Schlagwort: Fotografie

Gesammelte Zeugnisse der Liebe

Im Elisabeth Sandmann Verlag ist ein außergewöhnlicher Bildband erschienen, dessen Anliegen es ist, die Universalität der Liebeserfahrung über die Zeit, den Raum und soziale Grenzen hinweg abzubilden. Das Besondere an diesem Werk: Die Herausgeber Neal Treadwell und Hugh Nini, die die Bilder auf ihren jährlichen Reisen durch verschiedene Länder in Europa, Kanada und quer durch die USA sammelten, haben 350 Bilder von ausschließlich Männerpaaren zusammengetragen. Insgesamt besitzen sie über 2800 Originalfotos liebender Männer.


Das Kriterium für die Auswahl der Bilder war für die beiden Sammler der Blick in die Augen der fotografierten Männer:

„Im Blick von Verliebten liegt ein unverkennbarer Ausdruck. Man kann ihn nicht vortäuschen. Und wenn man Liebe empfindet, lässt sie sich nicht verbergen.“

Vorwort „Eine Zufallssammlung“ von Hugh Nini und Neal Treadwell

 

Doch nicht nur die Augen bringen die Zuneigung der Paare zum Ausdruck: Sie umarmen oder umschlingen sich auch, sind einander zugeneigt, sie haben die Arme über die Schultern gelegt, sind ineinander eingehakt, lehnen sich aneinander, sehen in dieselbe Richtung oder einander an, einer sitzt auf dem Schoß des anderen. Die Gesten der Liebe ähneln sich über Raum und Zeit hinweg auf auffällig deutliche Weise, wie Nini und Treadwell in ihrem Vorwort feststellen:

„Sie haben die Bilder der anderen nicht gesehen und konnten sie demnach nicht nachstellen. Die spiegelbildliche Ähnlichkeit in ihrer Körperhaltung ergab sich auf natürliche Weise aus ihrem Menschsein.“

s. o.

 

Einige wenige Paare simulieren eine Hochzeit, etwa in Form einer Trauungszeremonie, die natürlich keiner echten Eheschließung gleichkam, oder indem einer der Partner einen Sonnenschirm hält, wie er damals bei Trauungszeremonien in den Südstaaten üblich war. Auch Blumensträuße oder Ringe tauchen als Zeichen der emotionalen Nähe auf den Bildern häufiger auf. Auf den 300 Seiten des Bandes mit Bildern aus den Jahren 1850 bis 1950 – vom Amerikanischen Bürgerkrieg über den Zweiten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre – findet sich der unanfechtbare Beweis dafür, dass die homosexuelle Liebe unabhängig von den sozialen Umständen und der gesellschaftlichen Form existiert hat, dass sie – wie die Liebe zwischen Mann und Frau – gewissermaßen eine Konstante in jeder Gesellschaft darstellt.

Da die Fotografien aus einer Zeit stammen, in der die gleichgeschlechtliche Liebe nicht nur geächtet, sondern auch gesetzlich verboten war, (wie sie es leider auch heute noch in manchen Staaten ist) erforderte es von den abfotografierten Partner Mut, sich zu ihrer intimen Beziehung und ihrer gegenseitigen Zuneigung zu bekennen, indem sie sich ablichten lassen. Wäre die Homosexualität der Fotografierten entdeckt worden, hätten sie sich einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt sehen können. Die Paare stammen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Man findet auf den Bildern Personen aus der Oberschicht, Geschäftsleute, aber auch Arbeiter, Soldaten, Matrosen, Studenten, Männer aus der Stadt sind genauso vertreten wie Menschen aus ländlichen Gebieten im Arbeitsanzug. In seinem Vorwort „Vom Inneren und Äußeren“ macht der Wissenschaftler Régis Schlagdenhauffen (École des Hautes Études en Sciences Sociales) darauf aufmerksam, dass gerade in männlich dominierten Gemeinschaften wie denen der Matrosen, Piraten, Gefangenen, aber auch in der Cowboy-Gesellschaft des Wilden Westen homoerotische und -sexuelle Beziehungen besonders häufig auftraten.

Größtenteils stammen die Bilder, die die Sammler auf Flohmärkten, in Antiquitätenläden und durch spezialisierte Händler zusammengetragen haben, aus den USA, doch vertreten sind auch Großbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland, Bulgarien, Kroatien, Serbien, Ungarn, Australien, Japan, Singapur, China, die Tschechoslowakei, Estland, Russland, Portugal und einige südamerikanische Länder.

Die Szenerien, in denen die Bilder aufgenommen wurden, sind so bunt wie das Leben: in Fotostudios, in Privaträumen, mit einem Hund, vor dem Meer, am See, beim Baden im Wasser, auf einem Auto, auf einer Kutsche oder dem Motorrad sitzend, im Grünen, auf einer Bank, vor einem Haus, beim Tanzen. So spiegelt der Bildband die ganze Bandbreite des Lebens wieder. Auf erfrischend selbstverständliche Weise wird ganz nebenbei eine ikonographische Kulturgeschichte der Homosexualität zwischen 1850 und 1950 verfasst, die aber keine Partikulargeschichte bleibt, sondern in die Universalgeschichte menschlicher Liebe eingeschrieben wird. „Loving“ hält was der Titel verspricht: Man erhält eine ordentliche Portion Wärme, Zuneigung und Liebe. Ein liebenswerter, berührender Fotoband!


„Loving: Männer, die sich lieben – Fotografien von 1850-1950“, hrsg. von Neal Treadwell und Hugh Nini, erschien in deutscher Ausgabe am 12. Oktober 2020 im Elisabeth Sandmann Verlag und hat 336 Seiten.

