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Leinsee!

Kunstdruckorange, Plastikschildkrötengrün, Gottweiß. Mit diesen und anderen Farbprädikate sind die Kapitel in Anne Reineckes Debütroman „Leinsee“ überschrieben. In dem Buch geht es ums Aufräumen, Abschließen und Fortfahren.


2 + 1 = 2

Die Farbausdrücke beziehen sich auf einen Gegenstandes, ein Detail aus aus der Beobachtung oder der Erinnerung von Karl Stiegenhauer, der Hauptfigur des Romans. Karl ist ein junger erfolgreicher Künstler und Sohn des berühmten Künstlerpaares Ada und August Stiegenhauer. Diese sind durch Plastiken aus Gießharz berühmt geworden, in die sie Asche oder zerkleinerte Überreste von Gegenständen einschließen. Er selbst wendet eine Vakuumtechnik an, mit der er Gegenstände in Plastikfolie einschweißt. Karl ging als Schüler auf ein Internat, ist nach dem Abitur nach Berlin gegangen und hat den Kontakt zu seinen Eltern abgebrochen.

Die Eltern wohnten weiterhin in Leinsee (ein fiktiver Ort in der Nähe von Mannheim) in einer Villa inklusive Atelier, großem Garten und Bootshaus. Karl durfte sich öffentlich nie als Sohn der Stiegenhauers zu erkennen geben und musste das Pseudonym Karl Sund annehmen. Die Eltern haben nie öffentlich über ihren Sohn gesprochen. Die beiden waren sich immer genug und jede weitere Person war eine zu viel. Zu Beginn des Romans ist Karl 26 Jahre alt und wird schlagartig dazu gezwungen, sich mit seinen Eltern, seiner Vergangenheit und dem Haus in Leinsee auseinanderzusetzen. Die Mutter Ada ist im Krankenhaus, um einen Gehirntumor operativ entfernen zu lassen.

Der Vater August hat sich in der Villa erhängt, da er davon ausgeht, dass Ada die OP nicht überlebt. Karl muss die Beerdigung des Vaters organisieren, Fragen nach dem künstlerischen Nachlass der Eltern klären und sich um seine Mutter kümmern. Diese hat wider Erwarten die schwere OP überlebt, allerdings mit bleibenden geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen. Sie hält Karl für ihren Ehemann August. An Karl hat sie keine Erinnerungen mehr. Das alles ereignet sich wenige Tage vor der Eröffnung von Karls großer Einzelausstellung in einer Galerie in Berlin.

Das Mädchen, das nach Basilikum riecht

Der Roman beginnt also ganz klassisch mit einer Krise, die der Protagonist überwinden muss.
Karl möchte keine Anteilnahme seiner Freundin Mara, kein Mitleid seiner Verwandten und keine Fragen von neugierigen Reportern. Er braucht seine Ruhe und igelt sich im Elternhaus in Leinsee ein. Der einzige Kontakt, der ihm nicht zuwider ist, ist das achtjährige Mädchen Tanja, das eines Tages plötzlich im Kirschbaum im Garten sitzt. Nach und nach nähern ich Karl und Tanja an und es entsteht eine Art Freundschaft, indem sie sich gegenseitig durch kleine Gesten und spielerische Überraschungen Freuden bereiten.

Am Anfang ist Karl in seiner isolierten, fast klaustrophobischen Gedankenwelt gefangen. Schrittweise wendet er sich durch die Interaktion mit Tanja aber den Dingen in seiner Umgebung zu. Anne Reinecke beschreibt mit klarer und schnörkelloser Sprache Karls charakterlichen und künstlerischen Öffnungsprozess. Neben den Farben von Gegenständen, Wetter- und Lichtphänomenen spielen auch Gerüche eine wichtige Rolle, da diese bekanntlich eng mit Erinnerungen und subjektiven Empfindungen verknüpft sind. Hier wird auf kluge Weise ein Konzept der „Achtsamkeit“ veranschaulicht und neu belebt, das durch zu viel Ratgeberliteratur fast unerträglich geworden ist.

