Wie weit würden Sie gehen? Wenn Sie erpresst werden? Wenn ihre Familie bedroht wird? Wenn Sie sehen, wie ihre Tochter in einen Sumpf aus wilden Partys und Drogen rutscht? Wenn dem Rechtsstaat die Beweise fehlen, um die Gefahr abzuwenden, die Sie kommen sehen?
Eigentlich hat Finnur (Baltasar Kormákur) ein angenehmes und reibungsloses Leben. Mit seiner Frau Margarét Bjarnadóttir und ihrer gemeinsamen Tochter Hrefna lebt er in einem schicken Haus am Rande von Reykjavik, und sein Beruf als Chirurg ermöglicht der Familie einen komfortablen Alltag. Nur seine Tochter aus erster Ehe macht ihm Sorgen. Anna (Hera Hilmar) ist bereits volljährig, von zuhause ausgezogen, und obwohl er zu ihr ein liebevolles Verhältnis hat, scheint sie sich von ihm zu entfernen. Als sie dann zur Beerdigung seines Vaters verspätet und verkatert erscheint und sich noch vor der Trauerfeier von ihrem neuen Freund Óttar (Gísli Örn Garðarsson) abholen lässt, bekommt Finnur ein ungutes Gefühl.
Wenige Tage später wird sich dieses Gefühl bestätigen. Nachts erhält er einen panischen Anruf seiner Tochter. Von Drogen völlig verwirrt und halb betäubt sei sie auf einer Party überfallen worden. Doch die Polizei findet keine Anzeichen auf Gewalt an ihr und sie selbst kann oder will sich an nichts erinnern. Als Finnur der Sache nachgeht, offenbart sich ihm, dass Óttar mit Drogen handelt. Als er diesen zur Rede stellt und fordert, Anna in Ruhe zu lassen, bedroht dieser erst ihn, dann Anna und schließlich auch Solveig und Hrefna. Zum Handeln gezwungen, sieht sich Finnur vor eine schwierige Frage gestellt. Wie weit ist er bereit zu gehen, um seine Familie zu schützen? Mit der gleichen Präzision, die ihn in seinem Beruf befähigt Leben zu retten, geht er nun Schritt für Schritt gegen Óttar vor. Doch hierbei bricht er nicht nur mit dem hippokratischen Eid, den er als Arzt geschworen hat.
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In 102 Minuten führt uns Kormákur, der nicht nur ein beeindruckender Schauspieler ist, sondern in seinem vierten Film auch die Regie übernimmt, durch eine schonungslos realistische Erzählung. Keiner der Charaktere – selbst Óttar nicht – ist nur gut oder nur böse gezeichnet. Jede٭r spielt seine oder ihre Rolle realistisch, unaufgeregt und lebensnah. Unterstützt wird dieses detailreiche Schauspiel durch eine filmästhetische Mischung aus düsteren nordischen Schneelandschaften und glänzenden Personenaufnahmen, die ein wenig an Hollywood erinnern. Auf die Frage, warum der Film unbedingt auf Island spielen musste, antwortet der geborene Isländer Kormákur: „(…) nur in Island kann sie so wunderbar klaustrophobisch sein.“ Damit sich einem diese spezielle Stimmung wirklich erschließt, sollte man den Film allerdings unbedingt im Original (mit Untertiteln) ansehen. Schon der deutsche Trailer vermittelt einen Eindruck davon, wie viel sonst von der Stimmung des Films verloren geht. Am Ende dieses Thrillers verlässt man das Kino mit einer Frage an sich selbst: Wie dicht ist eigentlich die zivilisatorische Decke, die wir uns umgelegt haben und wie handeln wir, wenn jemand diese Decke mit Gewalt zerschneidet?
Das isländische Duo Pascal Pinon stellt mit “Sundur” trotz des jungen Alters der beiden Schwestern bereits das dritte Album auf die Startrampe und zeigt sich dabei puristisch und gereift – ganze zwei Tage benötigten sie für die Aufnahmen.
Sundur og saman – entzwei und beisammen. Mit Blick auf den vorangegangenen Longplayer “Twosomeness” von 2013 nähert sich bereits vor dem ersten Hören eine erste Ahnung, worauf der jetzt erscheinende Nachfolger “Sundur” abzielt. Tatsächlich bestätigt sich dieser Eindruck durch melancholisch und sehnsuchtsvoll anmutende Kompositionen, die versuchen, die aufmerksamen Zuhörer*innen aus dem rasant vorbeiziehenden Alltag davonzutragen.
