immer begrüßenswert, wenn ein breites Publikum zu Franz Kafka findet, und dadurch Zugänge zu schwieriger Literatur über Repression und Exklusion geschaffen werden. Zum anderen wird man aber dem Literaturkomplex Kafkas kaum gerecht, wenn man ihn kulturindustriell zur Pop- oder gar Werbeikone stilisiert, um ihn zu instrumentalisieren oder leichter verdaulich zu machen und ihn damit auf wenige Aspekte reduziert: etwa indem man das Politische zugunsten des besonders beliebten (weil von der Interpretation her am einfachsten) Autobiographischen auslässt oder das Judentum in seinem Werk zugunsten seiner Rechtskritik ignoriert. Denn all diese Aspekte kulminieren bei Kafkas Texten nahezu gleichberechtigt.

 

Titelbild: © Knesebeck Verlag

War es eine Komödie, so wollte er mitspielen

Franz Kafka hat keine Dramen geschrieben. Dennoch werden mit großer Regelmäßigkeit Kafkatexte auf die Bühne gebracht. Seit 2014 gehört eine Adaption des Prozess-Romans auch im Berliner Ensemble zum Repertoire. Es sind die Gesten, die an Schlüsselstellen der Handlung im Roman das Geschehen dominieren. Doch wie muss die Kafkasche Prosa umgesetzt werden, um ihr ganzes gestisches Potential zu entfalten?


Auf einer großen Leinwand vor dem Berliner Ensemble prangt das Konterfei Kafkas, Kafka mit Hut, Kafka der junge Dandy; darüber in der obligatorischen Schreibmaschinenschrift der Dachbodenkanzleien steht: »Der Prozeß«. Ein Mädchen zur Seite des Eingangs wirbt mit Kafkas Brezeln für Laugengebäck. Eine weihnachtliche Lichterkette verbindet das BE-Logo mit umstehenden Bäumen. Das Berliner Ensemble hat sich hübsch gemacht für den Prozess.

Kafkas ganzes Werk stellt einen Kodex von Gesten dar. So schreibt es Walter Benjamin 1934 in seiner Schrift zur zehnten Wiederkehr des Todestages Franz Kafkas. Ganz im Zeichen des epischen Theaters seines Freundes Bertolt Brecht vergleicht Benjamin die Suche nach der Bedeutung im Werke Kafkas mit Versuchsanordnungen, deren gegebener Ort das Theater ist. Nun möge man sich darüber streiten, was Benjamin wirklich meinte, als er vom Theater beziehungsweise vom Welttheater bei Kafka sprach. Doch für ihn bleibt »das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde«. Und selbst wenn Brecht nicht allzu überzeugt von dem Potential dieses Autors für die Sache des Epischen Theaters war, so stellt sich im Hinblick auf die Inszenierung am Berliner Ensemble dennoch die Frage: Was passiert, wenn Kafka auf Brecht trifft? Wie sieht das aus, wenn Josef K. im Berliner Ensemble der Prozess gemacht wird?

Der reduzierte Text

»Jemand musste Josef K. verleumdet haben« – Der bedeutende erste Satz des Romanfragments wird maschinenhaft von den zahlreichen Personen auf der Bühne in Schreibmaschinen gehauen. Ihre Hände bewegen sich wie Dampfhämmer. Eine Eingangsszene, die programmatisch wird. Und dabei ist nicht die gelungene Vielstimmigkeit der verschiedenen Schauspieler gemeint, die immer wieder gemeinsam auf der Bühne als eine Art Erzählinstanz vereinzelte Sätze der beschreibenden Prosa des Romans wiedergeben. Vielmehr scheint das Schreibmaschinengetippe die bürokratische Herangehensweise an den Text des Romans zu spiegeln, als hätte man unter dem tosenden Tippen der Maschinen die Prosa pragmatisch zusammengeschnitten. Denn Jutta Ferbers liefert in ihrer Textfassung für Claus Peymann eine äußerst reduzierte Version des Romans. Diese Version beschränkt sich vor allen Dingen auf die Dialoge und Monologe des Textes. Bereits in dem am Eingang zu erwerbenen Programmheft wird auf die Dialoge und Monologe als Ausgangspunkt, dramaturgische Strukturelemente und Rückgrat der Adaption hingewiesen.