Ein Trailer zum Buch ist bei YouTube verfügbar:

TItelbild: © Elisabeth Sandmann Verlag

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Lass es nicht endgültig sein

Wann sind Gebäude eigentlich fertig, wann ist ihr Bau also abgeschlossen. Und wann sind sie endgültig „fertig“, also Ruinen? Der Bildband „Ruin and Redemption“ geht dieser Frage nach und zeigt: Wenn Gebäude aus Ruinen wieder auferstehen, bekommen sie manchmal die beste zweite Chance, die es für sie geben kann.


Klar, es gibt glattgeleckte Architekturbildbände, bei denen am besten weiße Baumwollhandschuhe beiliegen, um die Unantastbarkeit des Gezeigten noch zu unterstreichen. Dazu kommt das Arsenal an Magazinen, die die Schöner-Wohnen-Optiken auf die Spitze treiben. Und dann gibt es Bildbände wie „Ruin and Redemption in Architecture“ (Phaidon Press, 2019), die zwar sämtliche Register gelungener Buchgestaltung ziehen, aber doch Sehgewohnheiten charmant brechen. Denn hier geht es nicht um Überinszenierung oder visuelle Heiligsprechung – sondern erst einmal um Vergänglichkeit und Ruinöses.

Dan Barasch hat den Band kuratiert. Er war Führungskraft bei Google, Unicef oder auch der Stadtverwaltung New Yorks. Sein Projekt, aus einem stillgelegten Güterwagon-Terminal in New York einen unterirdischen Park zu gestalten, hat den Blick auf Transformationen und die Umnutzung von Gebäuden weltweit gelegt. Das Buch zieht einmal quer um den Globus und versammelt Beispiele von Architektur, die praktisch fertig war mit dem Leben: abgehalftert, ausgemustert, verlassen. Ruinen eben. Doch stimmt es eben keinen salbungsvollen Abgesang an das Alte in Form einer Überhöhung an, sondern feiert tatsächlich erst einmal die Vergänglichkeit. Der erste der vier Abschnitte heißt demnach schlicht „Lost“. Gebäude, die einfach verloren sind – und nur noch in Erinnerungen und Fotografien weiterexistieren.

Das Larkin-Verwaltungsgebäude in Buffalo, New York/USA. Nachdem die Firma sich gezwungen sah, den Komplex zu verkaufen, wurde das Gebäude verkauft und musste 1950 einem Parkhaus weichen. (Foto: Collection of The Buffalo History Museum)

Wie Grabsteine

„Completed 1962. Demolished 2013“ – die Zeitangaben wirken sehr nüchtern. Vollendet – zerstört. Wie Inschriften auf Grabsteinen kommen einen die nüchternen Angaben vor. Ein seltsames Gefühl befällt einen – vielleicht tatsächlich so etwas wie Trauer –, wenn die ersten Bilder des Bandes Gebäude zeigen, die es nicht mehr gibt. Abgerissen oder komplett verfallen.

Manchmal dokumentieren die Fotos sogar  Abrissarbeiten oder den Sekundenmoment einer Sprengung. Zu entdecken sind riesige Wohnkomplexe wie etwa Pruitt-Igoe in St. Louis (USA) – 2870 Apartments umfasste der Stadtteil, der schon nach 16 Jahren wieder zurückgebaut wurde.

Der Streifzug geht weiter: Das Olympiastadion von Athen, filigran von Santiago Calatrava entworfen – es steht leer und gerade einmal ein paar Büsche wuchern in dem verwilderten Gebäude. Dazu kommen die Skisprungschanzen von Sarajewo oder ein Panorama-Restaurant in Lissabon – die Bilder zeigen: Wenn Orte in Vergessenheit geraten, dann verschwinden sie nicht. Sondern bleiben und führen ihr Leben irgendwie in Einsamkeit weiter.

Als 1963 die Turbinen des Glenwood Elektrizitätswerk alterschwach wurden, gab man das Gelände auf und ließ die Gebäude verfallen. In den Jahrzehnten danach entwickelte sich der Ort zu einem Treffpunkt, der von Gewalt, Graffiti und Gang-Aktivitäten geprägt war. (Foto: Courtesy of Lela Goren Group)

Dort, wo das Leben fehlt, denkt man es sich dazu

Eine Industrieanlage, die ohne Qualm aus Schornsteinen auskommt und zwischen deren Schlöten Bäume wachsen. Ein Sportstadion, das längst keine Zuschauer mehr kennt, Werbetafeln oder Fanbanner erst recht nicht. Es fehlen Fenster, Mauerteile, Fahrzeuge, Menschen … und genau das macht den Reiz der Bilder aus, vielleicht auch an sich den Reiz von Ruinen: Sie zeigen Leerstellen. Man denkt sich das Leben dazu, füllt Leerstellen selbst aus und hört ins sich einen Soundtrack mit dem Sirren von Sirenen, dem Tuten von Schiffshörnern oder dem geschäftigen Klingeln und Klicken einer Büroetage.

So paradox es klingt: Ruinen erinnern an das Leben. Symbolhaft tauchen sie auf Gemälden der Romantik auf und feiern einen Weltschmerz und die Sehnsucht an vermeintlich bessere, frühere Zeiten. Sie geben aber auch ein klares Statement: Memento mori – bedenke, dass du sterblich bist. Also wende dich dem Leben zu.

Die Siloanlage im holländischen Deventer wurde im Jahr 1990 stillgelegt. 25 Jahre später ist dort wieder neues Leben eingezogen. (Fotos: Wenink \ Holtkamp Architecten)

Mehr als zweite Chancen

Der eigentliche Kern des Bandes ist Architektur, die ihre Erlösung – Redemption – feiern kann: Auferstanden aus Ruinen. Sieht man die Vorher-Nachher-Bilder der Zementfabrik im spanischen Sant Just Desvern, dann traut man seinen Augen kaum: Die Silos der Industrieanlage zeigten sich von 1921 bis 1968 eher austauschbar – heute könnten sie als Kulisse für den James-Bond-Schurken dienen: Surreal wirken begrünte Dächer, Bücherregale und Fenstermaßwerke geben dem Gebäude fast schon einen Klostercharakter.

