Schlagwort: Filmkritik

Zeit und Raum unbekannt, Richtung Zukunft – Afrofuturismus

Dass wir alle einer ungewissen Zukunft entgegengehen, wissen wir. Das Ganze einmal aus der Perspektive des afrikanischen Science-Fiction-Kinos zu betrachten, offenbart nicht nur stimmungsvolle Bilder und nachdenkliche Klänge, sondern erweitert unseren kulturellen und kritischen Horizont.


Ein Kurzfilmabend mit afrikanischen Science-Fiction-Filmen. Klingt exotisch und aufregend. Veranstaltet wird der Abend von der internationalen NGO „AfricAvenir“, die sich als politisches und kulturelles Bindeglied zwischen Afrika und Europa für einen interdisziplinären Austausch einsetzt. Der Kinosaal ist sehr voll, man findet kaum noch einen Sitzplatz im Kino in den Hackeschen Höfen. Das Interesse ist groß am Afrofuturismus. Und irgendwie klingt es ja auch verheißungsvoll, als würde uns an diesem Abend etwas Großartiges und Bleibendes begegnen. Auf jeden Fall etwas, das wir so von Afrika noch nicht gesehen haben. Dann läuft der erste Kurzfilm an und in Sekunden tauche ich ein in eine nicht allzu ferne Zukunft.

Eine sanfte Brandung spült Fußabdrücke im grobkörnigen Sand fort. Von wem stammen sie? Kam derjenige aus dem Wasser? Eine Überblendung zeigt uns den mutmaßlichen Besitzer dieses Abdruckes. Ein Wesen lehnt gekrümmt an hohen kargen Steinfelsen. Wir beobachten, wie sich das Wesen, das wir jetzt in seiner menschlichen Gestalt ausmachen können, langsam regt. Arme und Beine bewegen sich und mit sichtlicher Anstrengung wird versucht, den Körper vom Boden aufzurichten. Das Menschenwesen hält sich am Fels fest, zieht sich langsam in die Vertikale. So als ob es sich zuerst an die herrschende Erdanziehung gewöhnen müsste. Als würde es von einem anderen Planeten, aus einer anderen Welt stammen. Sein Atem geht schwer. Währenddessen sehen wir, dass das Wesen einen Anzug trägt. Ein Raumanzug? Ein Reiseanzug? Das braune Leder bedeckt seinen ganzen Körper. Sogar der Kopf ist in einer Art lederne Maske eingebunden. Zwei runde Öffnungen für die Augen und ein Mundfilter aus Metall. Es hat etwas Animalisches. Fremdes, Befremdendes.

Der Blick von der Bucht aufs Meer ist getrübt vom noch nicht angebrochenen Tag. Man meint, am Ende des gebogenen Horizontes ein Land ausmachen zu können. Der Reisende schaut lange aufs Meer und versucht sich in seine neue Umgebung einzufühlen. So wie der Protagonist des Films müssen auch wir uns hineinfühlen. Wo sind wir hier? Ist das noch unsere Erde? Zu welcher Zeit spielt die Handlung? Protagonist und Zuschauer müssen diese Fragen bis zum Schluss des Films aushalten. Wir sitzen im selben Boot. Auf einer Reise durch ein fremdes Land auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, einem neuen zu Hause.

