Lars Eidinger, Christian Friedel und Vlad Chiriac haben wenig gemeinsam. Und doch wollen sie alle als Hamlet den Tod des Vaters rächen. Dabei vertreten sie unterschiedliche Ansätze – und nicht nur des Publikums wegen.
Wenn das Publikum lacht
Hamlet liegt in Embryonalstellung auf den Bühnenbrettern. Das Holz ist von Dreck verfärbt, obwohl zuvor ein in Hausmeisterdress gekleideter und mit nordischem Dialekt sprechender Schauspieler diese mit einem Staubsauger gereinigt hat. Denn es wurde die dänische Königsfamilie erwartet – die Königin von Dänemark, ihr Sohn Hamlet und der neue König, Bruder des alten, Claudius. König und Königin sind längst hinter der großen Dänemarkflagge verschwunden. Zurück bleibt Prinz Hamlet. Er trauert um seinen Vater Hamlet, ehemaliger König von Dänemark. Die Hände zu Fäusten geballt. Sein Gesicht nicht zu sehen. Seine Verzweiflung und Wut ist in jedem Wort zu hören, das seine kraftvolle Stimme in die Berliner Abendluft tönt. Das Publikum lacht. Es lacht. Es lacht bei einer Tragödie von William Shakespeare. Wäre dieser Hamlet vom Berliner Schauspieler Lars Eidinger verkörpert worden, würde sich dieser nun mitsamt seines Fatsuits feierlich auf die Beine erheben. Er würde zum Bühnenrand gehen und sich bedächtig an das Publikum wenden: „Ihr lacht? Ihr lacht, obwohl ich hier am Boden liege? Obwohl ich hier Dreck und Erde fresse?“ Aber der Hamlet auf der Bühne ist nicht Lars Eidinger, sondern Vlad Chiriac des Monbijou Theaters. Und warum sollte dieser, nachdem er bereits das Kindergeschrei im Park gleich neben dem Amphitheater und die Musik der Swingbar direkt am Spreeufer überspielt hat, nicht auch das Lachen des Publikums ignorieren? Zwei Orte, zwei Theater, zwei Hamlets. Und dann wäre da noch ein Dritter, der nach seinem Vater ruft.
Wenn Hamlet Hamlet anruft
Der dritte Hamlet schreit ins Mikrofon. Seine Hände spielen auf einem Keyboard. Er steht vor einer pompösen Theaterkulisse – kein Dreck, keine Erde in Sicht. Seine Mutter, sein Onkel und seine Schulfreunde Rosencrantz und Guildenstern sitzen auf Theaterrängen. Mit einem Glas bis zum Rand gefüllt mit Alkoholhaltigem schauen sie herab auf das Schauspiel des Prinzen von Dänemark. Dieser singt schweißüberströmt: „I’ll call thee Hamlet. I’ll call thee, Hamlet, king, father, royal Dane, king, father, royal Dane. O, answer me.“ Sein Vater antwortet nicht – noch nicht. Immer wieder verlässt Hamlet durch eine Flügeltür die Bühne. Kommt kurz darauf zurück, seine Kleidung und Haare immer durchnässter, sein Gesicht immer angespannter, hält Monologe und singt Lieder – begleitet von einer Band. Diese besteht aus keinen Geringeren als den Musikern von Polarkreis 18. Auch das Gesicht des Hamlets hat man schon gesehen, an der Seite von Matthias Schweighöfer in Russendisko, als Dorflehrer in Michael Hanekes Das weiße Band und jüngst als Elser im gleichnamigen Film. Nun also Christian Friedel als Hamlet im Staatsschauspiel Dresden. Die Zuschauer*innen, die eine Musicalisierung der Tragödie oder ein Konzert des Honig-im-Kopf-Soundtracks erwarten, werden enttäuscht. Nachdem Hamlet in blutrotangestahlter Kulisse „Es war Mord“ in sein Mirko brüllt, ist das Konzert beendet. Das Schauspiel beginnt: Hamlet streift sich den Wahnsinn über, um den Tod seines Vaters zu rächen. Hier lacht (noch) keiner.