Dies ist ganz im Sinne der beiden Bandmitglieder, denn über einen gähnend leeren Terminkalender brauchen sich Ásthildur and Jófríður Ákadottir wahrlich nicht den Kopf zerbrechen. Während erstere in den letzten Jahren mit ihrem Studium des klassischen Klaviers in den Niederlanden ausgelastet gewesen sein dürfte, veröffentlichte Jófríður erst im Juni mit ihrem folkloristisch-elektronischen und vom Trip Hop beeinflussten Projekt Samaris das Album “Black Lights” und wird zudem im September als Mitwirkende auf Sin Fangs Neuveröffentlichung “Spaceland” erscheinen.
So verwundert es kaum, dass das Album innerhalb von zwei Tagen aufgenommen wurde. Zwar sind die einzelnen Stücke bereits im Laufe der vergangenen Jahre entstanden, eine eindeutig nachvollziehbare Verknüpfung in der Abfolge der Titel ist jedoch schwer auszumachen. Es scheint nicht im Interesse der Band gewesen zu sein, ein konzeptuelles Werk auf die Beine zu stellen. Doch ungeachtet dieser differenziert anzumerkenden Charakteristik entwickelt “Sundur”, nachdem es während des ersten Hörens in Teilen noch schwer zugänglich zu Tage tritt, eine durchaus gefällige Dynamik.
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Was den Sound betrifft, setzen Pascal Pinon auf Understatement, das sich wohl am ehesten mit den Prädikaten Lo-Fi und Minimalismus beschreiben lässt. Ergebnis ist eine ausgesprochen ästhetische Klarheit, die das Geschaffene zum einen äußerst authentisch sowie glaubwürdig und zum anderen spezifisch erscheinen lässt. Spezifisch vor allem deswegen, da die klar erkennbare klassisch-musikalische Ausbildung der Zwillingsschwestern, die unter anderem durch multiinstrumentalen Einsatz Ausdruck findet, immer wieder von experimentellen Texturen untermalt wird. So kommen nicht nur vermeintliche Low-End-MIDI-Keyboards zum Einsatz, sondern gar Percussions in Form von Metallschrott und alten Flugzeugteilen, die von Áki Ásgeirsson, dem Vater und Studioassistenten der beiden Musikerinnen, beigesteuert wurden. Diese unkonventionellen Einsätze verschaffen dem Werk eine zunächst ungeahnte Tiefe. Während des Großteils des Albums steht jedoch die charmante Harmonie zwischen Ásthildurs pianistischer Interpretationen sowie des sanften und mystisch erscheinenden Timbres Jófríðurs im Vordergrund.
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Musikalisch ohnehin, verhält sich “Sundur” nicht nur von der Betitelung, sondern auch narrativ als Antagonist zum juvenilen Vorgänger “Twosomeness”, der in allen Belangen freudiger und heller daherkommt. Gleich mit dem ersten Song “Jósa & Lotta” wird deutlich, dass Pascal Pinon persönliche Trennungserfahrungen verarbeiten, die zuallererst die beiden selbst betreffen. In diesem Zusammenhang erzählt Jófríður von der räumlichen Entzweiung der beiden Geschwister, die sich 2013 durch Ásthildurs Studium zwangsläufig ergab und eine neuartige emotionale Herausforderung darstellte. Darüber hinaus kommen andere Dimensionen der zwischenmenschlichen Trennung wie der Tod zur Sprache, was sich im wohl eingängigsten und bittersüßen Titel “53” widerspiegelt.
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Dass mit “Sundur” trotz der sich durch das Werk ziehenden Thematik alles andere als ein klar strukturiertes Konzeptalbum vorliegt, wird auch dadurch dokumentiert, dass die einzelnen Titel scheinbar willkürlich mal in englischer, mal in isländischer Sprache interpretiert werden und für sich stehende Instrumentals das Bild komplettieren. Das erscheint vollkommen legitim, denn all dies tut dem positiven Anschein keinen Abbruch, da Pascal Pinons neues Album durch Authentizität, die verspielten Arrangements und doch reife Ausstrahlung sowie insbesondere den subtilen Gesang Jófríðurs beeindruckt. Das Zusammenspiel des Duos selbst lässt jedenfalls nicht auf die thematisierte räumliche Distanzierung schließen. Man darf also auch auf die weitere Entwicklung der beiden vielseitigen Schwestern gespannt sein.