Weltkriegs-Bunker bekommen einen Glaskubus als Hülle und damit ein neues kulturelles Leben. Brachliegende Hafenanlagen werden zu Bürogebäuden und Kreativzentren wachgeküsst. Das begeistert – und zeigt, dass wir Architektur und Nutzungsformen nicht zu eindimensional denken sollten.

Allerdings ist es auch so: Umnutzungen sorgen nicht immer automatisch für Jubel und Begeisterung. So ist etwa die ehemalige Dominikanerkirche im Herzen Maastrichts heute eine Buchhandlung mit maximalem Instagram-Potenzial: 1294 als Klosterkirche erbaut, birgt der gotische Raum nun ein riesiges schwarzes Bücherregal, das die Verkaufsfläche von ursprünglich 745 Quadratmeter auf 1200 Quadratmeter erweitert. Es gibt die üblichen Verkaufsinseln, zwei seitliche Emporen, auf denen Schallplatten und Fachliteratur verkauft werden und ein kleines Café im Altarraum der Kirche. Eine Kirche als umtriebige Verkaufsstätte? Das bringt zwangsläufig Blasphemie-Vorwürfe und zeigt: Umwidmungen sorgen auch für Emotionen und Kritik.

Die Dominikarkirche in Maastricht – Ort mit wechselvoller Geschichte: 1294 errichtet, 1577 teilweise zerstört, Militärlager in den Napoleonischen Kriegen, später Archiv, Warenhaus und Druckerei. Heute ist der Ort eine Buchhandlung und zieht Buchbegeisterte und Instagram-Junkies an. (Foto: Roos Aldershoff / Merkx+Girod / Merk X architects and designers)

Die Suche nach dem Vergessenem

Wenn ich mit Büchern zu tun habe, frage ich mich immer: Was lösen sie in mir aus? Was machen sie mit mir? In diesem Fall ist es so, dass das Buch eine Art Radarschirm anschaltet: Wo stehen auch Ruinen in meiner Umgebung? Welche Baulücken gibt es noch, die eigentlich gar keine sind, sondern einfach nur vergessene Orte. Wo liegen Gebäude an den Orten, mit denen ich zu tun habe, einen Dornröschenschlaf?

„Ruin and Redemption in Architecture“ ist nicht nur ein Buch über transformierte Gebäude und Orte – es transformiert auch den Leser. Die Bilder und Projekte machen Lust, Dinge neu zu denken. Wer sich mit Ruinen beschäftigt, dem öffnen sich die Augen für die Lücken um einen selbst.

Dan Barasch ist ein sehenswertes Band gelungen. Eben weil er nicht in die konservativ-pathetische Falle tappt und jede Veränderung gleich als Gefahr sieht, sondern Veränderung als Chance begreift. Das gilt auch für die Zukunft: Neue Gebäude sind die Ruinen von morgen. Und sie können immer wieder auferstehen. Etwas Besseres kann man ihnen nicht wünschen.

 

 

Was ist ein guter Film? Von Kracauer zu Polanskis „Der Pianist“

Über die Frage, was einen guten Film ausmacht, lässt sich bekanntlich streiten. Schnell rutscht die Diskussion in den Austausch rein subjektiver Positionen: Der eine schwärmt seinen Kindheitshelden hinterher, der andere bewertet Filme ausschließlich nach Affinitäten, seien es Genres, besondere Schauspieler oder favorisierte Regisseure: Aber kann man diese subjektive Perspektive auch überwinden und einen rationalen Zugang zur Qualität von Filmen finden?

ein Gastbeitrag von Johannes Kellersmann


Wenn ja: Was ist dann ein guter Film? Diese Fragen stellte sich schon Siegfried Kracauer (1889-1966) in seiner 1964 veröffentlichten „Theorie des Films“. Vielleicht lässt sie sich am besten am Beispiel beantworten. Hierzu soll Roman Polanskis „Der Pianist“ von 2002 herhalten. Kracauers „Theorie des Films“ liefert einen wesentlichen Beitrag zur filmphilosophischen Debatte des 20. Jahrhunderts. Er geht davon aus, dass sich der Ursprung des Mediums Film in der Fotografie findet, dessen Besonderheiten in ihrer aufdeckenden Kraft und wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe der Realität liegen. Da sich der Film wesentlich dadurch auszeichnet, bewegte Bilder zu erzeugen, lebt das Wesen der Fotografie in ihm weiter. Durch beide Medien hindurch zieht sich eine Diskussion um die Frage, wie Film oder Fotografie gestaltet sein sollen, um den spezifischen Besonderheiten des Mediums zu entsprechen.

Was macht also einen guten Film aus? Eine realistische Position ist der Auffassung, dass die Wiedergabe ungestellter Realität in all ihren Facetten und Besonderheiten wie z.B. der Akzentuierung des Zufälligen oder einer Vorliebe für die Unbestimmbarkeit der Aufnahmen das Wesen eines filmischen Films darstellen. Die Gegenposition argumentiert, dass eine bestimmte Auswahl und Anordnung von Elementen auf dem Bild eine vorher festgelegte Aussage besonders unterstreicht. In diesem Sinne sind die Fotografien bzw. Filme als künstlerische Kompositionen mit denen der Malerei (z.B. der Vergine delle Rocce von Da Vinci) vergleichbar. Kracauer behauptet nun, dass einzig die Foto- bzw. Filmkamera in der Lage ist, physische Realität auch in ihren feinsten Nuancen wiederzugeben. In Kombination mit der These, dass „die Leistungen innerhalb eines bestimmten Mediums künstlerisch umso befriedigender sind, je mehr sie von den spezifischen Eigenschaften dieses Mediums ausgehen“, lässt sich Kracauer in dieser Debatte also klar auf Seiten der Realisten einordnen.

