Hurra! Endlich gibt es ein Hörbuch von Selma Lagerlöfs Klassiker Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, das den Namen verdient.
Ein Gastbeitrag von Sören Heim
Ungekürzt und gut eingelesen ist es bis heute die einzige Alternative zum gedruckten Wort, nachdem die kostenlose dramatische Produktion von Audible seit längerem festzustecken scheint. So können nun auch Generationen von Lesefaulen in die beliebte Debatte Film vs. Buch einsteigen, die ihren Sieger zumindest bei korrekt bildungsbürgerlichem Publikum eigentlich schon immer kennt. Denn in jedem Fall ist das Buch besser, das lernt man schon von klein auf. Auch wenn natürlich eine kluge Filmdramaturgie und die dem Medium fast schon zwangsweise innewohnende Straffung gegen die dem Roman oft inhärente Schwafeligkeit manchmal wahre Wunder wirkt. Gut möglich, dass bei dünkelloser Betrachtung mancher Film manches Buch um Längen schlägt. Aber das hier nur nebenbei. Heute möchte ich einfach einmal Die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (Diesmal: Die Serie) loben, die so viele Kindheiten verschönert hat. Das ist nämlich definitiv eine der Literaturverfilmungen, die man dem hervorragenden Roman zum Trotz auf Augenhöhe mit dem Buch ansiedeln darf.
Die Schönheit des Himmels
Das verdankt die Serie nicht zuletzt der liebevollen zeichnerischen Umsetzung, insbesondere der landschaftlichen Hintergründe, die sich mühen, die von Lagerlöff ausgebreitete geographische Vielfalt Schwedens stimmungsvoll einzufangen. Die Landschaft wiederum wäre nichts ohne die opulenten Himmel: Oft genug sind es die wechselnden Wolkenformationen, die dem statischen Anblick einer Landschaft erst ihre spezifische Schönheit verleihen – diese Erfahrung aus dem alltäglichen Leben hat man in Nils Holgersson gerade in der Überzeichnung wunderbar umzusetzen gewusst.
Werktreue. Und sinnvolle Abweichung
Und auch die Werktreue der Serie beeindruckt. Fast alle der 52 Episoden wurden aus dem Buch übernommen, auch schwierigere Kost wie etwa die Sage von Asa Thor im Jämtland erspart man den kindlichen Zuschauern nicht. Wo abgewichen wird, so durchaus positiv. Die zahlreichen didaktischen Passagen von Lagerlöf (immerhin schrieb die mit Nils Holgersson auch ein Schulbuch) wurden eingedampft und in Dialogen zwischen Nils und seinen Mitreisenden belebt. Gerade Hamster Krümel, den Buchpuristen vielleicht verfluchen mögen, ist dahingehend ein genialer Einfall. Auch wo sonst von der Vorlage abgewichen wurde geschah dies durchaus positiv. Akka, Martin und einige der anderen Gänse wurden zu runderen Charakteren mit eigenständiger Entwicklung umgearbeitet – das macht nicht zuletzt Nils selbstlosen Einsatz für den Gänserich und den herzzerreißenden Abschied zum Schluss um ein Vielfaches glaubwürdiger. Zu Tränen rührt der allerdings auch im Buch.
Die leidige Moralfrage
Ein Wort noch zur Moral, die ja doch in Kinderliteratur nur selten zu Gunsten des Literarischen ganz zurückgestellt wird. Nils Holgersson bleibt da als Buch wie als Serie faszinierend ambivalent – obwohl die ganze Reise nicht zuletzt als Besserungsanstalt für den ungezogenen Nils konzipiert ist. Besonders in der Serie bewertet die erste Folge Nils Verfehlungen vor allem streng christlich. Er geht nicht in die Kirche, piesackt andere Kinder, liest die Bibel nicht. Die Strafe exekutiert aber bereits ausgerechnet eine ganz unchristliche Figur: ein Wichtelmännchen!
Zu Beginn der Reise legen dann die Wildgänse den Mitreisenden gegenüber eine fast schon Ayn Randsche Kälte an den Tag. Werde dein Bestes selbst und geh mir nicht auf die Nerven, das gesamte Credo freiheitlicher Härte wird runtergebetet. Und gerade diese freiheitsgestälten Gestalten entpuppen sich in der Folge als nur scheinbar Vereinzelte, die zwar gern diese Fassade hochziehen, aber im harten Leben auf die Solidarität nicht nur des Schwarms, sondern auch anderer Tiere nicht verzichten können. So nervt Nils Holgersson nicht mit einer klaren moralischen Linie, sondern drängt dazu, immer wieder neu zu beurteilen, was richtig, was falsch, was geboten sein könnte.
Die deutlich vom Buch abweichende Bearbeitung des Stoffes bei gleichzeitiger weitgehender Werkgetreue hat zudem den Vorteil, dass man Buch und Serie sich ohne weiteres parallel zu Gemüte führen kann. Das Hörbuch ist wie gesagt gerade erschienen, alle Folgen der Serie sollen, hört man, auf YouTube zu finden sein.
Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In seiner Kolumne HeimSpiel beleuchtet er die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten.
Titelbild: © Sören Heim