Der erste Kurzfilm an diesem Abend fesselt mich sehr. Eigentlich kann ich mich nach diesem kaum noch auf die anderen konzentrieren. Ich bleibe gefangen in der beklemmenden Stimmung des Films. Der junge algerische Regisseur und Produzent Amin Sidi-Boumédiène schafft es mit einfachen Mitteln ein sehr ursprüngliches Gefühl hervorzurufen. Es geht in „L`ile – Al Djazira“ um Einsamkeit und Fremdsein. In dem 2012 entstandenen, 35-minütigen Film folgen wir einem Mann, dessen Herkunft, Ziel und Motivation bis zum Schluss unklar bleiben. Sogar für ihn selbst? Wir kommen mit ihm an. An einen Strand, den wir nicht kennen, zu einer Zeit, die uns fern ist, und wir folgen mit ihm den seltsamen schwarz-weiß Fotografien, die er in einer Kiste im Strand ausgräbt und die uns den Weg durch die Stadt zeigen. Wir sehen verlassene, heruntergekommene Häuser und immer wieder die aufgehende Sonne. Wir laufen mit ihm über schmutzige Straßen und leere Plätze. Was ist hier passiert? Leben hier Menschen? Während der ganzen Zeit trägt der Protagonist seinen Anzug und die Maske.

Mit dieser Art des Werkschaffens reihen sich heute viele afrikanische Künstler in das Genre des sogenannten Afrofuturismus ein. Futuristisch ist hierbei nicht nur die Auswahl der Bilder und Metaphern, die am heutigen Stand technischer Errungenschaften andocken und diesen überzeichnen und eben in Szenerien der Zukunft ansiedeln. Sondern auch das alles verbindende Leitmotiv, eine Frage, die wir uns alle stellen müssen: In was für einer Welt/Zukunft wollen wir leben? Und gerade die afrikanische Diaspora scheint hierfür ein besonders intensives, drängendes Gespür zu haben. Mit den Bildern von Außerirdischen oder maschinenähnlichen Menschen wird eine ebenso wichtige Frage aufgeworfen: Was heißt es, fremd zu sein und was bedeutet es, Mensch zu sein? Wer Mensch sein darf, scheint in vielen Gesellschaften heutzutage gar nicht so klar zu sein. Diskriminierung und Ausgrenzung stellen den Kern eines humanen Miteinanders auch in Deutschland essentiell in Frage.

Wie die anderen Geschichten an diesem Abend ist auch „L`ile – Al Djazira“ in Afrika angesiedelt. Genauer gesagt im Norden des Kontinents, an der Küste Algeriens. Der Traum von einer vielversprechenden, anderen Zukunft, wie wir Europäer sie jeden Tag leben, ist hier in viele Seelen eingeschrieben. Denn man blickt von Algier aus fast direkt auf ein verheißungsvoll leuchtendes Europa. So scheint das Land sich selbst auch fremd zu sein: „These buildings, these streets, these roads and other landscapes shaped by the French presence constantly remind us that our identity is set. Algiers is the evidence that we have been of foreigners in our country. This feeling persists in our thoughts, our actions, our vision for the future.”, so der Regisseur in einem Interview. Doch vielleicht gibt es eine ganz andere Zukunft für die Menschen auf dem afrikanischen Kontinent. Eine, die sich eben nicht nur am aufgeblasenen Ideal des konsumierenden und darum „freien“ Bürgers orientiert. Eine, die aus sich selbst heraus erwächst.

Auf jeden Fall bieten die Filme dieser Künstler eine Kritik ihrer eigenen und damit auch unserer gesellschaftlichen Vergangenheit und Zukunft, die ganz in den Mainstream dieser Tage passt. Dem über alles stehenden Technikglauben und Innovationsdrang. Fortschritt ist gut, solange eben niemand auf der Strecke bleibt. Und wo kann man sonst die zuerst angsteinflößenden, wenn begangen aber Hoffnung spendenden, neuen Wege aufzeigen, wenn nicht im Medium des Films. Afrofuturistische Filme sind Träume, Visionen aber zugleich auch Gesellschaftskritik, Selbstreflexion.

