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Was nehmen wir mit von 2019? Eine postmondäne Leseliste

Bevor wir uns mit 2020 auseinandersetzen, haben sich sieben postmondänler nochmal gefragt: Welche Bücher haben uns dieses Jahr beschäftigt? Wir müssten, könnte man nach 2016, 2017 und 2018 meinen, schon eine gewisse Routine in diesem Ritual haben. Doch in diesem Jahr ist eine auffallend bedrückende Liste zusammengekommen, die sich um Themen dreht wie Gewalt, Tod, Bedrohung, Verschwörungstheorien, Depression, Heimatliebe, Heimatverluste und Online-Kniffel.

von Moritz Bouws, Stefan Weigand, Katharina van Dülmen, Lennart Colmer, Martin Kulik, Gregor van Dülmen und Dominik Gerwens.

Manifest gegen die Heimat

Moritz über Eure Heimat ist unser Albtraum von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah (Hrsg.)

Ich bin privilegiert. Ich bin weiß. Ich bin jung. Ich bin männlich – ich habe es mir im binären Geschlechterkonstrukt mit einem heteronormativen Lebensstil bequem gemacht. Und ich habe keinen sogenannten Migrationshintergrund – zumindest keinen, der nicht vor mehr als dreihundert Jahren auszumachen ist. Trotzdem – oder gerade deswegen – ist mir der Begriff der „Heimat“, wie vielen von euch Leser٭innen, insbesondere im aktuellen Diskurs, zuwider. Denn er verfolgt ein Ideal einer homogenen, christlichen und weißen Gesellschaft, in der Männer das Zepter in der Hand halten und Frauen für die Volksvermehrung verantwortlich sind. Andere Lebensrealitäten tauchen in dieser Utopie schlichtweg nicht auf, wie Aydemir und Yaghoobifarah im Vorwort von „Eure Heimat ist unser Albtraum“ feststellen, das Anfang des Jahres erschien.

Wie fühlt es sich an, zu den anderen zu gehören? In Zeiten, in denen das vormalige Innenministerium ohne nennenswerte Diskussion zum Heimatministerium getauft wird. Wie fühlt es sich an, im ach so liberalen Deutschland als Jüdin, als Muslim, als transidenter Mensch zu leben? In Zeiten, in denen die Alternative für Deutschland zur dritt- oder bald zweitstärksten Kraft geworden ist. Wie fühlt es sich an, als Teil des anderen als Bedrohung wahrgenommen zu werden?

Der Essayband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ bietet diese Perspektive. In vierzehn Beiträgen schildern nicht ganz unbekannte Vertreter٭innen vorwiegend aus dem kulturschaffenden Bereich ihre eigenen Erfahrungen und Sichtweisen, durch die sich auch einige Leser٭innen mit ihrem weltoffenen Selbstverständnis auf die Füße getreten fühlen dürfen. In diesen schnelllebigen Zeiten, in denen die Orientierung schwerfällt und kategorisierte Denkmuster gerade recht kommen, ist die kritische Selbstreflektion wichtiger denn je. Somit ist „Eure Heimat ist unser Albtraum“ ein bedeutendes Manifest, das Wachsamkeit, Sensibilität und Weitblick für das kommende Zusammenleben in unseren Gesellschaften verleiht.

Eure Heimat ist unser Albtraum erschien 2019 im Ullstein Verlag.

Endzeit im Kammerspielmodus

Stefan über Milchzähne von Helene Bukowski

Mit manchen Büchern ist es so, dass man erste ein paar Hürden überspringen muss, bis man zu ihnen findet. Doch dann ist man wirklich am richtigen Platz. Mit „Milchzähne“ von Helene Bukowski ging es mir so. Erst der Titel: Vielleicht ein Jugendroman oder eine Geschichte für Kinder? Komisch! Dann erzählen die ersten Seiten von Gemüseanbau, von Kaninchenzucht, von Nachbarn, die Obst tauschen, und von dem Brennnesselsud, mit dem man die Beete düngt. Bin ich jetzt in ein Landlust-Setting geraten?