Gemeinsam mit ihrer Schwester betreibt Jófríður Ákadóttir (links im Bild) die Band Pascal Pinon. Sie ist ebenfalls Teil des Musikprojekts Samaris, aber als JFDR auch solo unterwegs. Da in Kürze das neue Pascal Pinon-Album “Sundur” herauskommt, nutzten wir einen kurzen Berlinaufenthalt der Isländerin, um uns in der Küche von Morr Music ihre neue Musik erklären zu lassen. Und die Welt.
ein Interview von Moritz Bouws und Gregor van Dülmen
Pascal Pinon, das sind deine Zwillingsschwester Ásthildur und du. Wie ist die Band entstanden? Habt ihr von klein auf zusammen Musik gemacht oder gab es einen bestimmten Punkt in eurer Entwicklung, an dem ihr euch gesagt habt, dass ihr eine Band gründen möchtet?
Den gab es, als wir elf Jahre alt waren. Unsere Eltern liehen uns ihren Laptop, zeigten uns das Aufnahmeprogramm GarageBand und erklärten uns, wie man damit umgeht. Wir fanden das großartig und begannen sofort, aufzunehmen, obwohl wir uns damit überhaupt nicht auskannten. Wir hatten noch nicht einmal Kopfhörer. Trotzdem haben wir zwei Alben aufgenommen, damals noch unter dem Namen “Við og Tölvan”, isländisch für “Wir und der Computer”. Wir entschieden dann, eine Band zu gründen. Zu Weihnachten bekamen wir eine Soundkarte, ein Mikrofon und ein Midi-Keyboard, das wir sogar immer noch haben bzw. das wir immer noch hätten, wenn meine Schwester es nicht in Amsterdam liegen gelassen hätte. Als sie nach dem Studium dort die Stadt verließ, hat sie ihre Sachen dort gelassen und sie bis heute nicht abgeholt. Das war vor zwei oder drei Jahren.
Wo lebt sie zurzeit?
In Reykjavík. Sie hat die Stadt seitdem erst zweimal verlassen. Das eine Mal, um mich in London zu besuchen, das andere Mal für ein paar Termine in Berlin.
Und du verfolgst im Moment einen eher nomadischen Lebensstil, stimmt’s? Was bedeutet das?
Dass ich nicht stillsitzen kann, nicht zur Ruhe komme. Und dass ich nicht mein Geld für hohe Mieten ausgeben möchte, wenn ich die meiste Zeit über eh nicht da bin. Ich finde, man muss entweder radikal das eine oder das andere durchziehen, die ganze Zeit über reisen oder sich niederlassen. Vielleicht wäre es eine Option, irgendwo günstig zu leben. Mal sehen, ich arbeite daran!
Wir würden gern über euer neues Album “Sundur” sprechen. Euer Vater hat euch bei der Produktion geholfen. Hat er eine wichtige Rolle für den Entstehungsprozess gespielt?
Ja, er hat uns geholfen. Ich würde sagen, dass meine Schwester letztendlich die Produzentin war, weil sie sich um alles gekümmert hat. Sie war es, die entschied, wie das Album klingen soll, die alles roh und authentisch hielt. Wäre ich für den Sound verantwortlich gewesen, hätte ich wahrscheinlich einfach einen Reverb-Effekt über die Masterdatei, über alle Spuren gelegt, weshalb es für mich erst nicht leicht war, mich darauf einzulassen. Unser Vater war dann derjenige, der uns beruhigen konnte, sich anbot, uns zu unterstützen und dabei zu helfen, die Mikrofone einzustellen und die Technik zu bedienen.
… und euch zu helfen, nicht miteinander zu streiten?
Genau, das war der Punkt. Denn ich war sowieso dafür, dass uns jemand unterstützt. Ich hätte auch jemanden dafür bezahlt, einfach, weil ich es nicht selbst machen wollte. Aber meine Schwester war komplett dagegen, jemanden zu engagieren. Sie hielt das bloß für Geldverschwendung und meinte, dass wir das genauso gut selbst machen können. Ich sagte ihr immer wieder, dass das nicht funktionieren würde, weil sie nicht wisse, wie man aufnimmt und alles an mir hängen geblieben wäre, worauf ich keine Lust hatte. So ging es monatelang, bis mein Vater sagte: “Okay, bucht ein Studio. Ich begleite euch und übernehme die Technik”. Das war für uns beide der beste Kompromiss.
Das neue Album der Schwestern “Sundur” erscheint am 19. August
Ihr wart also nur zu dritt im Studio?