Am Fallbeispiel: „Der Pianist“

„Der Pianist“ erzählt die Geschichte des begabten polnisch-jüdischen Pianisten Wladyslaw Szpilman (gespielt von Adrien Brody) vom Einmarsch der deutschen Truppen in Warschau im Jahr 1939 bis zur Befreiung der Stadt 1944. Als Vorlage diente die 1946 veröffentlichte Autobiographie „Der Pianist – mein wunderbares Überleben“ der Realperson Wladyslaw Szpilman. „Der Pianist“ rekonstruiert an dessen Beispiel das Schicksal der polnischen Juden in Warschau zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft: Nachdem Szpilman sowohl das Warschauer Ghetto überlebt als auch dem Abtransport ins Vernichtungslager Treblinka entkommen ist, arbeitet er eine Zeit lang als Zwangsarbeiter im Ghetto. Er kann zunächst aus diesem fliehen und sich anschließend mit Hilfe befreundeter Polen in Warschau versteckt halten. Szpilman muss unter großen Gefahren seine Verstecke wechseln und leidet sowohl an Krankheiten als auch an Hunger, kann sich aber bis zur Zeit des Warschauer Aufstands im Jahr 1944 versteckt halten. Im Zuge dessen werden allerdings weite Teile Warschaus und auch Szpilmans derzeitiges Versteck beschossen, sodass er die letzten Wochen bis zur Befreiung der Stadt auf der Suche nach Nahrung durch die Ruinen Warschaus irrt. Bezeichnenderweise wird er gerade durch einen deutschen General gerettet, der Szpilman Nahrung, Kleidung und Informationen zukommen lässt, anstatt ihn auszuliefern. „Der Pianist“ nun liefert einige Beispiele, an denen sich verdeutlichen lässt, was nach Kracauer einen guten Film zu eben diesem macht. Die hinter den Beispiel-Szenen angeführten Minutenangaben beziehen sich im Folgenden auf die handelsübliche, deutschsprachige 142-minütige DVD-Version.

Kamera und Lebenswelt

Nicht alle Objekte, die der Kamera prinzipiell zugänglich sind, eignen sich gleichermaßen für eine Wiedergabe durch diese. So üben beispielsweise Bewegungen eine besondere Anziehungskraft auf das Medium aus, da sie ausschließlich von der Kamera eingefangen werden können. Der improvisierte Tanz, der aufgrund seiner Bewegung als ein dem Film besonders gemäßer Gegenstand gelten kann, findet sich z.B. in der Szene, in der die polnischen Juden, die vor einer Bahnschranke auf die Möglichkeit warten, die vor ihnen liegende Straße zu passieren, von den deutschen Soldaten gezwungen werden, zu der gespielten Musik zu tanzen (18:45 min.). Der Tanz entspringt in dieser Szene klar der Lebenswelt der Juden und pointiert ihre schreckliche Lebenswirklichkeit. An der Auswahl der Tanzenden (Alte, körperlich Beeinträchtigte), ihrer Gestik und Mimik kanalisiert sich die Grausamkeit und Willkür, mit der die Deutschen über die Stadt herrschen.

Zu den Objekten, die für das Medium Film besonders geeignet sind, zählen ebenfalls solche, die nur aufgrund der Filmkamera und ihrer Techniken zur Geltung und damit in unser Bewusstsein kommen. Hierzu zählt „das Große“ wie bspw. Menschenmassen oder Landschaftsaufnahmen genauso wie „das Kleine“, das dem Zuschauer in Form von Nahaufnahmen zugänglich gemacht wird. „Der Pianist“ zeigt uns sowohl „das Große“ in Form wiederholter Aufnahmen von Straßenszenen oder der langsam und resigniert dahin schreitenden Masse der jüdische Bevölkerung (z.B. in 13:27 min.) als auch „das Kleine“, indem Nahaufnahmen von Szpilmans Händen oder Gesicht zu sehen sind. Diese Nahaufnahmen weisen über das eigentliche Bild in eine komplexe Welt hinaus. So lässt sich an Szpilmans Gesicht (z.B. in 88:45 min.) die ganze Tragik seines Schicksals mitsamt seinen Ängsten und Hoffnungen ablesen.

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© Tobis

Während die oben genannte Nahaufnahme über sich hinaus auf die Grauen von Szpilmans Alltagsrealität weist, müssen manche Ereignisse durch die Kamera eingefangen werden, um für uns überhaupt erst emotional bewältigbar zu werden. Die Darstellung der „Gräuel des Krieges“, von „Gewalttaten und Terrorakten“ überfordern den Einzelnen aufgrund ihrer Grausamkeit so sehr, dass erst eine Wiedergabe durch die Kamera, wie durch einen Filter, vor der emotionalen Überforderung schützt und das Ereignis dem Zuschauer zugänglich macht. Zusammenfassend ist zunächst also festzuhalten, dass „Der Pianist“ eine hohe Dichte an filmischen Objekten in seinen Aufnahmen behandelt und diese vieldeutig gestaltet, um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, in eine über die dargestellten Szenen hinausweisende, komplexe Lebenswelt einzutauchen.

