Das Werk Dylan Thomas’ entzieht sich bisher der sogenannten Literaturwissenschaft wie großen Teilen der Kritik. Dass etwas so Modernes so zeitlos und alt klingen kann. Dass etwas, dem die Gemachtheit bei genauerem Hinsehen aus jeder Silbe trieft, wirkt als sängen Dörfer, Berge, Felder, Wälder. Und nicht zuckersüß eingehegt, sondern wie urtümlich mit dem Menschen ringend in seltsam wilden, doch alles andere als chaotischen Melodien. Dass selbst die Zoten, Nickligkeiten und Tiefschläge des modernen Alltags (cf. Under Milk Wood), Wortwechsel und Sprüche, die teils zeitgenössischen Sitcoms entnommen sein könnten, im hohen Ton Thomas’ nicht missklingen, sondern das Ganze erst rund werden lassen. All das scheint unbegreiflich in der ansonsten seit Eliot und ein paar einäugigen Beatlern unter Blinden nur noch von schlechten Nachlassverwaltern gefledderten literarischen Moderne.
Ein Gastbeitrag von Sören Heim
Und doch steht da bis heute noch Thomas, auf den sich Post-Hippies wie Kulturkonservative einigen können, der Bob Dylan seinen Namen verliehen haben soll und der heute, welch seltene Ausnahme, unter den Dichtern tatsächlich noch gelesen wird! Steht fest, schwankt höchstens, wenn er einmal wieder zu viel getrunken hat. Idealisch: eine glückliche Fügung. Pragmatisch: ein seltener Zufall. Mystifizierend: die letzte Offenbarung eines Gottes an den Menschen. Und kein Wunder, dass es in Gestalt eines Gauklers und Spielers, eines Trinkers und Tricksters geschah. So trat das Große zuerst bereits Faust gegenüber.
Die seltene Konstellation
Um, was heute von Thomas bleibt, möglich zu machen, bedurfte es wohl einer spezifischen historischen Konstellation ebenso wie dem kaum wiederholbaren Zusammentreffen mit einer besonderen Persönlichkeit aus ebenfalls sehr spezifischem Umfeld:
Einer, der mit dem Dasein und der Zeit hadert, ohne sich verbittert abzuwenden. Der die Umwälzungen der Moderne, in die er hineingeworfen wird, jederzeit auch anzunehmen bereit ist und sie auf Möglichkeiten abzuklopfen, wenn schon nicht dauerhaft Glück, so zumindest Gehör zu finden. Ein noch frühbürgerlich-bäuerliches Aufwachsen in einer zwar im Weltmaßstab zentral gelegenen, im zerbrechenden Empire aber schon peripheren Region, an einem Ort wo noch Sonnenlauf Jahreszeiten, Rückstände von Zunft- und Ständewesen das Leben bestimmen, doch London und Radio, Lichtspielhäuser, U-Bahn und Flughafen nicht fern sind. Ein junger Mann, der diese Gegensätze ergreift, der auch keine Angst vor den neuen Medien hat. Kein Lyriker vor und interessanterweise auch keiner mehr nach ihm begriff so wie Thomas die Möglichkeiten diverser Tonträger und war bereit die schwierige Balance zwischen leicht verkopfender Schreibtischdichtung und klangvoller – damit aber auch kitschgefährdeter – Vorleselyrik zu suchen, ohne eines dem anderen aufzuopfern.
Nur so einer kann einen Text wie Fern Hill verfassen, der gehört werden muss um verstanden, mehrfach gelesen, am besten einmal selbst übersetzt, um zumindest annähernd erschlossen zu werden.
Deutsche Übersetzung:
Quelle: YouTube
Original:
Quelle: YouTube
Kein Romantiker
Ein alles andere als romantischer Text übrigens (diese Fehleinordnung Thomas wird durchaus gerne mal vorgenommen), was genauer zu belegen vielleicht einmal ein späterer Essay antreten wird. Für diesen Moment muss der Hinweis genügen, dass die Regentschaft des Kindes in der dörflichen Scheinidylle viel mit der hier beschriebenen Selbstbeherrschung des „Man Muss“ bei Peter Kurzeck gemein haben dürfte:
„(…) Der Sprecher zeigt die dem Anschein nach freie Kindheit (…) als eine von Regeln bestimmte und durchformte, von fremden wie von selbst geschaffenen. Das gelingt ihm, besser als wenn er sich urteilend über die kindliche Erlebniswelt aufschwingen würde, mit dieser einen Floskel, die so unglaublich typisch kindlich ist, und so erwachsen klingt (…) „man muss…“.
Kurzeck erzählt damit auch, quasi nebenbei, wie der Autor sich die Freiheit zum Erzählen gewinnt. Gegen das gängelnde „du musst“ der Dorfgesellschaft, der Erwachsenenwelt stellt das Kind „man muss“ seine eigene strikte Regelwelt auf (…)“
So einer lebt vielleicht auch das Leben groß, auch in der Schwäche, wohl, weil er nicht anders kann, weil, obwohl längst nicht alle, sich doch bestimmte Formen von Genie und Wahnsinn in einer über weite Strecken für den Geistreichen kaum ertragbaren Welt berühren müssen.
Zur Illustration über Thomas’ Tod aus der sonst dramaturgischer Glanzleistungen unverdächtigen Wikipedia:
„A turning point came on 2 November. Air pollution in New York had risen significantly and exacerbated chest illnesses such as Thomas had. (…) On 3 November, Thomas spent most of the day in bed drinking. He went out in the evening to keep two drink appointments. After returning to the hotel he went out again for a drink at 2 am. After drinking at the White Horse, a pub he had found through Scottish poet Ruthven Todd, Thomas returned to the Hotel Chelsea, declaring, “I’ve had 18 straight whiskies. I think that’s the record!” (…) When phoned at the Chelsea that morning, he said he was feeling ill and postponed the engagement. Later he went drinking with Reitell at the White Horse and, feeling sick again, returned to the hotel. (…) At midnight on 5 November Thomas’s breathing became more difficult and his face turned blue. An ambulance was summoned (…)“
Gewiss, medizinisch ist Dylan Thomas’ wohl vor allem die Lebensgeschichte eines womöglich manisch depressiven Alkoholikers, weshalb der Autor gern zur Illustration von Artikeln zum Thema Depressionen herangezogen wird (Allerdings: Vorsicht mit diesen Ferndiagnosen durch Zeit UND Raum!). Zeitgenossen, die dem Kult der Angepasstheit frönen und sich dabei noch mutig Individualisten nennen, mögen urteilen: Wäre Thomas doch lieber ein braver Bankbeamter geworden, hätte er doch die Finger von hochfliegenden Träumen gelassen, dann hätte ihn vielleicht auch der Suff nicht erwischt. Was wir aber wissen: Thomas wurde genau das, was er sich früh zum Ziel erkoren hatte. Und solange, bis wir das Leid an der Welt, das Thomas mit gleichzeitig großem Enthusiasmus und voller Hingabe in Worte umsetzte, als persönliches Problem nehmen und nicht als gesellschaftliches, hat niemand das Recht hier aufzuzeigen.
Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist u.a. Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku), des Binger Kunstförderpreises und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In seiner Kolumne HeimSpiel beleuchtet er die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten.
Auf dem Titelbild: Dylan Thomas’ Arbeitsplatz in Laugharne (Wales), © Commons Wikimedia