Doch das Buch ist bitterernst. Die Geschichte spielt in einer Siedlung, in der die Menschen beschlossen haben, für sich zu bleiben. Das Mädchen Skalde lebt mit ihrer Mutter Edith am Rande dieser Gegend, die am Ende der Welt zu liegen scheint. Immer wieder ist von der sengenden Hitze die Rede, es drohen Felder zu verdorren. Endzeitstimmung. Dazu kommt die unheimliche Bedrohung, die von der Gemeinschaft selbst ausgeht. Die Menschen hier wollen keine Fremden bei sich. Um sicherzugehen, haben sie die letzte Brücke über den Fluss vor Jahren gesprengt. Aber dann schafft es doch jemand: Ein junges Mädchen taucht auf, wie aus dem Nichts, und alles gerät aus den Fugen. Skalde beschließt, das Kind aufzunehmen, und stellt dabei nicht nur das Selbstverständnis der Gemeinschaft auf die Probe, sondern eben auch deren Menschlichkeit.

© Stefan Weigand

Man kann gar nicht glauben, dass es das Romandebüt einer jungen Autorin ist. Helene Bukowski, 1993 in Berlin geboren, schreibt schnörkellos und gefühlvoll zugleich und setzt die Figuren und die Handlung in ein klaustrophobisches Kammerspiel. Das Buch hat mich deshalb gepackt, weil es eine wahnsinnig dichte Atmosphäre aufbaut und zugleich eine geschickte Parabel zu den Themen Herkunft, Identität und der Offenheit einer Gemeinschaft ist. Klar, die Gefahr ist da immer, dass ein Buch moralisch oder gar belehrend auftritt. „Milchzähne“ kommt hier gut durch. Das gelingt, weil die Erzählung geschickt Leerstellen lässt – man erfährt nicht, was die Gefahr ist, wo denn genau die Gegend liegt oder welche Gründe die selbst auferlegte Abschottung der Gemeinschaft hat. Eine ergreifende Erzählung, die nicht zuletzt wegen ihrer poetischen Zwischentexte berührt: „Mit dem Kind im Haus sind die Nächte heller geworden. Die Dunkelheit ist jetzt weich wie ein Mantel aus Pelz. Ich lege sie mir um die Schultern.“

Milchzähne erschien 2019 bei Blumenbar im Aufbau Verlag.

Realitäten

Katharina über Befreit von Tara Westover

Tara Westover erzählt, wie sie als Jüngste von sieben Geschwistern einer Mormonen-Familie am Hang des Buck Peaks im US-Bundesstaat Idaho aufwächst. Wie sie auf dem Schrottplatz ihres Vaters arbeitet und von ihrer Mutter alles über Kräuter lernt, statt in die Schule zu gehen. Sie erzählt von familiärer Gewalt und schrecklichen Unfällen, nach denen nie ein Krankenwagen gerufen, sondern immer nur auf Gott gehofft wird. Und davon, wie sie sich auf die apokalyptischen „Tage des Gräuels“ durch den Y2K-Fehler vorbereitet – Essens- und Spritvorräte bunkert, Fluchtrucksäcke packt und sich mithilfe von Waffen kampfbereit macht. Und das alles in ständiger Angst. Vor den Illuminaten. Vor der Regierung. Und vor dem FBI, die all jene erschießen, die sich nicht ihrem System beugen. So ihr Vater.