Quelle: Youtube

Unsichtbare Mächte und die Macht des Unsichtbaren in Steven Spielbergs Filmen und Franz Kafkas Prosa

Letzte Woche startete Bridge of Spies (dt. Bridge of Spies – Der Unterhändler, 2015) in den deutschen Kinos, der 31. Spielfilm unter der Regie Steven Spielbergs (*1946). Seit mehr als 50 Jahren ist Spielberg Wegbereiter des „modernen“ Hollywood. Auf seinem Weg prägte er das zeitgenössische Kino wie wohl kein anderer. Dieser Artikel versteht sich als eine Hommage an die lebende Filmlegende. Er möchte bis in die Tiefen seiner Filmschätze vordringen, sich dort auf eine Expedition wagen und einige Geheimnisse seines Schaffens lüften – eine „archäologische“ Forschungsreise zu den Hintergründen seiner Erzähltechniken, gewissermaßen eine kulturgeschichtliche Abenteuerreise. Sie führt zum möglichen Ursprung jener Faszination, die Spielbergs Filme in ihrem Publikum auslösen kann: die jüdische Kultur und die darin enthaltene Gottesvorstellung, die auch Franz Kafkas (1883-1924) Werk in Inhalt und Form stark beeinflusst haben.

ein Gastbeitrag von Rudi Keiler Gómez de Mello


Spielberg und die Macht des Unsichtbaren als dramaturgischer Effekt

Spielberg äußerte einmal in einem Interview (Steven Spielberg – 30 Years of Close Encounters, 2007) sein Bedauern darüber, dass er aufgrund der engen Zeitvergabe für den Erscheinungstermin seines Science-Fiction-Films Close Encounters of the Third Kind (dt.: Unheimliche Begegnung der dritten Art, 1977) einige Sequenzen und Spezialeffekte nicht oder nur unbefriedigend fertigstellen konnte. Aber das Glück war ihm hold: Der Film wurde ein großer finanzieller Erfolg und Spielberg bekam für eine drei Jahre darauf folgende Special Edition die Möglichkeit, diese für ihn als solche gefühlten Mängel zu beheben. Dabei musste er jedoch, wie er es im Interview selber bezeichnete, einen „Pakt mit dem Teufel“ eingehen: Das für die Produktion verantwortliche Studio war der Meinung, das Kinopublikum wolle das Innere des Mutterschiffs der Außerirdischen sehen, welches der Protagonist am Ende des Films betritt. Dieser Einblick sei, so der Vorwurf des Studios, dem Zuschauer in der ersten Fassung vorenthalten worden. Spielberg hatte jedoch niemals vor, das Innere des Raumschiffs zu zeigen:

„Because I really, really felt, that the inside of that mother-ship was the exclusive property of the imagination of audiences everywhere (…).“ (Steven Spielberg – 30 Years of Close Encounters, 2007)

Letztendlich ließ er sich auf den Deal mit dem Studio ein, um seine Vision vollenden zu können. Er bekam das benötigte Geld, beseitigte die Mängel der ersten Version und drehte im Gegenzug das von der Marketingabteilung gewünschte Ende:

War somit nicht ein großer Moment des Films, das Geheimnis, das Mysterium, das die Vorstellungskraft bis dahin beflügelt hatte, regelrecht entzaubert? (Übrigens hat Spielberg in der Jubiläums-Edition des Films, 30 Jahre nach dessen Premiere, diese Sequenz wieder entfernt.)

(5.11 min. bis 8.46 min.)

Mich faszinierten die Äußerungen Spielbergs. Denn ich sah in seinen Filmen immer das Bestreben, großangelegte, visuelle Monumente zu erschaffen, die große Gefühle erzeugen sollten. Sein Wunsch, mit der Vorstellungsskraft des Zuschauers zu spielen, überraschte mich. Sind seine Filme unterhaltend? Ja! Sind sie emotional bewegend? Kein anderer Filmemacher kann einen so zu Tränen rühren! Aber sollten seine Filme etwa auch so raffiniert erzählt, in ihrer Botschaft sogar tiefsinnig sein?

