Schlagwort: Gerwin van der Werf

Was nehmen wir mit von 2020? Eine postmondäne Leseliste

Auch wir konnten 2021 kaum erwarten. Trotzdem möchten wir noch einen vorsichtigen Blick zurück auf 2020 wagen und haben uns gefragt, welche Bücher uns in jenem merkwürdigen Jahr beschäftigt haben. Insgesamt fällt die Liste – mit Ausnahmen – etwas weniger bedrückend aus als in den letzten Jahren (also 2016, 2017, 2018 und 2019) und während des Lockdowns (Teil eins und zwei). Dabei lassen die Themen das gar nicht vermuten. Immerhin behandeln die Bücher den Untergang Roms, eine Höllenreise, Einsamkeit, den Brexit, unsichtbare Fäden (gleich zweimal), Eingesperrtsein, Unterdrückung und – das darf nicht fehlen – Endzeit. Also los, ein letzter Blick zurück.


von Dominik Gerwens, Stefan Weigand, Katharina van Dülmen, Franziska Friemann, Florian Birnmeyer, Lukas Lehning und Gregor van Dülmen

 

210 problems, but the plague ain’t one

Dominik über Fatum von Kyle Harper

Ist die Rolle von Pandemien beim Untergang des Römischen Reichs bislang vernachlässigt worden?

Das zurückliegende Jahr möchten die allermeisten von uns wohl am ehesten mit einem gehörigen Tritt in den Allerwertesten verabschieden. Und mag sich der Mensch auch vor dem Hintergrund von aktuellen Krisen auch gerne in der Geschichte spiegeln, so braucht wohl wirklich niemand noch den gefühlt 100-sten Artikel, der eine Analogie zwischen Coronazeiten und der Spanischen Grippe herstellt. Warum also trotzdem ein Buch zur Seuchengeschichte auf diese Leseliste setzen?

Zum einen sind groß angelegte Geschichtsstudien gerade angesagt. Das zeigt nicht zuletzt die jüngste Graphic Novel-Adaption zu Yuval Hararis „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Zum anderen ist Kyle Harper mit seiner Darstellung der seuchen- und klimageschichtlichen Gründe, die das Römische Reich auch zum Einsturz brachten, ein großer Wurf und zugleich spannend erzählter Geschichtsthriller gelungen.

Zwar ist das Imperium Romanum bestimmt nicht allein durch Klimaveränderungen und Pandemien in den Untergang gerissen worden – Althistoriker Alexander Demandt hat einmal 210 mögliche Gründe aufgelistet –, die Rolle von Umweltfaktoren indes ist bislang nie so umfassend ausgeleuchtet worden wie bei Harper, der seine Klimathese anschaulich vorträgt und umfangreich belegt, welchen Einfluss das Klima auf Aufstieg und wirtschaftliche Prosperität des Weltreiches hatten. Brillant aber ist insbesondere die Darstellung der Seuchengeschichte des Römischen Reichs, die etwa am Beispiel der Justinianischen Pest den engen Zusammenhang zwischen gefährlichen Krankheitserregern, überregionalen Handelswegen und Urbanisierung ausleuchtet. Hier liegt der große Wert des Buches, das die Leser*innen mit der Erkenntnis zurücklässt, dass COVID-19 bei Weitem nicht die erste Erkrankung ist, die Zivilisationen in ihren Grundfesten erschüttert. Auch fragt man sich, ob es weiterhin sinnvoll ist, von „Naturkatastrophen“ in Bezug auf die großen Menschheitspandemien zu sprechen, an deren Entstehung und Verbreitung die Menschheit anscheinend immer maßgeblich beteiligt gewesen ist.

„Eine schon frühzeitig globale Welt, in der die Rache der Natur spürbar zu werden beginnt, auch wenn man glaubt, die Kontrolle zu besitzen … Das kommt einem vielleicht gar nicht so fremd vor“, resümiert Harper in seinem Epilog und es schaudert einen beinah aufgrund des prophetischen Gehalts dieses im Original bereits 2017 erschienenen Buches.

Fatum von Kyle Harper erschien 2020 im Verlag C.H. Beck.