Wenn der Souffleur das Stück rettet
Der Lars-Eidinger-Hamlet ist mit seinem Publikum nicht zufrieden. Die Betonung liegt hier auf „seinem“. Denn er macht sich das Stück zu eigen. Lässt dabei seine Mitspieler*innen nicht nur sprichwörtlich, sondern auch im Regen eines Gartenschlauchs stehen. Immer wieder wendet er sich an den „Pöbel“ im Publikum. Er lässt ein Ehepaar aufstehen, bezeichnet sie als Verbrecher, weil sie ihren 12-jährigen Sohn in ein so grausames Theaterstück schleifen. Er fragt eine Zuschauerin in der ersten Reihe, ob sie endlich mithilfe ihres Smartphones den Namen von Hamlets Theaterstück eruiert hätte, um ihr dann selbstgefällig mitzuteilen, dass es sich „Die Mausefalle“ nennt. Lars Eidinger ist dafür bekannt, dass er die vierte Wand im Theater ignoriert. Nicht nur dafür wird er gefeiert – sein Hamletspiel wurde in den Himmel gehoben. Seit Jahren ist das Stück in der Schaubühne am Lehniner Platz so gut wie ausverkauft. Doch nun hat Lars Eidinger ein Problem: Er übertreibt. Denn, wenn er an diesem Abend wieder einmal die vierte Wand durchbrochen hat, muss ihn der Souffleur retten. Immer wieder vergisst er seinen Text, fällt aus der Rolle und kann die Textfetzen, die ihm zugeworfen werden, nicht aufnehmen, nicht weiterführen. Ob diese Passagen zur Inszenierung gehören oder nicht – es ist eindeutig zu viel und stört. Nicht sein Hamlet ist ein Trauerspiel, sondern sein verzweifelter Versuch, das Publikum davon zu überzeugen, dass er der wahre Hamlet sei – denn „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage!“ Der Hamlet, der in seinem vorgetäuschten Wahnsinn die Bühne verwüstet, sich in der aufgeschütteten Erde suhlt, sich eine Handvoll davon in den Mund schiebt und isst. Wo ist hier der staubsaugende Hausmeister mit dem nordischen Dialekt, der kurzzeitig alle Beteiligten auf den Boden der Tatsachen holt?
Wenn Hamlet komisch ist
Auch im Staatsschauspiel Dresden sitzt ein etwa 12-Jähriger mit seinem Vater. Doch hier lässt Hamlet beide in Ruhe. Selbst als der Kleine seinen Vater fragt, ob die nackten Brüste der Ophelia echt seien. Hamlet schiebt sich durch die Zuschauerreihen und bittet alle um Entschuldigung. Christian Friedel sieht das Publikum, bleibt aber Hamlet. Er sieht es und lässt es lachen. Denn auch sein Wahnsinn hat ein komisches Moment: So lässt er seine Spucketropfen fliegen und sie im Scheinwerferlicht entfalten, als sein Onkel Claudius ihm mit unabsichtlich feuchter Ansprache begegnet. Oder gibt nur ein betontes „Sein … Schädel“ von sich gibt, als er den Totenschädel seines Vater in den Händen hält und das Publikum die Seinsfrage erwartet. Er wandert auf einem schmalen Grad zwischen Komik und Tragik, rutscht aber nicht ab. Er gesteht sich keine Fehler ein, ist hochkonzentriert. Ein selbst in aller Zerrissenheit kontrollierter Hamlet. Seinen schauspielerischen Höhepunkt findet Christian Friedel, als sich Hamlet längst tot in einer Art Unterwelt wiederfindet. Unter der riesigen Kuppel des Staatsschauspiel richtet der dänische Prinz allein über die Duell- und Sterbeszene. Dabei schlüpft er in die Rolle der Königin Gertrud, des Königs Claudius und Laertes, Sohn des königlichen Beraters Polonius und Bruder Ophelias. Und überzeugt.