„Ein neuer Shootingstar am Kunsthimmel“

Die Stärke des Buchs ist die Beschreibung des Innenlebens des Protagonisten und die Verknüpfung mit einer phänomenologischen Beobachtung von Situationen und Stimmungen. Reinecke verdeutlicht, wie eng künstlerische Produktivität und persönliche Entwicklung mit der Wahrnehmung eines konkreten Ortes zusammenhängen. Das Haus und das Grundstück in Leinsee sind fast eigenständige Figuren des Romans. Nebenbei kritisiert Reinecke den Irrsinn des Kunstbetriebs und die reißerische Sprache von Journalist*innen. Die Handlung verliert dabei im Laufe des Romans zunehmen an Bedeutung.

Wendungen werden zwar konsequent und plausibel aufgebaut, deuten sich dadurch aber schon lange im Voraus an. „Spannend“ im Sinne von „was wird wohl als nächstes passieren?“ ist dieser Roman selten. Das muss er aber auch nicht sein, denn die Spannung liegt hier eher darin, wie etwas erzählt wird und nicht, was passiert. Im letzten Viertel verliert die Geschichte aber leider zu viel von ihrer anfänglichen Kraft. Das Buch ist zum Schluss nur noch ein geradliniger Liebesroman mit Happy End. Einfühlsam erzählt ist die Geschichte aber auf jeden Fall.

Hört, hört!

Der Roman erscheint nicht nur als gedruckte Ausgabe, sondern auch als ungekürztes Hörbuch auf sechs CDs. Gelesen wird es vom Schauspieler Franz Dinda. Dindas Stimme ist fest und meistens angenehm unaufdringlich. Die Betonung und der Rhythmus verstärken die Atmosphäre dezent, lassen aber dabei genug Platz zum eigenen Hören. Manche Figuren und Zitate aus Zeitungen werden von Dinda durch eine verstellte Stimme vom restlichen Text abgehoben. Das ist stellenweise aber zu viel und kippt ins Karikaturhafte. Insgesamt ist die Hörfassung aber dennoch gelungen und die gut siebeneinhalb Stunden sind ein intensives Erlebnis. Es bietet sich an, das Buch auf einer langen Bahnfahrt zu hören – z.B. auf der Fahrt von Berlin nach Leinsee.

„Leinsee“ von Anne Reinecke erschien am 28. Februar 2018 im Diogenes Verlag und kostet sowohl als Hardcover als auch als Hörbuch 24 €.
Titelbild: © Dirk Sorge

Nils Holgersson fliegt wieder. Nils wer?

Hurra! Endlich gibt es ein Hörbuch von Selma Lagerlöfs Klassiker Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen, das den Namen verdient.

Ein Gastbeitrag von Sören Heim


Ungekürzt und gut eingelesen ist es bis heute die einzige Alternative zum gedruckten Wort, nachdem die kostenlose dramatische Produktion von Audible seit längerem festzustecken scheint. So können nun auch Generationen von Lesefaulen in die beliebte Debatte Film vs. Buch einsteigen, die ihren Sieger zumindest bei korrekt bildungsbürgerlichem Publikum eigentlich schon immer kennt. Denn in jedem Fall ist das Buch besser, das lernt man schon von klein auf. Auch wenn natürlich eine kluge Filmdramaturgie und die dem Medium fast schon zwangsweise innewohnende Straffung gegen die dem Roman oft inhärente Schwafeligkeit manchmal wahre Wunder wirkt. Gut möglich, dass bei dünkelloser Betrachtung mancher Film manches Buch um Längen schlägt. Aber das hier nur nebenbei. Heute möchte ich einfach einmal Die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen (Diesmal: Die Serie) loben, die so viele Kindheiten verschönert hat. Das ist nämlich definitiv eine der Literaturverfilmungen, die man dem hervorragenden Roman zum Trotz auf Augenhöhe mit dem Buch ansiedeln darf.