Ja.
Wart auf eurem letzten Album “Twosomeness” auch nur ihr beiden als Musikerinnen zu hören?
Da hatten wir noch einen zusätzlichen Gitarristen für einige Tracks dabei, mit dem wir ein bisschen improvisiert haben. Aber ansonsten waren wir abgesehen vom Produzenten nur zu zweit im Studio.
Aber beim ersten eurer drei Alben “Pascal Pinon” wart ihr noch zu viert. Was ist aus den anderen beiden geworden?
Wir waren noch so jung und wirklich aktiv: Das erste Album haben wir komplett selbst herausgebracht, bevor es später von Morr Music neu herausgegeben wurde. Bis zu dem Punkt haben wir noch alles selbst gemacht. Wir haben die CDs bestellt, sind damit, obwohl wir erst 15 waren, selbst in die Läden gegangen und haben gefragt, ob sie Lust hätten, davon welche zu verkaufen – was auch erstaunlich gut geklappt hat. Denn alle haben zugestimmt. Trotzdem stand ein hoher Druck hinter dem Ganzen, denn jemand musste ja die Buchhaltung machen, jemand die Verkäufe koordinieren und in den Läden nachfragen, ob die CDs ausverkauft sind oder nicht.
Das Problem bestand darin, dass wir gleichzeitig gute Freunde sein wollten, was wir damals auch wirklich waren, und gemeinsam ein Unternehmen führen wollten. Mit 15. Das hat leider einfach nicht funktioniert und es entstand eine Spannung zwischen den beiden anderen Mädchen auf der einen sowie Ásthildur und mir auf der anderen Seite, was mich wirklich traurig gemacht hat. Wir haben dann gemeinsam entschieden, dass die beiden die Band verlassen und wir zu zweit weitermachen. Wir wollten lieber Freundinnen bleiben als uns davon komplett auseinanderreißen zu lassen. Das war also der Grund. Und ein paar Monate später hatten wir dann den Plattenvertrag, was großartig war. Für uns war es einfacher, so weiterzumachen. Aber unsere frühere Gitarristin hat uns später auch noch auf Tour begleitet und war drei Jahre lang in unserer Liveband. Einen allzu großen Unterschied hat die ganze Sache also gar nicht gemacht.
Pascal Pinon, hier noch zu viert:
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Lass uns kurz über euren Bandnamen sprechen: Da gab es ja die historische Person Pasqual Piñón – einen mexikanischen Zirkusdarsteller. Worin besteht die Verbindung, warum habt ihr seinen Namen als Bandnamen gewählt?
Wir saßen damals zu viert in einem Café und blätterten in einem Buch, in dem wir auf ein Bild von ihm stießen. Wir fanden, sein Name “Pasqual Piñón” klingt so schön seltsam, dass wir ihn übernehmen wollten. Der Name gefiel uns also einfach.
Und er schien kein schlechter Kerl gewesen zu sein, oder?
Nein, ich glaube, er wurde einfach nicht verstanden, der Arme.
Pasqual Pinon – “The Two-Headed Mexican” (Quelle: Wikimedia Commons)
Er war Anfang des 20. Jahrhunderts Teil einer Art Freakshow.
Genau, und ich hätte ungern in seiner Haut gesteckt. Die ganze Zeit ausgelacht und angestarrt zu werden und seine gesamte Existenz darauf aufzubauen, Leute zu erschrecken, muss wirklich hart sein. Andererseits liegt aber auch etwas Schönes darin, die eigene Andersartigkeit zu betonen und sie zu seiner Besonderheit zu machen. Unser Bandname ist daher eine Widmung an alle, die anders sind.
Bezüglich deiner Heimat, Island: Man hat von hier aus ein wenig den Eindruck, dass es aufgrund der isolierten Lage immer die Frage einer Zugehörigkeit gibt, dass ihr euch in gewisser Weise auf der einen Seite Europa, auf der andern den USA verbunden fühlt. Falls du zustimmst, wie würdest du diesen Einfluss beschreiben?
