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James Tiptree Jr. – Die Mauern der Welt hoch

Dass das Genre der Phantastik sich seinen Weg aus der Nischenliteratur heraus zur Weltliteratur erarbeitet, mit universellen Themen wie Demokratie, Patriarchalismus, aber auch Liebe, Tod und Versagen zeigt der neu-übersetzte Roman „Die Mauern der Welt hoch“ von James Tiptree Jr.


Unter den Fans von Science Fiction ist James Tiptree Jr. schon lange bekannt für ihre geniale und über die Jahre hinweg gereifte Kurzprosa, mit Topoi wie Liebe, Versagen, Völkermord oder Tod auf interplanetarischer Ebene, die von witziger Erotik bis zu tiefer Trauer reichen. In den 1970ern war es wie eine Explosion in der Nischenwelt des Genres, als publik wurde, dass sich hinter dem Pseudonym James Tiptree Jr., eine Figur, die doch angeblich immer so maskulin und hart schrieb – was auch immer das bedeuten soll –, eine weißhaarige Frau mit Namen Alice B. Sheldon steckte. Ihr erster von zwei Romanen, „Die Mauern der Welt hoch“ (1978 erstmals im amerikanischen Englisch erschienen) wurde 2016 vom Septime Verlag in der neuen kongenialen Übersetzung von Bella Wohl herausgegeben – im Rahmen der Gesamtausgabe ihres literarischen Werkes.

Der Handlungsstrang des Romans ist dreigeteilt, und ermöglicht es Tiptree so, Geschehen und Orte länger und intensiver darzulegen, aber auch das Tempo, das in ihren Erzählungen und Kurzgeschichten meist recht hoch, manchmal gar kafkaesk ist, zu drosseln. Die entscheidende Entität des Romans ist ein immaterielles Wesen, das sich selbst das Böse nennt und ganze Planeten zerstört. Doch es tituliert sich nicht wegen seiner destruktiven totalen Kraft, für die es geschaffen worden sei, böse, sondern weil es in einem Krieg dieser Wesen in die Einsamkeit desertiert und auf eigene Faust durch das Universum wandelt.

Der zweite Handlungsstrang handelt von dem faszinierenden Planeten Tyree, eine paradiesische Welt, auf der riesige, fliegende rochenartige Wesen leben. Diese Bewohner kommunizieren mit ihren biolumineszierenden Körpern, mit bunt leuchtenden Mustern, die Gefühle und Erlebnisse kommunizieren. Das soziale und politische System dieses Planeten ist wohl faszinierender als die Handlung selbst. Die Tyreaner wirken archaisch, aber sind direktdemokratisch in Versammlungen organisiert. Außerdem sind sie ein patriarchalisches System, das aber matriarchalisch geprägt ist, denn die Männchen erziehen die Kinder, da sie mehr Kraft haben, und sind aus dem Grund, dass sie die Zukunft des Planeten hüten die Anführer, während die Frauen Forscher und Kämpfer sind. Manchen Männern ist auch etwas möglich, das als „Lebensraub“ bezeichnet wird: die Fähigkeit das eigene Bewusstsein in den Körper eines anderen Wesens – auch auf anderen Planeten – zu transferieren und das Bewusstsein des Wirtes mit dem eigenen zu tauschen.

Obgleich Lebensraub als Verbrechen gilt, entscheiden die Tyreaner dies systematisch zu nutzen, als der immaterielle Planetenzerstörer sich ihnen nähert und ihre Existenz somit auszulöschen droht. Sie wollen ihre Körper mit einigen Menschen auf der Erde tauschen (natürlich ohne deren Kenntnis), die metaphysische Fähigkeiten haben, ansatzweise Gedanken lesen können und manchmal auch Zukunftsahnungen haben – eine Gruppe unterschiedlicher Protagonisten mit meist psychischen Problemen, mit denen die US-amerikanische Regierung zu Zeiten des Kalten Krieges experimentiert; die Gruppe befindet sich unter Leitung eines frustrierten Mannes namens Doktor Dan, der von Gewissensbissen getrieben wird, da er seine Frau hat sterben lassen, und gerade dabei ist, sich hoffnungslos zu verlieben.

Die Handlung selbst ist faszinierend, besonders die Schilderungen des Planeten Tyree, deren politisches System, und ihre Interaktion mit den Menschen nach dem Lebensraub. Die Geschichte hat im Grunde alles, was man inhaltlich braucht, um Weltliteratur zu produzieren: die detaillierte Schilderung verschiedenster Kulturen aus der jeweiligen Perspektive der Akteure, eine Mischung aus Liebe, Trauer, Einsamkeit, technologischer und metaphysischer actiongeladenen Szenen, und einer elementaren Bedrohung, sowie tiefe philosophische Reflektionen darüber was politisch und ethisch vertretbar ist – und vor allem was nicht.

Das wird noch garniert durch den einzigartigen Stil von Tiptree und ihrem Spiel mit den Geschlechtern – was sich in Anbetracht ihrer eigenen Künstlerbiographie ja auch geradezu aufdrängt. Ihr Stil ist unprätentiös, knapp, manchmal hart, aber oft einfühlsam und unterstreicht vor allem das Faszinosum um fremde Planeten und Existenzen, was durch die neue Übersetzung umso deutlicher wird.

Jedoch merkt man, dass Tiptree aus dem Genre der Kurzprosa kommt, und es scheint, als ob sie in dieser Gattung sich besser entfalten kann. Beispielsweise verliert sie sich in der ersten Hälfte des Romans gerne in marginale Details. Dadurch verlangsamt sich die Handlung enorm, und wird vor allem von den Gefühlen von der eher grauen Erscheinung des Doktor Dan gehindert. In einer längeren Erzählung hätte sich dies auf ein spannenderes Niveau verdichten lassen. Des Weiteren befindet sich in ihrer Erzählstruktur ein eher unangenehmer Bruch. Während in der ersten Hälfte die drei Handlungsstränge sich regelmäßig abwechseln, verwischen sie in der zweiten Hälfte, und auch die drei Erzählperspektiven verändern sich, vermischen sich oder werden am sehr langatmigen Ende gar auf informatische Weise eins. Aber natürlich bleibt bei diesem Kritikpunkt fraglich, ob sich das überhaupt hätte vermeiden lassen, ohne die Handlung zum Schlechteren zu verändern.

Alles in allem hat James Tiptree Jr. mit „Die Mauern der Welt hoch“ bewiesen, obgleich sie vor allem im Bereich der Kurzprosa brilliert, auch ergreifende und komplexe Romane schreiben kann, und somit mühelos neben Science-Fiction-Giganten wie Philip K. Dick oder den Strugatsky-Brüdern eingeordnet werden kann.

© Septime Verlag