Mir schien es, als stecke hinter seiner Arbeit das Klischee von dieser vermeintlichen Hollywood-Pragmatik, nach der jeder neue Blockbuster den vorherigen mit noch gewaltigeren Bild- und Soundeffekten zu übertreffen habe: Das Publikum soll in einem nie endenden Sinnenrausch von Staunen zu Staunen taumeln. Der eigenen Fantasie darf keine Möglichkeit mehr zur freien Entfaltung gegeben sein. Ich habe bis zu diesem persönlichen Statement Spielbergs nicht daran gedacht, dass gerade er, der für mich seit jeher als der Hauptvertreter dieser Pragmatik galt, die Fantasie des Zuschauers zu fördern wünscht!

Also wurde ich neugierig. Zudem beschlich mich langsam eine Ahnung, und ich begann, dieser Ahnung folgend gezielter zu forschen: Gibt es auch noch in anderen Filmen Spielbergs dieses Spiel mit der Vorstellungskraft? Worin sieht er die erzählerische Kraft seiner Werke? Steckt hinter seinen Filmen etwas Raffinierteres als das Bestreben, immer gewaltigere visuelle Leckerbissen zu servieren? Was für eine „philosophische“ Bedeutung steckt in dem Kunstgriff, wichtige visuelle Informationen vor den Augen des Zuschauers zu verbergen?

Fündig wurde ich zunächst in einer Dokumentation über Spielberg (Spielberg on Spielberg, 2007). Hier erzählt er in einem ausführlichen Interview im Rückblick auf seinen Werdegang als Filmschaffender Anekdoten über seine Filme. Unter anderem berichtet er über die Produktionsbedingungen seines ersten großen Blockbusters Jaws (dt. Der weiße Hai, 1975). So erklärt er den im Film vorherrschenden Spannungseffekt damit, dass der Schauder vornehmlich durch das Ungesehene, durch das der visuellen Wahrnehmung Entzogene erzeugt wird:

„Because I think what’s scary about that movie is the unseen, not exactly what we see … “,

allerdings mit dem Zusatz, dass das Schockmoment aus dem plötzlichen Erscheinen des Hais resultiert:

„ … and when we do see the shark, it’s shocking.“

(Spielberg on Spielberg, 2007)

 

Dabei fiel die Entscheidung, den Hai so wenig wie möglich in Erscheinung treten zu lassen, nur aufgrund produktionstechnischer Probleme mit dessen Set-Modell, das zu Drehbeginn absolut unbrauchbar war. Spielberg improvisierte daraufhin einen „Plan B“: Der Film sollte so gruselig wie nur möglich sein, ohne das Monstrum in Gänze zu zeigen. Das Bild des Hais musste aber im Kopf des Zuschauers durch bloße Suggestion erzeugt werden. Dieser Plan wurde, wie er selbst betont, das „Leitmotiv“ für den gesamten Film (vgl. Spielberg on Spielberg, 2007).

(1.12 min. bis 4.00 min.)

Die unsichtbaren Mächte, die Spielbergs Filmwelten kontrollieren

Sowohl in Close Encounter wie auch in Jaws spielt der Regisseur also mit meiner Fantasie, indem er meine Vorstellungskraft fordert. Die Spannung entsteht dadurch, dass das Außergewöhnliche und das Bedrohliche nach Möglichkeit verborgen bleiben. Neben der Bild-, Musik- und Tongewalt zeichnen sich beide Filme besonders durch die indirekt thematisierten unbekannten Mächte aus. Unbekannte Mächte, die sich der Wahrnehmung des Kinogängers entziehen und die jenseits der Erfahrungen der Alltäglichkeit eben diese Alltäglichkeit durcheinander bringen oder sogar bedrohen. Das macht einen Großteil des Reizes von Spielbergs Filmen aus.