Ich stimme zu. Und ich finde Island aus verschiedenen Gründen lächerlich. Der eine Grund ist genau das, was ihr beschreibt. Wir sind gleichzeitig von Amerika und Europa beeinflusst. Zum einen sind wir ein Teil Europas, aber irgendwie sind wir auch ein Teil der USA. Denn wir hatten viele Jahre lang die Militärbasis der U.S. Army in Island. Das war genau zu der Zeit, in der wir unsere Unabhängigkeit erlangten und zum Rest der Welt aufschlossen. Bis dahin waren wir ein wirklich armes Land, aber mit einem Mal kamen ein Wirtschaftsaufschwung und Wohlstand auf, was wir letztendlich der U.S. Army verdanken. Das Bizarre ist, dass dies während des Zweiten Weltkriegs geschah. Überall waren Chaos und Zerstörung, aber Island ging es so gut wie nie zuvor. Das ist auch der Grund, warum es Isländer٭innen an Sensibilität für die Grausamkeiten des Kriegs fehlt, denn im kollektiven Gedächtnis wird die Zeit als eine so positive Periode für das Land wahrgenommen. Für den Rest der Welt ergibt das aber absolut keinen Sinn. Der Krieg wütete nahezu überall, nur in Island gab es Wachstum und vor allem darin besteht der amerikanische Einfluss.
Und dann sind wir natürlich ein Teil Europas, kämpfen aber gleichzeitig um unsere Unabhängigkeit. Es gibt so viele Anti-EU-Kampagnen und wirklich viele Leute, die Angst haben, dass wir unsere Unabhängigkeit verlieren könnten. Sie glauben, Island könne sich selbst versorgen, aber so funktioniert die Welt einfach nicht. Wir sind eine so kleine Gruppe von Menschen und müssen international noch viel enger zusammenarbeiten. Global betrachtet ist Island mit seinen 300.000 Einwohnern einfach ein Witz. Wären wir kein Teil des EWR, wäre ich nicht in der Lage, so einfach zu reisen und wäre vermutlich grad nicht hier in Berlin. Aber genug über Politik, lasst uns zurück zur Musik!
Okay, aber lass uns mit mit einer weiteren Islandfrage zur Musik zurückkehren: Genau wie viele andere isländische Musiker٭innen steht ihr bei Morr Music unter Vertrag. Würdest du sagen, dass das Berliner Label bzw. internationale Indie-Labels wie Morr Music eine bedeutende Rolle dafür spielen, dass die isländische Indie-Szene international immer mehr Beachtung findet? Denn zumindest aus deutscher Sicht scheint es so, als wäre in den letzten Jahren viel passiert.
Definitiv. Die Leute sehen, dass es im Ausland ein Interesse an ihrer Musik gibt, dass diese ihnen es ermöglichen könnte, zu reisen. Aber ich würde nicht unbedingt sagen, dass das ein Island-spezifisches Phänomen ist, denn genau das scheint im Moment auch überall sonst auch der Welt zu passieren. Überall auf der Welt wird Musik gemacht und es entstehen viele spannende Dinge. Überall ist es gleich, etwas kommt durch, etwas anderes bleibt auf der Strecke. In Island ist es genauso. Aber seit ein paar Jahren haben wir in Island das Music Export Office, in dem großartige Arbeit geleistet wird. Sie unterstützen jungen Künstler٭innen und vergeben Stipendien. Es gibt sicher einen starken Zuwachs an Bands, die international unterwegs sind. Auch bekommen Künstler٭innen zu immer früheren Zeitpunkten in ihren Karrieren Plattenverträge. Aber seht euch nur die Karriere von Seabear an, die viele Jahre international unterwegs waren.
Ist die Möglichkeit, durch ihre Musik ins Ausland reisen zu können, also für junge isländische Musiker٭innen eine besondere Motivation, weiterzumachen?
Absolut, genau das ist es, woran wir arbeiten. Und man spielt eben keine internationalen Touren, bevor man ein Label gefunden hat, das einen fördert und marketingtechnisch unterstützt. Mit Pascal Pinon haben wir auch erst im Ausland gespielt, nachdem wir die Zusammenarbeit mit Morr Music begonnen hatten. Davor waren wir bloß einmal in Schweden, was, obwohl es eine großartige Erfahrung war, ein Witz war. Ansonsten sind wir die ersten zwei Jahre gar nicht gereist. Heute hingegen spielen wir in anderen Ländern mehr Konzerte als in Island. Plattenlabel spielen also eine wirklich große Rolle bei dem Ganzen.
In euren Liedern wechseln sich englische und isländische Texte ab. Welche Sprache würdest du der anderen vorziehen? Denn, wie du weißt, gibt es weltweit Millionen von Menschen, die gern isländische Musik hören, obwohl sie die Texte nicht verstehen.