Wenn Hamlet mehr ist als nur Hamlet
Zurück zum Anfang: Hamlet liegt auf den dreckigen Bühnenbrettern und trauert um seinen Vater. Das Publikum lacht. Der Vlad-Chiriac-Hamlet hat es nicht leicht. Er verkörpert nicht nur den Hamlet, sondern spielt noch Guildenstern, Laertes und Fortinbras, den Prinz von Norwegen. Das heißt, runter von der Bühne, den Hamlet mitsamt seines gespielten Wahnsinns abstreifen und mit dem neuen Gewand eine andere Rolle anziehen. Und das in rasender Geschwindigkeit. Nur zwei Schauspieler und einer Schauspielerin bespielen die Bühne. Aus diesem Grund ist der Inhalt sehr verdichtet. Das Bühnenbild schlicht: ein paar Bühnenbretter, ein karger Holzthron verziert mit zwei Schwertern, eine übergroße Dänemarkflagge im Hintergrund und auf dem Programmzettel das Shakespeare-Zitat „MEHR INHALT, WENIGER KUNST“. Aber wie der Christian-Friedel-Hamlet ist auch der Vlad-Chiriac-Hamlet auf den Punkt da. Das Timing stimmt. Und was besonders auffällt: Er hat Präsenz. Da bedarf es keiner großen Bewegungen. Oftmals steht er einfach nur da und lässt Wut, Trauer und Wahnsinn durch seine Augen und Stimme sprechen. Aber Vlad Chiriac hat es nicht leicht. Sein Publikum fordert mehr Witz, so wie sie es aus den Shakespears-Stücken des Monbijou Theaters kennen. Regisseur und Regisseurin wussten wohl im Vorfeld von der Problematik. Haben Extraszenen eingebaut, diese überzeichnet – fast schon zu albern –, beziehen das Publikum mit ins Stück ein, um die Forderung nach Witz abzufangen. Nichtsdestotrotz ist die Unruhe zu spüren, wenn dem Publikum eine meist sehr kurze tragische Szene auf den kargen Holzbrettern geboten wird.
Wenn es keinen wahren Hamlet gibt
Christian Friedels Hamlet ist sauber, ein bisschen verschwitzt, aber sauber und kontrolliert. Das gesamte Stück ist auf eine breite Masse angelegt: ein bisschen Musik hier, ein bisschen Pomp da. Aber sein Hamlet ist groß. Er wächst von Minute zu Minute. Das Publikum kann dabei zusehen, wie der Prinz sich und seine Mitmenschen immer weiter in den Abgrund zieht. Das ist leider das, was Lars Eidinger fehlt. Sein Wahnsinn kennt keine Steigerung. Denn dieser ist von Anfang an ungebremst präsent. Wer Lars Eidinger will, bekommt Lars Eidinger. Manchmal in voller Dröhnung. Auch sein Hamlet ist groß, aber der dahinter stehende Schauspieler überheblich. So überheblich, dass man sich wünscht, jemand ginge auf die Bühne und wasche diesem mitsamt des Drecks die Überheblichkeit vom Leibe. Aber warum sollte man das tun, wenn das von ihm vorgeführte Publikum im Takt klatscht? Da wirkt das Schauspiel vom Monbijou Theater fast erholsam. Denn hier kann man den Schauspieler*innen nicht vorwerfen, sie wären arrogant oder das Stück zu pompös. Sie machen schlichtes Volkstheater, sind auf dem Boden geblieben und ihre Zuschauer wollen sie so sehen – mit ihrem Witz und ihrer Albernheit. Ja, Lars Eidinger, Christian Friedel und Vlad Chiriac haben wenig gemeinsam. Und doch wollen sie alle als Hamlet den Tod des Vaters rächen. Dabei vertreten sie unterschiedliche Ansätze. Drei Hamlets: einer, der in seinem Spiel das Publikum ignorieren muss; einer, der das Publikum in seinem Spiel kaum sieht und einer, der sein Publikum erziehen will. Und „[d]er Rest ist Schweigen.“