Affinität zum Zufälligen

Kracauer postuliert darüber hinaus bestimmte Affinitäten, die dem Medium Film zukommen und ihn somit zu einem guten, weil die spezifischen Charakteristika des Mediums berücksichtigenden Film machen: Zunächst hat der Film, wie bereits erwähnt, eine Affinität zur ungestellten Realität. Der Film ist also dann ästhetisch legitim, wenn er die Illusion der Wirklichkeit hervorruft. Die Aufnahmen in „Der Pianist“ betonen eindeutig die ungestellte Realität und lassen so diese Illusion der Wirklichkeit entstehen. Komplexe Szenerien des überfüllten Warschauer Ghettos (z.B. in 28:58 min.) zeigen das alltägliche Leben und heben nicht den Charakter in den Mittelpunkt, sondern lassen ihn mit seiner Umgebung verschmelzen, sodass nur noch die Kamerabewegung den Fokus auf den Schauspieler (in diesem Fall Szpilman) lenkt. Andernfalls würde er in der Masse untergehen. Weiterhin sind zufällige Elemente ins das Szenenbild eingebaut: So muss Szpilman z.B. über eine Leiche auf dem Gehweg steigen oder wird von einer offensichtlich geistig verwirrten Frau, die nach ihrem Mann sucht, angesprochen. Die Sicht auf den Charakter wird immer wieder dadurch unterbrochen, dass andere Passanten „zufällig“ vor der Kamera entlanggehen. Damit sind gleichzeitig Beispiele für die zweite Affinität des Films genannt: Die Affinität zum Zufälligen.

Quelle: YouTube

Das Zufällige erzählt Nebenstories des alltäglichen Lebens und verleiht dem Kamerabild dadurch erst den Eindruck von komplexer Realität. Es kann aber auch handlungsleitende Funktion übernehmen. So reißt Szpilman in einem Versteck aus Versehen die Regalbretter auf der Suche nach etwas Essbarem herunter, wird daraufhin entdeckt und muss schließlich aus der Wohnung fliehen (83:30 min.). Eine Affinität zur Endlosigkeit, also der Tendenz der abgebildeten Phänomene, ein raumzeitliches Kontinuum zu schaffen und den Zuschauer damit in eine zusammengehörige, verwobene Welt zu entführen, kommt dem Film nach Kracauer ebenfalls zu. Dies kann beispielsweise durch wiederholtes Einblenden von Daten geschehen, die eine zeitliche Einordnung der Szenen ermöglichen. Räumliche Kontinuität wird in „Der Pianist“ z.B. durch die Originalaufnahmen Warschaus in Kombination mit Orts- und Zeitangaben hergestellt. Wenn schließlich eine zerstörte Großstadt ohne Ortsangabe gezeigt wird (115:00 min.), dann ist diese trotzdem eindeutig zuzuordnen. Wiederkehrende Orte wie bspw. das Café Capri, in dem Szpilman zu Beginn des Films als Pianist spielt (20:58 min.) und das nach der Deportation der Juden zerstört wird (51:34 min.) schaffen zusätzlich raumzeitliche Kontinuität.

Zwischen Realität und Narration: Der Film

Schließlich sollen die Szenenbilder in einem guten Film in gewissem Sinne in ihrer Bedeutung offen bleiben. Nur wenn das Rohmaterial der Natur in seiner ihm eigenen Vieldeutigkeit erfasst wird, also seiner natürlichen Affinität zum Unbestimmbaren entspricht, kann es filmisch in Szene gesetzt werden. Hierbei ergibt sich das strukturelle Problem, dass der Regisseur einerseits die Story voranbringen muss und dafür vor allem Aufnahmen braucht, die eine bestimmte Aussage in den Vordergrund stellen, also gerade nicht vieldeutig sind und er andererseits die physische Realität um ihrer selbst willen, also bedeutungsoffen in Form von „freischwebenden Bildern materieller Realität“ wiedergeben sollte. Gerade diese freischwebenden Bilder haben nicht notwendig eine direkte Beziehung zur Story, sondern deuten über sich hinaus auf größere Sinnzusammenhänge und eröffnen somit eine physische Welt, in der die Story lediglich eingebettet ist. Es ist also ein weiteres Kriterium eines guten Films, diesen Balanceakt zu meistern.

Polanski gelingt dies in „Der Pianist“ auf hervorragende Weise: In der 69. Minute beobachtet Szpilman eine Cello spielende polnische Dame durch eine halbgeöffnete Tür. Diese Szene weist über sich hinaus auf die gesamte Problemlage des Films. Das Musizieren als Ausdruck eines lebenswerten Lebens und einer geordneten Gesellschaft steht in starkem Kontrast zu Szpilmans Situation und damit dem jüdischen Schicksal, da die Juden ein unmenschliches Leben am Rande der Vernichtung führen müssen. Die zwei aufeinanderprallenden Welten werden durch die fast geschlossene Tür nochmals kontrastiert. Die Gegenüberstellung wird schließlich mithilfe der unterschiedlichen Farbgebung der Aufnahmen auf die Spitze getrieben. Während Szpilmans blasses und müdes Gesicht in der Tür erscheint, ist der angrenzende Raum mit Sonnenlicht durchflutet. Grüne, gesunde Pflanzen stehen in dem Hintergrund, vor dem die polnische Dame in einem orangenen, sommerlichen Kleid spielt.

Projektion des Unsichtbaren: Der Schauspieler

Abschließend sollen noch die Sprache im Film und die Rolle des Schauspielers betrachtet werden: Kracauer steht der Sprache im Film grundsätzlich skeptisch gegenüber, da er befürchtet, es könne sich durch einen anspruchsvollen und fesselnden Dialog eine inhaltliche Ebene auftun, die parallel zu den dargestellten Bildern verläuft und damit die Aufmerksamkeit des Zuschauers von den Aufnahmen ablenkt. So nähert sich der Film dem Theaterschauspiel an, in welchem häufig Dialoge und nicht bewegte Bilder im Vordergrund stehen, und verliert so die durch seine Spezifika hervorgerufene Faszination auf den Zuschauer. Allerdings kann Filmsprache auch eine intendierte Wirkung unterstreichen, indem sie durch bestimmtes Vokabular oder einen individuellen Akzent einen besonderen Einblick in die Lebenswelt der Protagonisten ermöglicht, der durch die gezeigten Bilder in dieser Tiefe nicht zu erreichen gewesen wäre. Wenn z.B. Szpilmans Vater die neuen Anordnungen für die Juden aus der örtlichen Zeitung vorliest (9:37 min.), dann entsteht ein zufälliger, detaillierter und ungestellter Eindruck in das immer schrecklicher werdende Alltagsleben der Juden. Der Zuschauer wird hier durch die Worte direkt in die Welt der Protagonisten hineingezogen. Die Sprache ergänzt die Bilder zu einem authentischen Ganzen, dem sich der Zuschauer kaum noch entziehen kann.