Doch eine Beschränkung auf eben diese tut nicht nur dem Roman, sondern auch Kafkas gesamter Poetologie Unrecht. Nicht umsonst gibt es in der Forschung was die Dialoge bei Kafka betrifft zahlreiche Vergleiche mit der indirekten Rede von Gustave Flaubert, die aufzeigen, dass es gerade nicht die wörtlichen Reden sind, die den Text ausmachen. Den Prozess auf seine Dialoge zu reduzieren – das funktioniert nicht, wie man an diesem Abend im Berliner Ensemble sehen kann. Die Inszenierung wirkt platt, mit soviel Inspiration wie eine Inhaltsangabe. Das essentielle des Romans verliert sich in der Abarbeitung der zusammengestutzten Prosa. Liegt es daran, dass das Romanfragment nicht für die Bühne geschaffen ist? Hat nicht schon Max Brod an Bühnenfassungen der Kafkaschen Prosa gearbeitet? War Claus Peymann bei der Handhabung des Stoffes zu vorsichtig, da er doch vorher dem Trend der Bühnenadaptionen von Romanen so entgegenstand? Wo sind die Gesten des Romans?

Hatte man Josef K. schlechte Schauspieler geschickt?

Mit ihren weiß geschminkten Gesichtern und dem übertrieben aufgebrachten roten Lippenstift ist eines sicher zu erkennen: Die Personen auf der Bühne sind Schauspieler, keine Romanfiguren, und sie sollten auch keine sein. Deswegen ist es besonders schade, dass ihnen die Adaption des Textes keinen gestalterischen Spielraum lässt. Unter der niedrigen Decke dieses Textkörpers ist kein Platz für eine wirkliche Entfaltung Veit Schuberts als Josef K., kein Platz um wie K. im Roman die Arme in die Luft zu werfen und einer Erkenntnis Raum zu geben. Die Bucklicht Männlein der Kafkaschen Prosa, das Unausprechliche, das Andere, das Fremde, das im Roman durch die kommentierende, irritierende und manchmal sogar dem Kontext des Verstehens entgegenstehende Prosa ausgedrückt wird, wird leeres Zeichen. Hier wird nichts versucht, nicht experimentiert, dies ist keine Versuchsanordnung. Hier wird wiedergegeben, illustriert, man bewegt sich auf der sicheren Seite, indem man den Text auf das offensichtliche reduziert: die Anklage des Josef K.s von einem unbekannten Gericht, vor einem unbekannten Gesetz, mit einer ungelösten Schuldfrage.

Man versucht, sachgemäß die wichtigsten Szenen des Romans wiederzugeben. Das Verbindende, die Kafkasche Ungewissheit, verkommt zu einem Klischee. Da kann es schon einmal passieren, dass eine Szene völlig ihre Wirkung verliert. So scheint die Szene in der Besenkammer, in der die zwei Wächter von einem sadistischen Gerichtsprügler für die von K. vor dem Untersuchungsrichter beklagte Korruptheit bestraft werden sollen, zusammenhangslos eingeworfen. Anstatt die Bedrohlichkeit des Prozesses für das alltägliche Leben Josef K.s und seine immer tiefer werdende Verstrickung in die Sachen des Gerichtes deutlich zu machen, bleibt die Szene singulär und wird damit fast obsolet.

Wirft man Peymann sonst Gesten mit drei Ausrufezeichen vor, so bekommt der Zuschauer in einem Stück, in der man der Geste Raum geben sollte, nicht selten eine Geste mit Fragezeichen – War da jetzt was? Setzt das Stück sonst auf die Dialoge des Romans, wird K. gerade in einem für den Roman essentiellen Gespräch mundtot gemacht. So geschehen in dem von der Forschung oft als Schlüsselszene betrachteten Kapitel »Im Dom«. Viel zu verkürzt wirkt Josef K.s Auseinandersetzung mit der ihm vorgetragenen Türhüter-Parabel. Dafür ist Jürgen Holtz als Gefängniskaplan in dieser Szene so stark, dass man das wahre Potential einer Bühnenadaption des Prozess-Romans zu spüren bekommt.