Wenn Gletscher weinen

Stefan über Der Anhalter von Gerwin van der Werf

Vielleicht ist es ja so, dass die Gletscher gar nicht tauen – sondern weinen. Träne für Träne tropft vor sich hin, aus Mitgefühl oder – noch schlimmer– aus Mitleid. Genau das möchte man der Hauptfigur in »Der Anhalter« von Gerwin van der Werf wünschen. Tiddo, ein Mann in der Mitte seines Lebens bricht mit seiner Familie nach Island auf. Im Gepäck hat er mehr Midlife-Crisis und Beziehungsprobleme, als ihm lieb sind. Eine „Traumreise“, so das Vorhaben. Beeindruckende Weiten genießen, mit dem Wohnmobil die Landschaft durchpflügen und die Stille der Insel aufsaugen. Doch noch bevor er sich mit seiner Frau und dem Sohn darauf einlassen kann, ist der Traum schon zerplatzt: Der junge Isländer Svein, den sie als unscheinbaren Anhalter aufgabeln, nistet sich ein – und geht nicht mehr. Auf einmal reduziert sich die Weite der Landschaft auf Kammerspielgröße. Der Roadtrip wird zur Höllenreise, die Tektonik der Beziehungen sorgt für Beben. Heimlich, still und heftig.

Der Anhalter erschien 2020 bei S. Fischer.

© Stefan Weigand

Katharina über Irgendwann wird es gut von Joey Goebel

Anthony liebt die schöne Nachrichtensprecherin Olivia mit dem geheimnisvollen Mund. Er spricht mit ihr – jeden Abend, während sie auf Channel Seven das Tagesgeschehen zusammenfasst. Und er schreibt ihr Briefe. Viele Briefe. Aber nun ist er wild entschlossen, sie persönlich kennenzulernen.

Carly hat ein Ritual. Sie legt ihre Stirn gegen die Toilettentür und sagt: „Dir geht’s jetzt gut. Dir geht’s jetzt gut.“ Und nachmittags im Trödelmarkt ihrer Eltern geht es ihr auch meistens gut. Zwischen den älteren Dingen und älteren Menschen. Hier kann sie Gedanken und Zwischenfälle „ordnen“, „verschließen“, „beiseiteräumen“. All das Getuschel und die blöden Bemerkungen in der Schule. Hier gelingt ihr ein Neustart in den Tag – meistens.

Winston hingegen hat bereits vor drei Jahren „der Welt den Rücken gekehrt“. Seitdem verlässt er sein zugemülltes Haus nicht mehr. Warum auch? Anders als andere Menschen hat er schließlich keine Angst vorm Alleinsein. Doch dann passiert das Unmögliche: Er verliebt sich in die traurige Frau, die jeden Tag an seinem Fenster vorbeigeht.

Und es geschieht noch etwas, was wahrscheinlich niemand für möglich gehalten hätte: Eine Frau – Ende 20, erfolgreich, schön, von vielen Menschen verehrt – versucht, sich das Leben zu nehmen.

Anthony, Carly und Winston haben einiges gemeinsam: Sie alle leben in der trostlosen Kleinstadt Moberly, Kentucky. Sie alle sind auf ihre Art verloren. Und sie alle sind Protagonisten*innen in Joey Goebels neuestem Buch. Nach vier erfolgreichen Romanen (Freaks, Vincent, Heartland, Ich gegen Osborne) widmet er ihnen und weiteren Figuren Geschichten in seinem ersten Erzählband Irgendwann wird es gut. Der Band beinhaltet zehn Kurzgeschichten, die zwar unabhängig voneinander stehen, aber bei genauem Lesen ineinander verwoben sind. Zärtlich erzählt, tief gezeichnet, berührend beschrieben, aber aber auch witzig beobachtet. Doch niemals macht sich der Autor lustig über seine Figuren. Denn er möchte eines klarstellen: Sie alle haben ihre Marotten (Wer nicht?). Aber auch ihre Geschichte. Und sie alle haben das Recht auf ein bisschen mehr Glück und ein bisschen weniger Einsamkeit. Und dafür kämpfen sie – voller Hoffnung. Denn dann wird irgendwann alles gut, oder?

Irgendwann wird es gut erschien 2019 bei Diogenes.


Franziska über Middle England von Jonathan Coe

Mit dem Ende des Jahres 2020 endet auch die Übergangsphase des Brexits. Brexit, dieser damals noch so unscheinbar wirkende Begriff, der es geschafft hat seit 2016 die britische Bevölkerung zu spalten. Seit dem „Nein zur EU“ fragt man sich: Wie konnte es dazu kommen?