Doch wie rekonstruiert man die eigene Geschichte, wenn man unter einem Patriarchen aufgewachsen ist, der seine Wirklichkeit als allgemeingültig deklarierte und keine andere zuließ (Viel später glaubt Tara, ihren Vater in einer Vorlesung zum Thema Bipolore Störung wiederzuerkennen.)? Wenn man nicht mehr unterscheiden kann zwischen jenen Geschichten, die man gehört und jenen, die man erlebt hat? Wenn die Geschwister von demselben Erlebnis ganz anders berichten, als man selber es tun würde? Tara Westover legt all ihre Zweifel und das Misstrauen ihrer eigenen Erinnerung gegenüber offen. Und es gruselt einen besonders, wenn sie schreibt:

„Meine früheste Erinnerung ist keine. Vielmehr etwas, was ich mir eingebildet hatte und mich dann daran erinnerte, als wäre es tatsächlich so geschehen. Das Erinnerte entstand  (…) aus einer Geschichte, die mein Vater derart detailliert erzählte, dass jeder von uns (…) eine eigene Kinoversion davon gebastelt hat, einschließlich Gewehrschüssen und Schreien.“ (S. 19)

und

„Wenn ich meine Tagebücher aus jener Zeit lese, kann ich die Entwicklung nachverfolgen – die einer jungen Frau, die ihre Geschichte umschrieb. In der Wirklichkeit, die sie sich zurechtbastelte, war alles in Ordnung gewesen (…).“ (S. 187)

Doch irgendwann entflieht Tara der Vorbestimmung ihres Vaters, der sagte, eine Frau müsse heiraten und dürfe nicht arbeiten. Ganz abgesehen natürlich von der Arbeit auf dem familieneigenen Schrottplatz und im Haus. Sie sucht sich kleine Nebenjobs, kauft sich vom selbstverdienten Geld Bücher und bringt sich selbst Mathematik bei. Letztendlich schafft sie die Aufnahmeprüfung fürs College. Ihre lesenswerte Autobiografie widmet sie dann ihrem Bruder Tyler, der sie immer ermutigte und ihr zeigte, wie sie sich durch Bildung ihre eigene Realität schafft, ihre eigene Geschichte schreibt und sich befreit.

Befreit erschien 2018 im Kiepenheuer & Witsch.

Depression und Kaputtheit

Lennart über Serotonin von Michel Houellebecq

Vor wenigen Jahren habe ich mit Unterwerfung (2015) Houellebecq für mich entdeckt. Darauf habe ich fast jedes seiner Bücher verschlungen. Auch wenn sich ein roter Faden durch die versch(r)obenen Wesenszüge und Weltansichten seiner Hauptprotagonisten zieht, hat mich das zunächst nicht weiter gejuckt. Wohlfühlliteratur interessiert mich nicht – Houellebecqs Schilderungen der Kaputtheit fesselten mich. Serotonin las ich also mit einer gewissen Vorahnung und mit diesem Buch kippte auch mein Houellebecq-Erlebnis. Mir erzählt er nichts Neues mehr, vielmehr überspannt er mit Serotonin den Bogen; übertreiben kann auch jeder Groschenroman von Bastei-Lübbe.

Serotonin erschien 2019 bei DuMont.

Lennart über Frau im Dunkeln von Elena Ferrante

Auch wenn es fern liegt, Ferrante und Houellebecq zu vergleichen, gelingt es Ferrante meiner Meinung nach besser als Houellebecq, Facetten der Depression zu erzählen. Kein anderer Ort als der sommerliche Strand scheint ferner von einem solchen Narrativ zu sein, doch Ferrante macht genau dieses Idyll zu einem zwielichtigen Schauplatz ihrer Protagonistin. Zudem schafft sie eine Perspektive, die mehr mit Empowerment zu tun hat als mit Verbitterung. Das ist erfrischend.

Frau im Dunkeln erschien 2019 im Suhrkamp Verlag.

https://www.instagram.com/p/B2HVLnTnmzt/

Quelle: Instagram

Schwaches Licht, starkes Teemännchen

Lennart über Das Licht von T. C. Boyle

An das neue Buch eines meiner Lieblingsautoren habe ich hohe Erwartungen gehabt. Die Adaption einer historischen Begebenheit durch Boyles absurden Filter zu lesen, hat mir im Jugendalter schon wahnsinnig gut gefallen – mit Wassermusik (1990) fing alles an, mit vielen, vielen weiteren Romanen von Boyle ging es schließlich weiter. Das Licht hingegen zähle ich zu den schwächeren Geschichten. Verspricht der Prolog, der im Grunde ein Vorspiel darstellt, noch viel, wirkt die Entwicklung der zentralen Protagonisten zuweilen zäh, der Spannungsbogen flach.