Kafkas Prosa – Ein Kodex von Gesten

Franz Kafka hat keine Dramen geschrieben (mit Ausnahme von »Der Gruftwächter«). Doch Kafkas Prosa enthält einen »Kodex von Gesten«, der ein breites gestisches Spektrum umfasst. Kafkas szenisches und gestisches Erzählen tendiert zur »Auflösung des Geschehens in das Gestische«, wie Benjamin feststellt. Vor allen Dingen im Prozess geht dies mit einer zunehmenden Entkonventionalisierung der Gesten einher. Man möge nur an die Stelle denken, in der Josef K. völlig unerwartet und dem Kontext widersprechend sich gebiert, als würde er eine Eingabe vor Gericht machen:

»Als dann die beiden sich an den Schreibtisch lehnten und der Fabrikant sich daran machte, nun den Direktor-Stellvertreter für sich zu erobern, war es K., als werde über seinem Kopf von zwei Männern, deren Größe er sich übertrieben vorstellte, über ihn selbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen zu erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom Schreibtisch, ohne hinzusehen, eines der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte hierbei an nichts Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten müßte, wenn er einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihn gänzlich entlasten sollte. Der Direktor-Stellvertreter, der sich an dem Gespräch mit aller Aufmerksamkeit beteiligte, sah nur flüchtig auf das Papier, überlas gar nicht, was dort stand, denn was dem Prokuristen wichtig war, war ihm unwichtig, nahm es aus K.s Hand, sagte: Danke, ich weiß schon alles‹ und legte es ruhig wieder auf den Tisch zurück. K. sah ihn verbittert von der Seite an.«

Franz Kafka: Der Proceß, S. 174

Oft erscheint es so, als wäre Josef K. selber Schauspieler in einem Stück, dessen Regeln er nicht versteht, doch »[…] war es eine Komödie, so wollte er mitspielen«. Auch am Ende wird wieder der Vergleich zum Theater gezogen:

»Alte, untergeordnete Schauspieler schickt man um mich, sagte sich K. und sah sich um, um sich nochmals davon zu überzeugen. Man sucht auf billige Weise mit mir fertig zu werden.‹ K. wendete sich plötzlich ihnen zu und fragte: An welchem Theater spielen Sie?‹ Theater?‹ fragte der eine Herr mit zuckenden Mundwinkeln den anderen um Rat. Der andere gebärdete sich wie ein Stummer, der mit dem widerspenstigsten Organismus kämpft. Sie sind nicht darauf vorbereitet, gefragt zu werden, sagte sich K. und ging seinen Hut holen.«

Franz Kafka: Der Proceß, S. 306

Franz Kafkas Episches Theater?

So liegt es nicht allzu fern, dass Walter Benjamin sich in seinem Kafka-Essay dem Schriftsteller mit Kategorien des Brechtschen Epischen Theaters nähert. Er beschreibt die Gesten Kafkas als immer neue Versuchanordnungen, die auf ihre Bedeutung hin befragt werden. In seiner Prosa findet eine Verschiebung von Bedeutungen statt: Kafka nimmt »der Gebärde des Menschen die überkommenen Stützen« und findet an ihr »einen Gegenstand zu Überlegungen, die kein Ende nehmen«. Was Brecht und Kafka also gemeinsam ist, ist die Verfremdung. Franz Kafka hat dennoch kein Episches Theater gemacht. Es sind vor allen Dingen die Bühnen, die sich vom Epischen Theater unterscheiden, und das nicht nur bezogen auf die Gattungsdifferenz. Kafkas erzählte Gesten brechen durch den Darstellungsraum des Theaters. Sie kennen keinen Zuschauerraum, keinen Raum außerhalb des Spiels, und lassen sich damit nicht auf eine bloße Theatermetapher reduzieren. Brechts gestisches Staunen verwandelt sich bei Kafka zum panischen Entsetzen vor den »fast unverständlichen Entstellungen des Daseins«.

Deswegen ist Kafkas Prozess dennoch nicht ungeeignet für eine Bühnenadaption. Eher im Gegenteil. Jedoch muss in Anbetracht des vorher Gesagten eine Herangehensweise, die auf eine lediglich wiedergebende und illustrierende Inszenierung setzt, notwendigerweise fehlschlagen. Denn Kafkas Gesten sind ein Mehr, das sich in den Text einschreibt. Der Text ist eine Transkription von Gesten. Wer diese gewaltige Prosa weglässt oder sie fast bis auf die wörtliche Rede reduziert, ohne einen (vielleicht auch visuellen) Ersatz zu schaffen, der radiert ihre Befremdlichkeit aus. Eine gelungene Inszenierung ist zum Beispiel die von Andreas Kriegenburg, damals an den Münchner Kammerspielen, der sich die absurde Macht der Prosa im verfremdeten Schauspiel und einem überragenden Bühnenbild zunutze machte:

Quelle: YouTube

Man könnte sich auch eine Inszenierung vorstellen, die sich in einer Pantomime ganz von der Prosa befreit und sich somit völlig in die Geste zurückzieht. Die weiß geschminkten Gesichter der Schauspieler des Berliner Ensembles weisen bereits darauf hin.