Jonathan Coe wagt sich mit seinem Roman Middle England, der oft recht unattraktiv als Brexit-Roman beschrieben wird, an eine große Brexit-Bestandsaufnahme und Ursachenanalyse. Schauplatz sind die West Midlands und Protagonist der (noch unveröffentlichte) Schriftsteller Benjamin Trotter, den man bereits aus vorherigen Romanen Coes kennt. Anhand des Trotter-Clans, inklusive Netz aus Bekannten und Freund*innen, lässt Coe entscheidende Ereignisse des letzten Jahrzehnts und deren unterschiedliche Wirkung auf die Familienmitglieder Revue passieren. Angefangen bei der Finanzkrise, über die Koalitionsbildung zwischen den Torries und den Lib Dems, die medial besprochen wurde, als wäre sie ein Fehler in der Matrix, den Olympischen Spielen in London mit Danny Boyles patriotisch-aufgeladener Eröffnungszeremonie, der Leave- und Remain-Kampagnen bis hin zum EU-Referendum selbst.

Mit Middle England gelingt Coe auf ziemlich lustige und unterhaltsame Weise, den Gemütszustand oder eher die Gemütszustände einer gespaltenen Nation sehr treffend zu beschreiben, ohne für die eine oder andere Seite Partei zu ergreifen.

Middle England erschien 2020 im Folio Verlag.


Franziska über Herzfaden von Thomas Hettche

Ob mit Geschichten von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, dem kleinen König Kalle Wirsch, oder Urmel aus dem Eis – die Augsburger Puppenkiste hat Generationen von Kindern geprägt. Thomas Hettche erzählt in seinem Roman Herzfaden die Geschichte dieses weltberühmten Marionettentheaters und ihrer Gründerfamilie Oehmichen. Eine berührende und bewegende Geschichte, die nicht zu trennen ist von den Schrecken des Nationalsozialismus, ideologischer Indoktrination und dem Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands.

Herzerwärmend, ohne in Kitsch abzurutschen und rührend, ohne rührselig zu sein, beschreibt Hettche den unbändigen Willen der Familie Oehmichen, und besonders der Tochter Hannelore, genannt Hatü, einen Raum für Kunst und Theater im Nachkriegsdeutschland zu schaffen und diesen mit ihren Marionetten zu beleben. Mit Herzfaden hat Thomas Hettche ein modernes Märchen erschaffen, das die Wirkung und Kraft des Theaters durch das Schaffen gemeinschaftlicher Erlebnisse eindrücklich beschreibt. Insbesondere in diesem Jahr, in dem der öffentliche Kulturbetrieb fast vollständig zum Erliegen gekommen ist, scheint es besonders wichtig, eine solche Botschaft zu unterstreichen.


Florian, ebenfalls über Herzfaden von Thomas Hettche

Der Roman „Herzfaden“ lebt zu einem guten Teil von den Kindheitserinnerungen an die Augsburger Puppenkiste, die bei der Lektüre wieder lebendig werden. Denn in einer der beiden Zeitebenen des Romans werden die Marionetten der Puppenkiste unter der Ägide der Mitgründerin Hannelore Öhmichen, genannt Hatü, lebendig. Ein kleines Mädchen ohne Namen findet nach einer Theatervorstellung zufällig seinen Weg auf einen verzauberten Dachboden, wo es ein kleines Abenteuer mit Puppen wie dem kleinen Prinzen, dem Urmel, Jim Knopf, König Kallewirsch und einem böse dreinschauenden Kasperl erlebt.

Hatü erzählt ihr außerdem die Geschichte von der Entstehung der Augsburger Puppenkiste, die sich von der Zeit des beginnenden Nationalsozialismus über den Zweiten Weltkrieg bis in die beginnenden 50er Jahre spannt. Während die eine Ebene der Geschichte märchenhaft-verträumt anmutet, werden in der anderen Ebene auch die ernsten Seiten wie Holocaust, Judenverfolgung und der Krieg sowie die Wirren der Nachkriegszeit nicht ausgespart. Der Nationalsozialismus sowie der Krieg mit all seinen grausamen Konsequenzen für das Leben der Menschen sind in diesem Roman sehr präsent.

Doch zum Glück gibt es auch immer wieder poetische und lyrische Momente, wenn etwa die Marionetten zum Einsatz kommen. Der Zauber der Augsburger Puppenkiste überträgt sich bei der Lektüre auf die Leserinnern und Leser. Die Abschnitte des Romans, die Vorführungen der Augsburger Puppenkiste in wörtlichen Zitaten wiedergeben, sind für mich die stärksten Teile des Textes.

Wie in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ sind die beiden Zeitebenen in zwei unterschiedlichen Farben, in blauen und roten Lettern, gehalten. Hettche hat ein vielschichtiges Werk mit mehreren Ebenen geschrieben, welches ein breites Publikum anspricht. Jugendliche und Erwachsene mit Interesse an der Geschichte der Augsburger Puppenkiste können gleichermaßen zu „Herzfaden“ greifen.

Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste erschien 2020 bei Kiepenheuer & Witsch.


Vom Gefängniswärter zum Verbrecher

Lukas über Kieleck von Maximilian Pollux

Kieleck, Herrscher und Beherrschter hinter Mauern aus Stahl und Eisen. Die Geschichte einer tragischen Existenz als Gefängniswärter, der zum Verbrecher wird.

Wer Demütigung erfährt, wird sie weitergeben. Dies scheint so sicher, wie die Mauern eines Gefängnisses. Und genau dort spielt der erste Roman von Maximilian Pollux. Mit „Kieleck“ beschreibt Pollux die tragische Figur eines Gefängniswärters, der bereits vor seiner Karriere als Schließer genug Demütigungen erfahren musste, um sie an ein ganzes Gefängnis weitergeben zu können. Pollux nimmt uns mit in eine Welt, in der Menschen einander misstrauen, in der sie einander erniedrigen und in der sie hiervon interessanterweise kaum einen Vorteil zu haben scheinen. Denn in dieser Welt sind alle Gefangene, die Wärter wie die Insassen der JVA. Kieleck wäre in dieser Welt gerne der Herrscher, ja sogar der Held, doch in Wirklichkeit ist er nicht mehr als ein psychisch instabiler Mann, der sich – während er die Post der Gefangenen kontrolliert – in die Ehefrau, oder besser gesagt in die Briefe von ihr, verliebt. Während er von einer Zukunft mit dieser Frau phantasiert, nimmt die Realität ihren Lauf. Im Versuch diese zu verändern, verliert Kieleck endgültig die Kontrolle über seine Handlungen und schließlich auch über seinen Körper.

In seinem fast vierhundert Seiten starken Roman verarbeitet Maximilian Pollux eigene Erfahrungen aus über zehn Jahren im Gefängnis. Dabei gelingt es ihm, eine Sprache zu finden, die rau und schonungslos beschreibt, ohne sich am Beschriebenen zu ergötzen. Mit Kieleck schafft Pollux einen Nicht-Helden, der in einer Welt lebt, die ferner von der draußen kaum sein könnte, und dennoch eng mit dieser verwoben ist. Hierbei gleitet Pollux weder in Gangster-Romantik noch in Green-Mile-Horror ab, sondern schreibt fast analytisch, wie in einer Welt aus steilen Hierarchien, verraten, betrogen und gedemütigt wird. Scheinbar immer für einen kleinen eigenen Vorteil, doch immer um den Preis der Menschlichkeit. Ein Buch, das einen wirklich gefangen nimmt und ein Autor, der sich traut, eine Hauptfigur zu zeigen, mit der es schwerfällt, Mitleid zu haben.

Kieleck erschien 2020 im Rhein Mosel Verlag.


 

Lee Miller und Man Ray – viel mehr als eine Liebesgeschichte

Lukas über Die Zeit des Lichts von Whitney Scharer

Lee Miller, die bedeutendste Fotografin des 20. Jahrhunderts, musste erst erst an ihrer Kunst zerbrechen, um als Künstlerin anerkannt zu werden, und ist dennoch nie ganz aus Man Rays Schatten getreten.

Derzeit scheinen die Zwanziger- und Dreißigerjahre voll im Trend zu sein, ob in erfolgreichen Serien wie Babylon Berlin oder in so manchem Vintage-Laden. Doch woher kommt diese seltsame Faszination für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, woher die Begeisterung für die Musik, den Stil und, ja, die Fotografie dieser Zeit.

Der Roman „Die Zeit des Lichts“ von Whitney Scharer bringt hier ein wenig Licht ins Dunkel. Beginnend mit der Liebesgeschichte zwischen der Fotografin Lee Miller und dem Fotografen Man Ray im Paris der Zwanzigerjahre beschreibt sie den Werdegang einer der größten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts: Lee Miller.

Und so schreibt Scharer hier weniger einen Liebesroman als eine kluge Analyse darüber, wie sich eine junge Frau aus dem Beruf des Models auf den Platz hinter der Kamera durchkämpft. Doch dies ist nicht der einzige Kampf, den sie zu führen hat. Neben dem immer wieder emporbrodelnden Machotum, dem sie mal erfolgreicher und mal weniger erfolgreich entgegenzutreten weiß, kämpft sie auch gegen Dämonen aus ihrer Vergangenheit, bis sie dann schließlich wirklich in den Krieg zieht. Als erste Kriegsfotografin dokumentiert sie die Gräueltaten der Nationalsozialisten für die amerikanische Zeitschrift Vogue. Es sind folgenreiche Fotos, sowohl für die Fotografin als auch für die Betrachter*innen. Auf der einen Seite gelingt es ihr, das Grauen für die Daheimgebliebenen greifbar zu machen, auf der anderen Seite kann sie diese Brutalität immer weniger begreifen, bis sie schließlich, dem Alkohol verfallen, an ihr zerbricht.