Das Licht erschien 2019 bei Hanser.

Lenn über Das Teemännchen von Heinz Strunk

Diese sympathische wie schräge Kurzgeschichtensammlung erschien zwar schon im letzten Jahr, aber sie gehört definitiv zu meinen persönlichen Lese-Highlights des Jahres. Nach dem fesselnden, doch sehr verstörenden Trip in Der Goldene Handschuh (2016) und dem seicht-schrulligen Roman Jürgen (2017) packte mich das schmale, schwarze Buch mit seinem Mikrokosmos der Eigenartigkeiten. Strunk vermengt realitätsnahe wie fantastische Elemente des einfachen Seins zu einem grau-bunten Eintopf.

Das Teemännchen erschien 2018 bei Rowohlt.

Don’t fear the Reaper

Martin über So sterben wir von Roland Schulz

Die Beschäftigung mit unserem Tod ist eines der letzten großen Tabus: Aus dem Unvorstellbaren ist das Unsagbare geworden. Seltsam eigentlich, ist doch kaum etwas so sicher wie die eigene Vergänglichkeit. Doch was genau passiert, wenn wir unseren letzten Atemzug nehmen? Wie fühlt sich Sterben an? Und was passiert eigentlich im Anschluss, wohin wird der Leichnam gebracht, womit müssen sich Angehörige auseinandersetzen?

Die Beschäftigung mit dem Ende des Lebens ist eine sehr intime und private Angelegenheit. Roland Schulz hat mit „So sterben wir“ ein Buch geschrieben, das uns nicht nur drängende Fragen rund um das Sterben beantwortet, sondern auch den richtigen Stil gefunden hat, um uns dieses schwere Thema näherzubringen. Schulz spricht die Leser٭in in der zweiten Person an, schildert einfühlsam, ohne dabei jemals zu belehren oder komplexe emotionale Reaktionen vorzuschreiben.

„Tage vor deinem Tod, wenn noch niemand deine Sterbestunde kennt, hört dein Herz auf, Blut bis in die Spitzen deiner Finger zu pumpen. Wird anderswo gebraucht. In deinem Kopf.“

Schulz bringt uns dazu, über etwas nachzudenken, worüber wir zunächst nicht nachdenken wollen. So wird die Lektüre seines Buches zu einer kraftvollen Selbstermächtigung: Angst haben wir nur vor dem Unbekannten. Allein die Auseinandersetzung mit dem Sterben macht es uns etwas leichter, diesem unvermeidlichen Ereignis würdevoll entgegenzutreten.

So sterben wir erschien 2019 im Piper Verlag.

Poesie im Dunkeln

Gregor über Du bist nicht allein von Aref Hamza

In Du bist nicht allein sucht Aref Hamza nach Worten, um seine Fassungslosigkeit über den Bürgerkrieg in seiner Heimat Syrien, das Leeregefühl eines ausgelöschten Alltags, die qualvolle Flucht und die Einsamkeit des Exils zu verarbeiten. Er findet sie in ca. 80 Gedichten, von denen jedes für sich so erdrückend ist, dass eine zusammenhängende Lektüre fast unmöglich ist. In teils rohen, klaren Beschreibungen, teils erdrückenden Metaphern umkreist er immer wieder seine eigene Fassungslosigkeit darüber, dass sich ein banaler Alltag so stark verdunkeln konnte und sich alles Gekannte in Tod und Zerstörung auflösen. Eine Umfrage durchfließt seine Texte: Wie konnte es soweit kommen?

Du bist nicht allein erschien 2018 im Secession Verlag.