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© Tobis

Der Filmschauspieler muss seine Rolle nach Kracauer zurückhaltend, beinahe beiläufig spielen, da die Kamera in der Lage ist, jede noch so kleine Veränderung der Mimik oder Gestik festzuhalten. Sein Spiel muss die unsichtbaren psychischen Vorgänge projizieren können, vieldeutig sein und über die sichtbaren Bilder hinausweisen. Im Gegensatz zum Theater dient die Szenerie im Film nicht dazu, den Schauspieler in den Mittelpunkt zu rücken. Vielmehr ist er ein „Objekt und Objekten“ und muss sich in die sich ständig wandelnde physische Realität einfügen. Brody gelingt diese Aufgabe in „Der Pianist“ außergewöhnlich gut: So verweist sein fast unbewegtes Gesicht im Schlafsaal der Zwangsarbeiter im Ghetto (64:56 min.) auf seine Ängste, Hoffnungen und Zweifel. Gleichzeitig spiegelt es die simple Tatsache wider, dass Szpilman trotz der Decke und dem neben ihm brennenden Ofen friert.

Zwischen Wachen und Träumen: Der Zuschauer

Der dem Medium entsprechend inszenierte Film wirkt also auf den Zuschauer emotional anziehend und fesselnd, sodass er sich während der Betrachtung immer mehr mit der Filmhandlung identifiziert. Im Gegensatz zum Theater, das den Besucher aufgrund der komponierten und symbolisch aufgeladenen Bühnenbilder und theatralischen Story vor allem auch intellektuell fordert, sorgt der gute Film dafür, dass sich der Zuschauer zusehends in diesem verliert und in einem Zustand „zwischen wachen und träumen“ befindet. Wenn sich der Film auf die Darstellung physischer Realität konzentriert, enthüllt er dem Zuschauer gleichzeitig einen bestimmten Ausschnitt der sichtbaren Realität mit einer Genauigkeit und einem derartigen Detailreichtum, das dem menschlichen Auge normalerweise meist entgeht. Der Film erschafft die Illusion der Wirklichkeit, in die der Zuschauer unwillkürlich hineingezogen wird, sodass er seine Beziehung zu der Welt, in der er lebt, vertieft und inniger gestaltet. Der gute Film lässt den Menschen „die Welt kennenlernen wie sein eigenes Haus, auch wenn er niemals über die engen Grenzen seines Dorfes hinauskommt“.


Johannes Kellersmann wohnt in Münster, weil man da so gut Filme gucken und Bücher lesen kann.

Titelbild: © Tobis

Was kostet’s dich, Mensch? – Reiz der Fotografie

Die Frage nach unserer Verortung und Vernetzung in der globalisierten Welt ist allgegenwärtig. Die 56. Biennale in Venedig hatte sich bereits diesem Themenkomplex zugewandt. Damit am Puls der Zeit zu sein, dachte sich auch gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie 2015/16, ein nun zwölf Jahre altes Projekt für zeitgenössische Fotografie. Aktuell ist die durch Deutschland und Europa reisende Ausstellung unter dem Motto Quo vadis, Welt? – Reflexion und Utopie in den Hamburger Deichtorhallen im Haus der Photographie zu sehen.


Wer sich mit Kunst beschäftigt, übt sich automatisch in Kompromissbereitschaft und Toleranz. Das, was ich wahrnehme, muss mir nicht gefallen, muss sich nicht mit meinen Interessen oder Ansichten decken. Ich kann es scheiße oder belanglos oder beides finden – über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten. Solange der Künstler für seine Arbeit eine adäquate Form gefunden hat, die mir seine Sichtweise ermöglichen kann, ohne meine Phantasie dabei einzuschränken, hat er oder sie alles richtig gemacht. Zumindest bleibt es auf diese Art spannend, denn ich kann meine Perspektive wechseln, ohne meine eigene wirklich zu verlassen. Bei aller Lobpreisung der Toleranz durch Kunst: the magic moment lautet Zeitgeist. Wer ihn trifft, hat einfach nur Schwein. Van Gogh ist nur einer von vielen, den man darum bedauert, dass seine Kunst erst nach seinem Tod erfolgreich wurde. Ob er darüber glücklich wäre, heute in jeder zweiten Arztpraxis und in jedem dritten Café zu hängen, wird sich wohl nie klären. Dafür können wir hinterfragen, warum zum Beispiel Jeff Koons vor allem bei den Oligarchen so gut ankommt. Manchmal sind Hype und Zeitgeist nicht zu trennen.

Kommen wir zurück zu den guten Aussichten, die uns das gleichnamige Projekt verspricht. Klingt ein bisschen naiv, wenn man den Titel nicht auf die Gewinner des Wettbewerbs, sondern auf das diesmalige Motto bezieht; diese heitere Betonung wäre andererseits ein Stoß in die Rippen der kritischen Gesellschaftsbeobachter, deren Sorgenfalten auf der Stirn allmählich lächerlich zu wirken scheinen. Ja, die Welt verändert sich, aber das hat sie immer schon getan. Heute haben wir die Möglichkeiten, jederzeit überall zuzusehen und da bleibt ein gepflegter Brainfuck auf Dauer nicht aus.