Das ist schwer zu beantworten. In erster Linie mache ich Musik ja für mich selbst. Ich habe dann zum Beispiel einfach etwas Bestimmtes im Kopf, bei dem ich das Gefühl habe, dass es auf Isländisch sein muss, einfach weil der Text und die Poesie darin Sinn ergeben. Würde ich es dann übersetzen, wäre es nicht mehr dasselbe. Andere Künstler٭innen sind da sicher marktorientierter oder denken mehr darüber nach, durch ihre Musik mit Leuten zu kommunizieren. Das kann ich verstehen und respektiere ich voll und ganz. Es ist cool, etwas zu sagen zu haben und Menschen zu haben, die dich verstehen, denn das gibt der eigenen Musik eine weitere Tiefe, eine neue Emotionalität. Aber unsere Musik funktioniert anders. Auf “Sundur” gibt es ja auch zwei Lieder, die gar keine Texte haben und einfach instrumental sind. Wir kümmern uns also nicht darum und machen bloß das, worauf wir Lust haben. Ich singe eben einfach genauso gern auf Englisch.
Der Titel eures neuen Album ist “Sundur”, was das isländische Wort für “auseinander” ist. Ist das ein Hauptmotiv des Albums, auseinander bzw. voneinander getrennt zu sein?
Das ist auf jeden Fall das Hauptmotiv des gesamten Entstehungsprozesses der Platte. Als wir anfingen, daran zu arbeiten, war Àsthildur bereits in die Niederlande gezogen, was ein großer Schnitt für unsere Beziehung war. Bis zu dem Zeitpunkt hatten wir einen so unkomplizierten Zugang zueinander. Über Jahre hinweg haben wir uns ein Schlafzimmer geteilt und hatten als Zwillinge einfach eine extrem enge Bindung aneinander, ob wir wollten oder nicht. Es war bis dahin also sehr leicht für uns, zusammen Musik zu machen, weil wir sowieso immer zusammen waren. Plötzlich war alles anders und wir haben gemerkt, was für ein großer Aufwand es auch schon sein kann, sich überhaupt zu sehen.
Und sind in dieser Trennung Songs entstanden? Habt ihr euch Demos hin- und hergeschickt?
Den ersten Song des Albums haben wir zu zweit geschrieben. Er ist eine Art Einleitung zu unserer Situation. Aber den Rest der Lieder habe ich komplett allein geschrieben. Es hat also eher so funktioniert, dass ich ihr meine Musik präsentiert habe und sie entschieden hat, ob sie sie mag und mit mir etwas daraus machen möchte.
Korrespondiert “Sundur” inhaltlich also mit eurem Vorgängeralbum “Twosomeness” (“Zweisamkeit”). Erzählen beide eine zusammenhängende Geschichte?
Das tun sie. Als Kontraste. Das eine steht gegen das andere. Aber ist es auch das ganz natürliche nächste Kapitel unserer Entwicklung. Das erste Album “Pascal Pinon” besteht vollständig aus Heimaufnahmen. Beim Nachfolgealbum haben wir dann zum ersten Mal mit einem Produzenten zusammengearbeitet, haben zusammen herumgealbert und ausprobiert, was im Studio alles möglich ist. Das war alles neu für uns. Unser neues Album ist eine Art Rückbesinnung auf den Anfang, die ein Ergebnis dieser kurzen Episode der Trennung ist. Ich empfinde es aufgrund der vielen unterschiedlichen Sounds als ziemlich chaotisch. Deswegen habe ich auch damit gerechnet, dass es vielen zu zusammenhangslos und verrückt vorkommen würde. Die Offenheit derjenigen, die es bisher gehört haben, hat mich total überrascht. Es ist eine tolle Erfahrung zu sehen, dass du einfach dein Ding machen kannst und es Menschen gibt, die genau das schätzen. Wenn deine Kunst ehrlich ist, werden Leute das erkennen. Es ist großartig, sich dessen bewusst zu werden.
Impressionen aus der Zweisamkeit:
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Für diejenigen, die euer neues Album noch nicht hören durften: Wie würdest du die musikalischen Unterschiede im Verhältnis zum Album davor beschreiben?
Ich finde, es ist ein lächerliches Album geworden. Aber hört es euch an, wenn ihr wollt. Hoffentlich hat das Label das jetzt nicht gehört… (Sie lacht.)
Vom ersten Höreindruck her klingt die Musik aber auch deutlich melancholischer als beim Vorgänger. Die Songs hören sich viel roher und vielfältiger an. Auch klingt das Album weniger nach einem geschlossenen Konzept, aber direkter und natürlicher.