Gregor über Auf Erden sind wir kurz grandios von Ocean Vuong

Weit mehr Aufmerksamkeit als Aref Hamzas Band erfuhr 2019 die Veröffentlichung des aus Vietnam stammenden US-Autors Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios. Vuong gelingt das Meisterstück, seine poetische Sprache, für die er bereits mehrere Lyrikpreise erhielt, in Prosa zu überführen. Er präsentiert uns einen offenen Brief an seine Mutter und reißt seine Leser٭innen in die Lebenswelt seines eigenen Außenseitertums als homosexueller Sohn einer ausländischen Analphabetin hinein, in einer Gesellschaft, die immer weniger für Minderheiten übrig hat. Seiner Sprache gewährt er, was das Bruch so fremdartig und gut macht, den radikalen Freiraum, sich schonungslos mitten durch seine Erinnerungen zu wühlen, und fern von räumlichen und zeitlichen Strukturkomponenten Zusammenhänge herzustellen, die für ihn sein Leben ausmachen und eindrucksvoll Verzweiflung, Einsamkeit, Andersartigkeit, Gewalt und Verlorensein verbildlichen. Seine Leser٭innen nehmen kurz Teil am Schicksal einer kleinen Familie, das auch nach Jahrzehnten noch fremdbestimmt von den Spätfolgen eines Bürgerkriegs ist.

Auf Erden sind wir kurz grandios erschien 2019 bei Hanser.

Kleines Denkmal des Egalen

Gregor über Das Leben ist eins der Härtesten von Giulia Becker

Wer sind eigentlich die Leute, die die Bestenlisten beim Online-Kniffel anführen? Oder die, die nachts dem Teleshopping erliegen, bis ihre Wohnungen in unnützen Gegenständen versinken? Deren sozialer Anker Selbsthilfegruppen für aus Eigenverschulden in Not Geratene sind? Oder die, deren größter Lebenstraum ein Besuch im Tropical Island ist? Jedenfalls allesamt Personengruppen, denen viel zu selten Bücher gewidmet werden, da im Grunde alles, was ihnen passiert, den meisten Autor٭innen und ihren Leser٭innen völlig egal sein kann. Giulia Becker macht es trotzdem. Das Beeindruckende: Nicht nur die Charaktere von Das Leben ist eins der Härtesten, auch die Handlung ist fast schon obszön irrelevant. Eine Herausforderung, die die Autorin spielerisch annimmt. Ohne Ende schöpft sie erzählerisches Potenzial aus Detailbeschreibungen der verschrobenen Empfindungen und Lebensstile ihrer Protagonist٭innen. Ihrem Glauben, Wollen und Hoffen werden ungekannt viel Wohlwollen und Aufmerksamkeit geschenkt. Man will aufschreien und wegsehen, liest aber einfach immer weiter. Auch wenn die Handlung so undramatisch verpuffen mag wie von Anfang an vermutet, ist durch Das Leben ist eins der Härtesten viel gewonnen – nicht zuletzt ein besseres Verständnis für Lebensweisen außerhalb der eigenen Filterblase.

Das Leben ist eins der Härtesten erschien 2019 bei Rowohlt.

Ungeheure Erinnerungskultur

Dominik über Monster von Yishai Sarid

Menschen lieben Monster. Sie erzeugen wohliges Schaudern in Geschichten, bevölkern als personifizierte Verdrängungen des Unterbewussten die Romane von Stephen King. Und das Beste ist: Nach dem kathartischen Erlebnis eines Kinobesuchs oder eines Lektüreerlebnisses lässt man sie wieder in die Dunkelheit verschwinden, aus der sie gekommen sind. Das Monster aus Yishai Sarids Roman hingegen ist real, es verschwindet auch nicht – denn wir alle haben es heraufbeschworen.