Bei genauerer Überlegung und nachfolgender näherer Betrachtung seines Gesamtwerks fiel mir auf, dass dieses Erzählmittel eine Konstante in fast all seinen Produktionen, vor allem aber in den frühen Filmen zu sein scheint: Im Kurzfilm Amblin (1968) trampt ein sich auf Selbstfindungsreise befindendes Hippiepärchen aus den Tiefen der amerikanischen Wüste bis an das Westküstenmeer Kaliforniens. Der junge Mann trägt einen Gitarrenkoffer mit sich, den er wie seinen Augapfel hütet und dessen Inhalt er seiner weiblichen Begleitung nicht zeigen will. Welches dunkle Geheimnis mag er hüten? Erklärt der Kofferinhalt die Motivation für die Reise des jungen Mannes? Ein unbehagliches Gefühl beschleicht mich, während ich der Handlung folge. Auch hier erzeugt das die Handlung bestimmende Ungesehene die Spannung. Bis zum Ende bleibt das Geheimnis im Hintergrund lebendig. Als das Paar das Meer erreicht und der Eigentümer seinen Koffer endlich unbeaufsichtigt lässt, kann die junge Frau ihn öffnen. Ich, der Zuschauer, werde von meiner Spannung erlöst. Meine Fragen sind mit einem Schlag beantwortet.

Einen noch extremeren Umgang mit diesem Erzählmittel fand ich in Duel (dt. Duell, 1971): Auf dem Weg über die Weiten der amerikanischen Landstraßen wird ein Mann von einem obsessiven Lastwagenfahrer verfolgt. Der Großteil des Films besteht aus Einstellungen, die das „Duell“ des alten Tanklasters mit dem PKW des Protagonisten ins Bild setzen. Im Gegensatz zur Hauptfigur, die äußerlich wie innerlich transparent ist, wird die Identität des Lastwagenfahrers nie offenbart. Am Ende weiß ich weder, wie er aussieht oder wer er ist, noch erfahre ich etwas über die Motivation für seine übersteigerte Aggression. Hier ist das Spiel mit dem Unbekannten nicht nur bloßes Mittel zur Spannungserzeugung. Dass der Urheber der Gefahr sich nicht zeigt, hat meines Erachtens eine tiefer gehende Bedeutung: Der Tanklaster steht für die fortwährende und mächtige, aber unergründliche Bedrohung einer alltäglichen Situation, der man schutzlos ausgeliefert ist. (In Jaws und Close Encounters ist das ebenso.) Die jüngst in Paris durchgeführten terroristischen Anschläge erinnern vielleicht an den zeitlosen Charakter dieser Einsicht.

Die Ungewissheit darüber, was die Ursache dieser Bedrohung des alltäglichen Lebens ist, und darüber, wann man selbst von ihr betroffen wird, reflektiert die Hauptfigur in einem inneren Monolog:

„Man kann nie wissen. Man kann wirklich nie wissen. Da fährt man wie immer vor sich hin, als ob sich nie etwas ändern würde. Es wäre ja auch zu dämlich anzunehmen, dass es irgendjemanden gibt, der einen mit dem Laster umbringen will. Dann passiert diese dumme Sache. Und in zwanzig, fünfundzwanzig Minuten ist dein ganzes Leben aus der Bahn. Es ist, als ob du… na ja… du bist wieder im Dschungel gelandet.“ (Duel, 1971)

(28.34 min. bis 29.07 min.)

Indiana Jones und die verborgene göttliche Macht

Die unsichtbaren, sich jenseits des Alltäglichen verbergenden Mächte sind ein in verschiedenen Varianten auftretendes Leitmotiv in Spielbergs Filmen. Das wurde mir anhand der Beispiele deutlich. Auch haben diese im Kopf des Zuschauers suggerierten Mächte, die Spielbergs Filmwelten kontrollieren, etwas Metaphysisches womit ich meine, dass sie den Sinnen, vor allem dem Sehsinn, entzogen sind. Sie sind unzweifelhaft da, der Zuschauer kann sie erahnen, aber sie treten nicht sinnlich in Erscheinung. Sie existieren jenseits der visuell wahrnehmbaren, physischen Welt. Sie sind über-sinnlich, nicht physisch, sondern nur geistig erfahrbar als Fantasie, Vorstellung, Assoziation etc. Ihr Dasein ist also rein meta-physisch. Dabei sind sie entweder auf indirekte, symbolische Weise, d. h. dem Prinzip nach metaphysisch, wie in Jaws, in Amblin oder in Duel. Oder es handelt sich bei ihnen um konkret definierte metaphysische Instanzen, paranormale oder göttliche, die im Verborgenen das Geschehen bestimmen, z. B. in Close Encounters oder auch in Raiders of the Lost Ark.