Ja, das ist vielleicht die beste Art, es zu beschreiben. Es einfach nur lächerlich zu nennen ist eine schäbige Umschreibung. Es tut mir leid, ich streng’ mich nochmal etwas mehr an: Ich hatte einfach etwas Kopf, was ich unbedingt machen wollte. Also sind wir diese Reise gemeinsam angetreten und das Ergebnis ist zwar nicht das, was wir uns am Anfang vorgestellt hatten. Aber es ist auch klar, dass sich Ideen nicht immer eins zu eins umsetzen lassen, sondern sie sich im Prozess wandeln. Und das ist großartig. Denn auch wenn der Entstehungsprozess des Albums chaotisch war, ist daraus auch völlig unchaotische Folk-Musik hervorgegangen. Wären wir wütendere Personen, würden wir mit Sicherheit Punk machen. Unsere Arbeitsweise dahinter wäre aber dieselbe.
Sollte “Sundur” nun euer bisher erfolgreichstes Album werden – wie würde das eure zukünftige Arbeit beeinflussen?
Ich hab’ absolut keine Ahnung. Dinge werden passieren und ich lerne immer dazu.
Und eine letzte Frage: Wird es nach dem Album eine Tour geben? Kommt ihr zurück nach Deutschland?
Ja. Wir gehen im November auf Tour, vom 10. bis zum 20. und spielen unter anderem in Berlin, Münster, Tecklenburg und Köln. Ein paar der Shows sind zusammen mit Peter Broderick. Das wird alles noch bald angekündigt werden, aber das Konzert in Berlin ist auf jeden Fall am 11. November.
Perfekt, dann sehen wir uns im November! Vielen Dank für das Interview.
Ich danke euch!
Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass sie in der Liste noch den Festivalauftritt Pascal Pinons beim Alínæ Lumr am 26. August in Storkow unterschlagen hat. Aber wir haben ja nur nach einer Tour gefragt. Wir lassen derweil noch nicht ganz von Pascal Pinon ab und schließen in wenigen Tagen nochmal ein Review von ”Sundur” an.
Sóley geht es gut. Sie hat sich neulich sogar dabei erwischt, fröhliche Songs zu schreiben. Das hat ihr so viel Angst gemacht, dass sie auf Tour gegangen ist.
Sóley in der Passionskirche, Berlin, 22. Juli 2016
Denjenigen, die schon vor der Fußball-EM von der Existenz Islands wussten, ist auch Sóley vielleicht längst keine Unbekannte mehr, auch wenn sie nach wie vor als Geheimtipp gehandelt wird. Als ehemaliges Mitglied der Band Seabear widmet sie sich bereits seit 2010 ihrem Soloprojekt und ist so Sinnbild einer jungen Generation isländischer Musiker٭innen, denen es gemeinsam gelang, aus dem Schatten von Björk und Sigur Rós heraus eine breite Indie-Szene aufzubauen, die international ihre Liebhaber٭innen findet. Gemeinsam, da sie sich jeweils gegenseitig darin unterstützen, etwas völlig eigenes zu machen. So auch Sóley, die schon in Live-Bands anderer Musiker gesichtet wurde, die sich aber von Anfang ihres Projekts an ureigener experimenteller Musik widmete, in denen sie melancholische Geschichten aus Märchen-, und Horrorwelten erzählt. Auf ihrem ersten Album klang das noch so:
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Zwei Alben und drei EPs später nun findet sie in einer Kirche in Kreuzberg am Flügel wieder und singt umgeben von einer größeren Live-Band hoffnungsvolle “Mommy Songs”, wie sie es selbstkritisch nennt. Ist das dieselbe Künstlerin, die mit ihrem letzten Album “Ask The Deep” noch Depressionen oder die Geschichte eines lebendig Begrabenen vertonte? Oder auf deren Debütplatte “We Sink” sich Songtitel wie “I’ll Drown”, “Kill The Clown” und “Smashed Birds” fanden? Aber diese Fragen beschäftigen offensichtlich niemanden stärker als sie selbst. Denn mit dem letzten Album zu touren und ständig den reduzierten, meist elektronischen fahlen Songs ausgesetzt zu sein, hätte sie, wie sie erzählt, selbst so sehr belastet, dass sie sich zurückgezogen hat, um sich mit neuen Kompositionen zu therapieren. Herausgekommen ist etwas völlig Neues, etwas, was ihr Spaß macht, was sie aber auch verunsichert. Deswegen hat sie sich zu einer kleinen Probetour aufgemacht.