Auslöser der kurzen Erzählung ist eine Art Verzweiflungstat. Mit einem Faustschlag streckt der Ich-Erzähler, ein erfahrener Tourguide, der regelmäßig Exkursionen in ehemaligen NS-Vernichtungslagern leitet, einen Dokumentarfilmer nieder. Wie konnte es soweit kommen? Rückblickend erklärt sich der Historiker seinem Chef, dem Direktor der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, und erläutert ihm und den Leser٭innen, welche Erfahrungen er mit Menschen gemacht hat, die Gedenkstätten des Holocaust besuchen. Das Bild, welches der Ich-Erzähler von den Menschen im Angesicht des nackten Grauens zeichnet, ihre egozentrischen Rückschlüsse aus dem Erlebnis mit dem radikal Bösen, sie sind der eigentliche Faustschlag und das Erschütternde dieses zutiefst verstörenden Lektüreerlebnisses.

Quelle: Instagram

Sicherlich, die eingefahrenen Muster der Erinnerungskultur, ihr Erstarren im Zeremoniell, all das ist ein auch in Deutschland seit langem bekanntes Problem – man denke nur an Shahak Shapiras Yolocaust-Aktion von 2017. Doch wie drastisch die Entfremdung zwischen den Intentionen offiziellen Gedenkens und der Wirkung auf alle Romanfiguren hat, rückt die Dringlichkeit der Revision des Gedenkens an die Shoa eindringlich vor Augen: Da ist zuerst einmal der Ich-Erzähler, ein relativ junger Historiker, kein akademisches Genie und auch eher ambitionslos, der eher durch Zufall an sein Fachgebiet Holocaust Studies gerät. Mehr und mehr wird er jedoch in den Bann des Monsters gezogen, das der Erzählung ihren Titel gibt und dem er vor allem deshalb nicht entrinnen kann, weil er sich einem janusköpfigen Ungeheuer stellen muss: So gelingt es ihm immer weniger, sich von den Schicksalen der Opfer des Menschheitsverbrechens emotional zu distanzieren – zugleich entfremdet er sich zunehmend von den Menschen, die er durch die Stätten des Verbrechens führt und die bestenfalls mit Indifferenz  reagieren. Und so sind es vor allem die Lebenden, die das Grauen des Monsters erzeugen, von ignoranten Jugendlichen in ihrem vom „Handyflimmern erfüllten Denken“ selbst im Angesicht der Krematorien bis hin zum realitäts- und inhaltsleeren Formeln staatlicher Institutionen – „Hoffnung einflößen statt Verzweiflung“.

Sarids Erinnerungsdystopie ist essayistisch gehalten, provokant, thesenhaft und finster, aber er ist keinesfalls zynisch. Die Zeitzeugen sterben, das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein und auch Wissen über den Holocaust schwindet. Der Holocaust als negativer Gründungsmythos der Bundesrepublik und das aus ihm erwachsende Postulat des „Nie Wieder“ verliert seine identitätsstiftende Wirkung zunehmend durch seine Aushöhlung. Eine Antwort hierauf gibt der Roman nicht, denn auch wird deutlich, dass die Erinnerung der Opfer und der Täter niemals dieselbe ist und damit auch das Gedenken niemals ein Gemeinsames sein kann. Der Faustschlag am Ende des Romans zumindest, er trifft nicht nur das Gesicht des deutschen Dokumentarfilmers und verdeutlicht die Aktualität und die Verzweiflung und die Wut, die die offene Wunde der Shoah nach wie vor bewirkt – wer da noch vom „Schuldkult“ und einer „erkinnerungskulturellen Wende um 180 Grad“ redet, macht sich selbst zum Teil des Monsters.

Monster erschien 2019 bei Kein & Aber.

 

Quellen Titelbild: Cover „Milchzähne“ © Blumenbar/Aufbau Verlag, Cover „Serotonin“ © DuMont,Cover „Frau im Dunkeln“ © Suhrkamp Verlag, Cover „Eure Heimat ist unser Albtraum“ © Ullstein Verlag,Cover „Befreit“ © KiWi Verlag, Cover „Das Licht“ © Carl Hanser Verlag, Cover „So sterben wir“ © Piper Verlag, Cover „Monster“ © Kein & Aber, Cover „Das Leben ist eins der Härtesten“ © Rowohlt Verlag, Cover „Auf Erden sind wir kurz grandios“ © Carl Hanser Verlag