Das konkreteste Beispiel einer solchen metaphysischen Macht, die insgeheim den roten Faden des Plots bestimmt, fand ich in Spielbergs erstem Indiana-Jones-Film Raiders of the Lost Ark (dt. Jäger des verlorenen Schatzes, 1981). Auch hier ist deren durchgehende Verborgenheit ein weiteres Beispiel für den von ihm schon bei früheren Filmen angewendeten Kunstgriff des Erzählens. Bei Raiders spielt Spielberg zwar auf unterschiedliche Weise mit dem Zurückhalten von visueller Information (z. B. die zahlreichen „Schattenspiele“, das Einführen von Figuren über Detailaufnahmen), aber das Hinauszögern der Sichtbarmachung des Göttlichen ist das stärkste Spannungsmoment des Films und dabei zugleich der erzählerische Katalysator der Handlung. Das Fantastische ist allgegenwärtig. Ich spüre die permanente Anwesenheit einer Entität, die mein Fassungsvermögen übersteigt. Diese göttliche Entität wird zwar im ersten Viertel des Films angedeutet, aber erst am Ende tatsächlich sichtbar bzw. genauer: nur zum Teil sichtbar.

Um den Repräsentanten dieser göttlichen Macht beim Namen zu nennen: Es geht um den „McGuffin“ des Films, nämlich die Bundeslade bzw. ihren Inhalt, die Zehn Gebote und ihre verheerende Wirkung auf die Feinde des monotheistischen Glaubens. (Im Film sind das schlichtweg die Nazis.) Nicht nur ich (der Zuschauer) möchte das göttliche Geheimnis gelüftet sehen. Auch für Indy ist dies sie prinzipielle Handlungsmotivation: Hier treibt das Unbekannte, sich Verbergende den Menschen an. Es weckt seine Neugier. Er möchte endlich sehen, was sich da verborgen hält. Das gilt für die Figuren des Films wie für mich, der ich dem Film in absoluter Spannung verfallen bin und mich frage: Können wir Menschen über die Bundeslade direkt mit Gott in Kontakt treten? Ich will diese alles bestimmende Macht endlich zu Gesicht bekommen und harre bis zum Ende des Films aus.

Und ich will auch wissen, was da genau die mir vertraute Welt ins Wanken bringt: Wie sieht diese zerstörerische Macht aus? Am Ende liegt der Fall etwas anders: Das Erblicken des Göttlichen stellt ein Verbot dar, dessen Überschreitung man mit dem Tod bezahlt. (Interessanterweise bin ich [der Filmzuschauer] aber von dieser Strafe ausgenommen.) Indy überlebt die Konfrontation mit dem Göttlichen nur, weil er im kritischen Moment die Augen davor verschließt. Im Showdown ereilt ihn die Erkenntnis: Das Verborgene muss für ihn verborgen bleiben, denn es ist ihm nicht gestattet, es zu erblicken. Er ist nicht würdig genug, nicht „rein“ genug. Nur derjenige kann überleben, der sich im wahrsten Sinne des Wortes als gottesfürchtig erweist. Letzten Endes sieht der Protagonist auch in diesem Spielberg-Film (ähnlich wie in Duel) die alles bestimmende, alles umgreifende Macht nicht.