Die Mitte des Geschehens: Die Gebärde

In der Übersetzungsgeschichte von Kafkas Werk hatten Übersetzer immer wieder mit der Uneindeutigkeit der seltsam anmutenden Gesten an Schlüsselstellen der Prosa zu kämpfen. In der französischen Übersetzung wurden befremdliche Gebärden oft einfach mit dem Wort »Geste« übersetzt und mit Hilfe der eigenen Interpretation beschrieben. Die Übersetzungen variieren besonders an diesen Stellen, in denen das Gestische das Geschehen dominiert. Das Kafkasche Inventar von Gesten ist nur schwer zu fassen. Wo die Bedeutungen allzu vielfältig werden und in diesem Überschuss an Bedeutung jeglicher Allgemeingültigkeit beanspruchende Deutungsversuch demontiert wird, verweigert sich der Text einer einfachen, sinngebenden Übersetzung ebenso wie einer Eins-zu-Eins-Umsetzung für die Bühne.

Wichtig für eine Bühnenadaption der Werke Kafkas ist der Mut zur Entstellung. Und – wie bei der Anfertigung einer Übersetzung – vielleicht ein kleines bisschen interpretatorische Freiheit.

 

Literaturangaben:

Walter Benjamin, Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestags, in: Benjamin über Kafka, Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. (2. Aufl.) 1990.

Walter Benjamin, Beim Bau der Chinesischen Mauer, in: Benjamin über Kafka, Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. (2. Aufl.) 1990.

Franz Kafka, Der Proceß, hrsg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1992.

© Titelbild: Le Colmer

Vom Nichts Schreiben und Alles Sagen

Die Gegenüberstellung von entspannender Alltagsliteratur und intellektueller Stimulans wurde hier an anderer Stelle bereits thematisiert. Und ich möchte diese Unterscheidung wieder aufgreifen. Denn ich lese gern „schwierige Bücher“. Neben meinem persönlichen Outing an dieser Stelle, möchte ich gleich noch etwas anderes enttarnen. Ich glaube, dass nicht gerade besonders wortreiche und verschnörkelte Texte der „bedeutungs-schaffenden Tätigkeit“ gerecht werden, die ja den besonderen Gehalt literarischer Werke ausmacht, sondern ganz andere.


Ob Beckett, Bernhard oder Kafka, ich liebe das oft wortkarge Dickicht dieser Autoren. Es ist erstaunlich, wie schmucklos und aufs Nötigste beschränkt eine Geschichte oder Erzählung dieser Autoren daherkommen kann, ohne dass ich mich auch nur im Entferntesten langweile. Was diese Texte auszeichnet, was sie „schwierig“ macht, ist die Art wie sie geschrieben sind. Man liest nicht nur das geschriebene Wort, sondern auch alle diejenigen, die zwischen den Zeilen stehen. Je kompakter und reduzierter ein Text ist, umso mehr passt dazwischen. Und das ist es, was für mich den Reiz des Lesens ausmacht. Ich will mich verlieren. Und zwar nicht in den parallel laufenden Szenen und endlosen Sätzen eines Musils, sondern in den Bildern und Vorstellungen meines eigenen Geistes, die genau dann zum Vorschein kommen, wenn einige wenige Worte sie hervorlocken und ihnen ihren Freiraum lassen.

Wer spricht?

Ich erinnere mich noch genau, wie ich einmal in der Schule ein freiwilliges Referat zu Kafkas „Die Brücke“ hielt. Diese Geschichte hatte mich dermaßen gepackt, dass ich der Meinung war, ich müsste dieses Kleinod der Weltliteratur auch allen meinen Mitschülern nahe bringen. Meine Deutschlehrerin war glücklich, wenigstens eine Schülerin zu haben, die gern las. Meine Mitschülerinnen gaben sich unbeeindruckt. Leider. Denn sie verstanden nicht, welche Großartigkeit ihnen entging. Ein Versicherungsangestellter, der sein tägliches Brot mit dem Bewerten von Schadensfolgen und detaillierten Beschreibungen von Hobelmaschinen verdiente und zu Hause die tiefsten Skizzen der menschlichen Seele mit seinem Füller einfing.

„Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen. Die Schöße meines Rockes wehten zu meinen Seiten. In der Tiefe lärmte der eisige Forellenbach.“ (Kafka 1916/1917, Die Brücke)

Die Brücke lebt nicht lang. Jemand kommt und springt „mit beiden Füßen mir mitten auf den Leib“. Also nicht mir, sondern der Brücke, vielleicht Kafka…? Ein unbarmherziges Ende, denn ich/er/es dürfen nicht einmal erfahren, wer da überhaupt springt und die Existenz zerstört. Gerade als sich die Brücke im Fallen umdrehen will, ist sie nicht mehr, „und schon war ich zerrissen und aufgespießt“. Was diese Geschichte ebenso gnadenlos wie zärtlich macht, ist die unklare Position des Erzählers. Man weiß nicht genau, wer eigentlich spricht. Ist es der Autor, dem man beim Denken oder Träumen zuhört? Oder sind es die Gedanken und Bilder selbst, die sich der Sprache der Schreibenden ermächtigen und sich ihren Weg in die Wirklichkeit bahnen. Ausgeliefert sind nicht nur Schreiber und Protagonisten, sondern auch der Leser.

Nicht Herr im eigenen Haus

„Sie kleideten mich und gaben mir Geld. Ich wußte wozu das Geld dienen sollte, es sollte dazu dienen mir auf die Beine zu helfen. Sobald ich es ausgegeben hätte, müßte ich mir neues beschaffen, wenn ich weitermachen wollte.[…]Die Kleider – Schuhe, Socken, Hose, Hemd, Rock und Hut – waren nicht neu, der Tote mußte aber ungefähr meine Figur gehabt haben.“

(Beckett 1947-1952, Das Ende)

In diesen ersten Beckett`schen Sätzen der Kurzgeschichte „Das Ende“ befindet sich bereits das ganze Schicksal des Protagonisten (Die Deutung bleibt an dieser Stelle jedem Leser selbst überlassen.). Becketts Erzählungen und Texte um Nichts verleihen gerade dem Unsagbaren Ausdruck. Die einfache Sprache und ereignislosen Szenen geben dem Erzähler die Möglichkeit, seine monolog-artigen Lebensbeschreibungen in einer Direktheit zu schildern, die den Leser mitten ins Geschehen werfen. Man ist unmittelbar betroffen. Von den Widersprüchen, den Zweifeln und der scheinbaren weltlichen Nicht-Relevanz des erzählenden Individuums. Es geschieht fast nichts, bis auf das bloße Dasein und reflektieren dieses Daseins der Erzählfigur.

Ausgeliefert-Sein und mit-sich-geschehen-lassen sind die treibenden Motive in Becketts und Kafkas Geschichten. Man hat die Kontrolle verloren, man ist nicht Herr im eigenen Haus. Und genau das ist die bezaubernde Kraft von guten/„schwierigen“ Texten. Der Text macht etwas mit einem, er lässt einen manchmal einfach so da stehen. Was diese Texte gemein haben, ist, dass sie nicht für ein Publikum geschrieben wurden. Ich stelle mir das gern vor und unterstelle diese Haltung einfach den Autoren: Sie schrieben, weil sie etwas sagen wollten, weil „etwas raus musste“, ganz gleich, wer oder ob diese Zeilen jemals jemand liest. Das macht die Texte so wunderbar intim und unmittelbar.

Warum Schreiben, warum Lesen?

Ich denke der Anspruch, mit dem diese Texte gelesen werden müssen, liegt darin, nicht wie ein Wanderer daherzukommen und nach etwas bestimmten zu suchen, ja es sogar mit der Eisenspitze des Stockes zu beklopfen und die Rockschöße hoch zu heben, um zu sehen, was da runter steckt und es auf seine Nützlichkeit hin zu prüfen. Man muss sich einlassen und Angreifbar machen. Man muss die Gedanken eines anderen denken, um bei sich selbst anzukommen. Das ist „schwierig“ und anstrengend, aber auch verdammt schön.

Damit Thomas Bernhard hier noch gebührend erwähnt wird, lasse ich ihn selbst sprechen:

„ich schreibe eine Zeile, seit wie vielen Wochen habe ich keine Zeile mehr geschrieben?, es ist unwichtig, ob ein Mensch schreibt, was er schreibt, ich sage mir immer wieder vor, wie unwichtig es ist, erbärmlich, unanständig, aber diese Zeile ließe sich fortsetzen, entwickeln, zu einem Gedicht machen, zu einem Fetzen, einem …

(Bernhard 1959, In der Höhe, Rettungsversuche Unsinn)