Die Schönheit des Himmels

Das verdankt die Serie nicht zuletzt der liebevollen zeichnerischen Umsetzung, insbesondere der landschaftlichen Hintergründe, die sich mühen, die von Lagerlöff ausgebreitete geographische Vielfalt Schwedens stimmungsvoll einzufangen. Die Landschaft wiederum wäre nichts ohne die opulenten Himmel: Oft genug sind es die wechselnden Wolkenformationen, die dem statischen Anblick einer Landschaft erst ihre spezifische Schönheit verleihen – diese Erfahrung aus dem alltäglichen Leben hat man in Nils Holgersson gerade in der Überzeichnung wunderbar umzusetzen gewusst.

Werktreue. Und sinnvolle Abweichung

Und auch die Werktreue der Serie beeindruckt. Fast alle der 52 Episoden wurden aus dem Buch übernommen, auch schwierigere Kost wie etwa die Sage von Asa Thor im Jämtland erspart man den kindlichen Zuschauern nicht. Wo abgewichen wird, so durchaus positiv. Die zahlreichen didaktischen Passagen von Lagerlöf (immerhin schrieb die mit Nils Holgersson auch ein Schulbuch) wurden eingedampft und in Dialogen zwischen Nils und seinen Mitreisenden belebt. Gerade Hamster Krümel, den Buchpuristen vielleicht verfluchen mögen, ist dahingehend ein genialer Einfall. Auch wo sonst von der Vorlage abgewichen wurde geschah dies durchaus positiv. Akka, Martin und einige der anderen Gänse wurden zu runderen Charakteren mit eigenständiger Entwicklung umgearbeitet – das macht nicht zuletzt Nils selbstlosen Einsatz für den Gänserich und den herzzerreißenden Abschied zum Schluss um ein Vielfaches glaubwürdiger. Zu Tränen rührt der allerdings auch im Buch.

Die leidige Moralfrage

Ein Wort noch zur Moral, die ja doch in Kinderliteratur nur selten zu Gunsten des Literarischen ganz zurückgestellt wird. Nils Holgersson bleibt da als Buch wie als Serie faszinierend ambivalent – obwohl die ganze Reise nicht zuletzt als Besserungsanstalt für den ungezogenen Nils konzipiert ist. Besonders in der Serie bewertet die erste Folge Nils Verfehlungen vor allem streng christlich. Er geht nicht in die Kirche, piesackt andere Kinder, liest die Bibel nicht. Die Strafe exekutiert aber bereits ausgerechnet eine ganz unchristliche Figur: ein Wichtelmännchen!

Zu Beginn der Reise legen dann die Wildgänse den Mitreisenden gegenüber eine fast schon Ayn Randsche Kälte an den Tag. Werde dein Bestes selbst und geh mir nicht auf die Nerven, das gesamte Credo freiheitlicher Härte wird runtergebetet. Und gerade diese freiheitsgestälten Gestalten entpuppen sich in der Folge als nur scheinbar Vereinzelte, die zwar gern diese Fassade hochziehen, aber im harten Leben auf die Solidarität nicht nur des Schwarms, sondern auch anderer Tiere nicht verzichten können. So nervt Nils Holgersson nicht mit einer klaren moralischen Linie, sondern drängt dazu, immer wieder neu zu beurteilen, was richtig, was falsch, was geboten sein könnte.

Die deutlich vom Buch abweichende Bearbeitung des Stoffes bei gleichzeitiger weitgehender Werkgetreue hat zudem den Vorteil, dass man Buch und Serie sich ohne weiteres parallel zu Gemüte führen kann. Das Hörbuch ist wie gesagt gerade erschienen, alle Folgen der Serie sollen, hört man, auf YouTube zu finden sein.


Sören Heim Autorenfoto

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In seiner Kolumne HeimSpiel beleuchtet er die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten.


Titelbild: © Sören Heim