Vielleicht stand ihr Supportact bei dem Berlinkonzert, die Sängerin Mr. Silla, wenn man schonmal an einem so metaphorisch aufgeladenen Ort wie einer Kirche ist, auch für die alte, die nunmehr überwundene Sóley, kommt sie auf der Bühne doch komplett ohne Mitmusiker aus und singt einfach über Electro-Samples, die sie nur selten mit live gespielten Gitarren- oder Keyboardspuren begleitet. Ihr Sound ist dem von Sóleys letzter Platte sehr ähnlich, ist aber eben auch ähnlich spannend.
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Sóley selbst, die ihr jüngstes Werk überraschend kritisch sieht, möchte auf ihrem nächsten Album positivere Musik machen, obwohl ihr die Welt der “Happy Pop Music” eigentlich unsympathisch ist. Aber sie möchte es richtig machen, dabei niemanden verlieren oder vor den Kopf stoßen. Deswegen probiert sie es schonmal live aus, bevor auch nur ein einziger Song veröffentlicht ist. Deswegen ist sie nach Berlin geflogen und sitzt in der Kirche. Für ihre neue Musik öffnet sie sich auch anderen Musiker٭innen. Sie möchte ihren Sound und ihre Liveshow mit einem größeren Ensemble neuerfinden, in dem sich neben Gitarrist und Schlagzeuger auch ein Bläsersatz, eine Akkordeonspielerin und eine zweite Sängerin und Pianistin befindet.
Herauskommt eine Show, die ihrer letzten Tour, ihrem 2015er Konzert in der Volksbühne etwa, tatsächlich überlegen ist, die vielseitig und offen ist. Das Publikum mit neuen Arrangements der alten Songs ans Neue heranzuführen, die dadurch folkiger klingen und sich ein wenig an den Sound von Beirut annähern, funktioniert erstaunlich gut. Den logistischen Aufwand, selbst auch innerhalb von Songs zwischen mehreren Bühnenpositionen hin und her zu wechseln, bewältigt sie mit sympathisch-chaotischer Herangehensweise. Dabei ist es ein Glück, dass sie auch ganze Shows komplett ohne Musik bestreiten könnte, da sie ebenfalls ureigene Comedy-Qualitäten aufweist. Denn eine solche Show, in der alles außer der Musik improvisiert ist, kann auch kippen. Nicht so bei Sóley, die unbeirrt minutenlange Monologe darüber hält, dass ihr Kleid zu kurz ist und sie daran denken muss, die Arme nicht zu hoch zu heben. Dass sie glaubt, ihr Soundtechniker würde sie hassen. Dass sie geträumt hat, zum Auftritt in Berlin würden nur fünf Leute kommen und sie würde sich ständig verspielen. Dass man nicht denken darf, die Männer in ihrer Liveband seien ihre Liebhaber.
Eher nicht so gut aufgegangen ist das Experiment, die Berliner Show in eine Kirche zu legen. Zwar sind die schlichte Eleganz der Passionskirche und ihre herausragende Akustik ein würdevolles Setting. Aber gerade letztere wurde dem Konzert teilweise zum Verhängnis, da eben nicht nur die Musik von der Kuppel endlos hallverstärkt wird. Auch die Geräusche der Theke, die für das Konzert aufgebaut wurde, jede klirrende Flasche, jedes Gespräch durchbrach immer wieder die Performance und ließ keine rechte Konzertatmosphäre aufkommen. Es gibt offensichtlich nicht nur religiöse, sondern auch ziemlich profane Gründe dafür, warum auf Kirchenbänken sonst nicht gesprochen oder Bier getrunken werden darf.
Dass es Sóley ohnehin fremd ist, eine Distanz zum Publikum aufzubauen, entschädigte hierfür in der Show jedoch. Und da es sich bei dem Ganzen um ein Work-in-Progress-Experiment handelte, war ein wenig Proberaumatmosphäre auch verkraftbar. Um die präsentierte Musik war es dennoch schade. Wie Sóleys neues Album wird, bleibt abzuwarten. Es soll 2017 herauskommen. Hoffnungsvolle Musik steht ihr zwar augenscheinlich ziemlich gut, ist aber zunächst ungewohnt. Doch der bleibende Eindruck des Abends ist, dass man Sóley trauen kann, da niemand so souverän mit offenen Karten spielt wie sie.