Auch bei Indiana Jones gibt es also das die Welt erschütternde Mysterium, das lieber verborgen bleibt und aus dieser Verborgenheit den Lauf der Dinge, die Welt bestimmt. Und es soll der Welt (lange) vorenthalten werden und unsichtbar bleiben. Den Figuren der fiktionalen Welt, aber auch der Wahrnehmung der Zuschauer ist die Bundeslade, sowohl in ihrem Aussehen als auch der Art ihrer Macht bis zur Auflösung am Ende entzogen. Dabei verstärkt Spielberg das Rätsel und die Mystifizierung, indem er Zweifel an der Existenz der Lade andeutet und über längere Zeit die Unwissenheit über ihren präzisen Aufenthaltsort, über ihr genaues Erscheinungsbild und über ihren Inhalt in den Vordergrund stellt.

Das mehrfach verschachtelte Unsichtbare

In der Sequenz, in der Jones den Delegierten des Abwehrdienstes den Mythos der Bundeslade zu erklären versucht, wird diese Unsicherheit demonstriert. Er ist zwar ein ausgewiesener Experte, aber in diesem Fall kann auch er nur spekulieren: Die Stadt Tanis, in welcher die verlorene Truhe verborgen sein könnte, ist bloß einer von vielen möglichen Aufbewahrungsorte; sie kann plötzlich – „Wusch!“ – verschwinden und niemand weiß, wohin oder wann; vielleicht wurde sie von den Ägyptern in einer geheimen Kammer verborgen. Diese Spekulationen machen den Mann vom Abwehrdienst neugierig: „Wie sieht diese Lade denn nun aus?“ Darauf zeigt ihm Jones eine moderne Illustration, die sich zweifelsohne mehr auf Fantasie als auf Fakten gründet und nichts weiter ist als eine didaktische Veranschaulichung. Die Abbildung deutet die zerstörerische Macht der Lade nur an. Und auch Indy kann das Potenzial der Macht nicht mit Sicherheit deuten:

Was in dieser Sequenz außer der Unwissenheit über die metaphysische Macht verdeutlicht wird, ist der Charakter ihrer Verborgenheit. Dabei ist hier die Macht mehrfach, sozusagen unter mehreren Schichten, verborgen. Diese Schichten gilt es für den Archäologieprofessor Stück für Stück abzutragen, bevor er auf das „Eigentliche“ stößt. Das Göttliche hat sich in mehrfacher Verschachtelung versteckt. Erst wenn einige „Tore“ geöffnet, wenn zahllose „Stufen“ zum Mysterium hinauf – oder hinab? – beschritten worden sind, offenbart es sich. Als Suchende wollen Indiana Jones und ich (der Zuschauer) zum wahren Kern vordringen. Indy ist fest entschlossen, dafür immer noch ein Hindernis mehr zu überwinden. Das ist spannend und ich bin bereit, bis zum Aufdecken des Geheimnisses an seiner Seite zu bleiben, wenn auch nur als Beobachter.

Diese Hindernisse, Schichten oder Ebenen der Verschachtelung sind zahlreich. Ich zähle nur die offensichtlichsten auf. Zuerst: Die Stadt Tanis, in der sich die Bundeslade befinden soll, ist durch einen Wüstensturm verschüttet und muss erst ausgegraben werden. Dann: Die Lade ist an einem geheimen Ort der Stadt verborgen. Dieser Ort muss ausfindig gemacht werden, um daraufhin den verloren geglaubten Schatz heben zu können. Wie er genau aussieht, ist bis zu dem Moment, als die Lade geborgen wird, nicht klar. Und schließlich: Was sich genau im Inneren der Truhe befindet, bleibt lange Zeit ein weiteres Mysterium. Erst das Ende des Films bringt die komplette Auflösung und offenbart die göttliche Macht.