Die Relevanz des Handwerks

Die Fotografie als künstlerisches Medium hat im Laufe ihrer vergleichsweise kurzen Geschichte viel erlebt. Magie ging immer schon von ihr aus. Ob frühe Kunstfotografie, wie Man Ray sie betrieb, sinnliche, provokative Modefotografie à la Helmut Newton oder Fotografie als Cindy Shermans Spiel mit Inszenierung und Identität. Wozu noch malen? Die US-amerikanischen Fotorealisten eigneten sich in den 1960er/70er Jahren die Exaktheit der abgebildeten Realität mit Pinsel und Farbe an. Martin Kippenberger war einer, der in den 1980ern dann auf die derzeit wieder verpönte Malerei schiss, indem er erst recht malte. Und zwar scheiße (im Sinne von nicht altmeisterlich). Absichtlich. „Seine Bilder vom mickrigen Alltag duldeten keine malerische Idylle. ‚Schlechte Themen‘, sagt er, ,erfordern gute Malweise.‘“, schrieb Jörg-Uwe Albig in der art 7/86.

Gut, aber was ist mit der Fotografie? Welche künstlerische Relevanz hat sie in Zeiten von Pop-Journalismus, durchdesignten Lifestyle-Magazinen und tumblr? Will uns gute aussichten – Junge Deutsche Fotografie etwas zeigen, was nur die Fotografie kann oder geht es rein um das, was reflektierte, weltgewandte Fotografen heute beschäftigt?

Sieht aus wie abstrakter Print, ist aber Fotografie: Digits of Light zeigt variierende schwarzweiße und bunte geometrische Muster auf kleinen ungerahmten und großen gerahmten Formaten, die Kolja Linowitzki mithilfe des Smartphones ganz klassisch analog in der Dunkelkammer erzeugt hat. Alte und neue Technik verschränken sich auf reduzierte, irgendwie poetische Weise.

Gelungen, denke ich mir, bis ich einen kleinen Flachbildschirm an der gegenüberliegenden Wand entdecke, der ein zweiminütiges Video präsentiert, in dem ich Linowitzkis Arbeitsprozess in Zeitraffer aus der Vogel-klebt-in-der-Ecke-Perspektive bewundern oder viel eher nachvollziehen kann.

Überflüssig, denke ich mir, denn das ist nicht mehr und nicht weniger als eine Dokumentation seiner Arbeitsweise. Wertet das die Arbeiten auf oder ab? Genügt es nicht, dass der Betrachter die Information der Herangehensweise nachlesen kann, falls es ihn interessiert?

In diese Dokumentations-Falle können Künstler, die ergebnisorientiert arbeiten, schnell tappen. Dieses mulmige Gefühl, dass es den Werken an Überzeugung und Präsenz mangeln könnte. Diese stichelnde Sorge, dass nicht jeder die Intension verstehen könnte. In Folge der Torschusspanik zieht er oder sie das Ass der Ehrfurcht vor dem Handwerk aus dem Ärmel und hofft die Zweifel endlich zu bezwingen. Oh mann. Immerhin hätte ich das Video fast übersehen. Das hinter Digits of Light stehende Konzept ist ausgetüftelt, im Grunde jedoch simpel. Schön anzusehen sind die filigranen, komponierten Belichtungsspuren allemal.

Das Ideal der Ruhe

Unser Alltag ist anstrengend, chaotisch, vor allem ungewiss und irgendwann ist auch mal mit der ganzen Feierei Schluss – Ruhe. Wir suchen Ruhe. Die Ruhe, die einst Caspar David Friedrich malte und heute durch diverse Photoshop-Filter gejagt wird, um dann tumblr mit dem Endergebnis zu fluten. Eins mit uns selbst durch die Natur, indem wir eins mit ihr sind. Spiritualität als scheinbarer Gegensatz zum urbanen Zombieismus. Jewgeni Roppel suchte die Spiritualität auf seine Reise durch West-Sibirien. Einige Fotografien hat er gerahmt, hoch und tief gehängt, andere direkt auf die Wand geklebt. Gegenüberstellungen von Mensch und Natur. Verschmelzung von Mensch und Natur. Auch in seiner Videoarbeit gibt es Überblendungen, Überlappungen von Naturaufnahmen, vorbeiziehenden Zügen, Gesichtern und Funkenflug. Während der visuelle Part nur fünf Minuten dauert, ist der auditive Teil zwei Stunden lang. Interessante Idee! Leider habe ich keine Zeit und offen gesagt auch keine Lust, mir die wispernde, mäandernde Soundcollage vollständig anzuhören. Ob mir dabei was entgeht? Auch wenn die Stimmung im Haus der Photographie einer kathedralen Stimmung nahesteht, fällt es mir schwer, mich im Rahmen einer Ausstellung auf ein spirituelles Erlebnis einzulassen. Magnit hat Roppel seine Reihe genannt, wie eine russische Supermarktkette. Das wirft ein etwas differenziertes Licht auf die Sache.

Tellerrandgeschichten

Franz Beckenbauer hatte gar nicht mal die Unwahrheit über Katar gesagt; also zumindest laufen die Bauarbeiter dort nicht mit Kugeln an den Beinen rum. Nicht auf Gregor Schmidts brillanten Aufnahmen. Ein Airforce-Testflug, in knallgelben Overalls an der Straße stehende Arbeiter oder sich aus dem Wüstenstaub schälende Silhouetten von halbfertigen Gebäuden fangen katarische Momente einprägend ein. Die Fotografien sind irgendwie schön. Kompositorisch schön, farbig schön. Und dahinter lauert die Tristesse, der Geruch von Korruption und eingefahrenen Gesellschaftsstrukturen. Hätte FIFA und der Korruptionsskandal nicht auf dieses arabische Emirat medienwirksam aufmerksam gemacht, würden die meisten Betrachter wahrscheinlich mit Fragezeichen über den Köpfen vor Schmidts Reihe Waiting for Qatar stehen. Große, gerahmte Abzüge, die zwischen stiller, politischer Bestandsaufnahme und ästhetischer Fotografie stehen.