Wenn man diesen Roman gelesen hat, hat man jedoch weit mehr als Einblicke in das Leben einer Fotografin erhalten, die erst an ihrer Kunst zerbrechen musste, um als Künstlerin anerkannt zu werden – man hat ein Stück der Faszination für diese Zeit erfahren. Eine Zeit, in der Rollenbilder aufgebrochen wurden und künstlerisch und gesellschaftlich experimentiert wurden. Und am Ende bleibt die Frage, wie diese Keimlinge eines freieren Lebens gewachsen wären, wenn sie nicht vom Zweiten Weltkrieg niedergewalzt worden wären.

Die Zeit des Lichts erschien 2019 bei Klett Cotta.


Ein vertrauter Schleier

Gregor über Auwald von Jana Volkmann

Ein besonders stilvoller Weg, um von Wien nach Bratislava zu gelangen, führt mit einer Donau-Fähre entlang des Auwalds. Auch Judith hält eine solche Fahrt für eine gute Idee. Ihr Chef hat sie dazu gezwungen, Urlaub zu nehmen, also kann sie ja auch etwas unternehmen.

Die Ausgangssituation aus Jana Volkmanns nach jenem Ufer-Waldstück benannten Roman ist beschreibend für das Leben ihrer Protagonistin: Ihren Beruf als Tischlerin übt sie akribisch aus, möchte sich am liebsten nie von ihm trennen, insgesamt strudelt sie aber eher passiv durchs Leben und hat sich mit dessen Sinnlosigkeit weitgehend abgefunden. „Holzarten erkennt sie am Geruch“, heißt es bereits auf dem Klappentext, „Menschen hingegen sind ihr ein Rätsel“. Judith ist eine einsame Seele mit zwanghaftem Charakter in einer überfordernden Umwelt, die weder viel Verständnis für sie hat noch starkes Interesse an ihr aufweist. Damit bringt sie eigentlich die besten Voraussetzungen als Protagonistin eines intimen Endzeitromans mit.

Während Judith anfangs von außen betrachtet wird, führt die Perspektive von Kapitel zu Kapitel immer tiefer in ihr Seelenleben und Handeln hinein, so weit, dass die Außenwelt zu einem schleierhaften Apparat verschwimmt, von dem sich nicht mehr genau sagen lässt, was eigentlich wirklich passiert, und in dem auch ein Wald sich wie eine Nebenfigur anfühlt. Ein Wendepunkt der Handlung ist das spurlose Verschwinden der Fähre auf ihrem Rückweg von Bratislava nach Wien, eine Katastrophe, die die gesamte Region in eine Endzeitstimmung stürzt. Da sie um Geld, Handy und eben auch ihr Fährticket bestohlen wurde, ist Judith nicht mit an Bord und wird von der plötzlichen Chance überrumpelt, unterzutauchen und ganz von vorn zu starten. Es beginnt eine Art Roadtrip, wenn auch zu Fuß und abseits von Straßen, auf dem sie nicht nur der Natur und sich selbst begegnet. Auch ihr Bestreben, herauszufinden, wie sich ein neues Leben in völlig anderer Umgebung anfühlt, wird von Erfolg gekrönt, in all dem Chaos trifft sie Komplizen.

Insgesamt präsentiert Jana Volkmann uns ein seltsames, aber einnehmendes Buch, das zwischen Verfassen und Erscheinen von einer endzeitlichen Lebensrealität überholt wurde. Der bedrohlichen Stimmung, der milchigen Schwere, dem inneren Zwang, sich neu zu sortieren, geht sie in Auwald, wie man mit der Erfahrung von 2020 definitiv sagen kann, meisterhaft auf den Grund.

Auwald erschien 2020 im Verbrecher Verlag.

Titelbild: Cover „Fatum“ © Verlag C.H. Beck, Cover „Der Anhalter“ © S. Fischer, Cover „Irgendwann wird es gut“ © Diogenes Verlag, Cover „Middle England“ © Folio Verlag, Cover „Herzfaden“ © Verlag Kiepenheuer & Witsch, Cover „Kieleck“ © Rhein Mosel Verlag, Cover „Die Zeit des Lichts“ © Klett Cotta, Cover „Auwald“ © Verbrecher Verlag

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