Auch Lars Hübner hat seinen fotografischen Fokus aufs Ausland gerichtet. Die Abzüge sind in schlichte, helle Holzrahmen gefasst; Bäume wurden entwurzelt und zurechtgedrechselt, um in Innenräumen nackt als Präsentationsmedium zu dienen… Zugegeben etwas dramatisch gedacht, doch die Rahmung unterstützt in gewisser Weise die Fotos selbst. Hier gibt es nichts weiter zu sagen. Nothing to declare thematisiert Taiwans kapitalistisch bedingte Zerrissenheit zwischen Alltag und Freizeit, zwischen Traditionen und westlichen Einflüssen. Davon gibt es leidlich viele Länder, warum speziell Taiwan? Hat Hübner eine bestimmte Bindung zu diesem Land oder einfach einen günstigen Flug erwischt? Ich muss unwillkürlich an Slavoj Žižeks Auseinandersetzung mit dem heutigen Kapitalismus denken, den ich noch unbedingt lesen will. Lars Hübner hat es bestimmt schon getan.

Kyun-Nyu Hyuns einfach betitelte und doppeldeutige Konzeptarbeit Nahrungsaufnahme dokumentiert akkurat jede ihrer vom 1. Januar bis zum 6. August 2015 zu sich genommenen Mahlzeiten. Die jeweils postkartengroßen Aufnahmen sind preiswert produziert und in strenger, mosaikartiger Anordnung auf die Wand geklebt. Abbild der Mahlzeit; Datum; Uhrzeit. Die Algorithmen der großen sozialen Netzwerke wüssten wahrscheinlich anhand dieser Datenfülle 99,9% über Hyuns Dasein. Beiläufigkeit, Transparenz und Kontrolle liegen heutzutage näher als vor der digitalen, barrierefreien Vernetzung. Andererseits brauche ich kein Algorithmus zu sein, um die Person ein gutes Stück näher kennen zu lernen, die hier freizügig ihre Mahl-Zeiten preisgibt. Die Welt war noch nie so klein wie morgen.

Hipster blättern gerne durch die NEON. Ich blättere gerne durch die NEON. Ein Zugeständnis?

Wer weiter oben konservative Kritik am üppigen visuellen Angebot einer populären Plattform gewittert hat: Nein, ernsthaft, ich mag tumblr. Ich denke, Reizüberflutung an sich ist nicht das Problem und massenhafter Bilderkonsum auch nicht. In der Regel will das niemand wirklich zugeben, der sich für etwas kritischer, kultureller oder künstlerischer hält als der Durchschnitt – aber Hand aufs Herz: Liegt das Problem vielleicht nicht eher in der Unfähigkeit einer adäquaten Bewertung? Was ist eine adäquate Bewertung überhaupt, wer bildet die Maßstäbe? Warum werde ich den Eindruck nicht los, dass ich eine Ausstellung besucht habe, die im Großen und Ganzen so aussieht wie ein aufgeschlagenes NEON Heft? – Ah, richtig. In der diesmaligen Jury von gute aussichten saß auch Amélie Schneider, Bildchefin besagten Magazins.

Sie sind einfach cool, diese Fotografien in der NEON. Sie zeigen das Leben wie es cool ist und wer sich damit nicht so recht identifizieren mag, kann immerhin noch sagen, dass es gute gemachte Fotografien sind: Schön scharf mit Blitz, schön verwackelt ohne Blitz, so lässig professionell eben. Am wichtigsten erscheinen aber das Motiv und seine Inszenierung. Am besten so, dass der Betrachter gar nicht erst das Gefühl bekommt, es sei in Szene gesetzt. Hashtag Authentizität. Meine alten NEONs habe ich immer ausgeschlachtet, meistens, um aus den Bildern Collagen zu machen, die mir als Skizzen oder Ideenzunder dienen. Dadaisten wie Hannah Höch oder John Heartfield machten im Gegensatz dazu Collagen, die in die Kunstgeschichte eingingen. Maja Wirkus‘ Collagen sind schon mal durch gute Aussichten in die Deichtorhallen gekommen. Graustufige Flächen, die sich bei genauerem Hinsehen als Gebäude- oder innenarchitektonische Fragmente enttarnen. Wie bei Aras Göktens Arbeiten bin ich mir nicht sofort sicher, ob es analoge oder digitale Collagen sind. Gökten verunsichert noch mehr, denn der Unterschied zwischen Collage und Realitätsabbild ist nicht mehr auszumachen. Seine Fotografien wirken zum Teil entmenschlicht, wie unbewohnte Neubauten.

Angenommen, gute aussichten ist der Spiegel dessen, was den momentanen deutschen Zeitgeist ausmacht, der durch die Linse auf die Welt schaut – dieser Weltblick wäre genau der, der ihn in seiner Gestalt beschreiben würde: Es geht nicht mehr nicht-global. Unsere Augen sind überall, während uns als Gesamtpaket schlichtweg jegliche Kapazitäten fehlen, um überall zu sein. Wir sehen quantitativ viel mehr als die Menschen vor hundert Jahren und damit auch mehr, was uns begeistert, was uns abstößt und uns Angst macht. Die für 2015/16 ausgewählten Positionen von gute aussichten – Junge deutsche Fotografie sind so individuell wie westlich-universell. Sie zeigen nichts, was uns durch die Medien nicht schon bekannt wäre und bemühen sich zugleich um eine einzigartige Perspektive.