Die Schlusssequenz zeigt jedoch, wie die Lade im Auftrag des amerikanischen Abwehrdienstes wieder verborgen wird: weggeschlossen in eine Kiste und in eine gigantische Halle eingelagert. Eingeschlossen in einen Behälter zwischen einer endlosen Zahl gleich aussehender Behälter ist sie dem Suchenden jetzt ferner denn je. Auch hier: unendliche Verschachtelung des Geheimnisvollen, das unserem Blick entzogen wird. Die metaphysische Macht ist zwar präsent, aber sie ist nicht sichtbar. Und ich weiß, dass sie für lange Zeit nicht mehr, wahrscheinlich nie wieder sichtbar sein, sich nie wieder offenbaren wird.

Zwei Künstler – ein künstlerisches Mittel?

Dass alle Künstler*innen einen besonderen Stil pflegen, bei ihrer Arbeitsweise auf die gleichen Grundmotive zurückgreifen und gewisse Elemente in ihren Werken wiederkehren, ist eine Binsenweisheit. Mir ging es in meiner „Expedition“ daher um die Aufdeckung des nicht gleich offensichtlichen Charakters von Spielbergs Erzähltechnik. Dieser Charakter manifestiert sich auf den verschiedenen ästhetischen Ebenen seiner Filme:Unbekannte, verborgene Mächte und Mysterien, auf deren Auflösung die Handlung einer Geschichte ausgerichtet ist und die in ihrer Verborgenheit mehrfach verschachtelt sind. Dann das Säen von Unsicherheit und das Betonen von Unwissenheit über diese Mächte.

Mitunter kommt es vor, dass Künstler*innen sich ähnlicher oder gar der selben Mittel bedienen. Und auch Spielbergs Verfahren kam mir aus einem anderen Zusammenhang sehr bekannt vor, nämlich aus meiner Beschäftigung mit der Prosa Franz Kafkas (1883-1924). Tatsächlich zeigte sich mir bei genauerer Betrachtung der Erzählstrukturen von Spielbergs Filmen, vor allem von Raiders, eine Parallele, die mir vorher noch nicht bewusst war: Verhält es sich in Kafkas Geschichten nicht ähnlich wie in denen von Spielberg? Sind nicht auch hier unsichtbare, sich verbergende Mächte am Werk, die die Hauptfigur und der Leser im Laufe der Geschichte (erfolglos) aufzudecken versuchen? Gibt es nicht auch bei Kafka zuhauf diese Struktur der Verschachtelung? Werden hier nicht Leser und Protagonist gleichermaßen von Unsicherheit und Unwissenheit über die hinter der faktisch erfahrbaren Welt liegenden Mächte gequält?

Kafka und das verschachtelt Verborgene als narrativer Rahmen literarischer Fiktionen

In Kafkas Œuvre finden sich unzählige Beispiele für diese Charakteristika des Erzählens, die Spielberg 50 Jahre später in seinen Filmen anwendet. Seine Prosa wird durch ein poetisches Verfahren gebildet, das den Hauptfiguren und dem Leser wesentliche Informationen vorenthält, also Leerstellen bildet, die eine enorme Deutungsvielfalt provozieren. Was bedeutet, dass auch hier Assoziationskraft und Fantasie gefordert werden. Ich (der Leser) soll versuchen, mir diese fiktionalen Welten zu erklären. (Auch an anderen Stellen auf postmondän wurde dieses Charakteristikum von Kafkas Prosa in verwandter Weise bereits behandelt: Vom Nichts Schreiben und Alles Sagen und Der Turbostaat Code Was vorenthalten wird, ist genau das, was diese Welten einerseits zusammenhält, andererseits aber gefährdet: nämlich unbekannte, unsichtbare und somit unerklärliche Mächte. Das Aufrechterhalten des Mysteriums ist auch hier Teil des Spiels mit mir, dem Leser. Dieses Ungesehene, dieses Beunruhigende, ja Bedrohliche, das ich unterschwellig erahnen muss, ist immer da, auch wenn Kafkas Prosa zugleich meinem geistigen Auge den Zugriff darauf verwehrt. Die Hauptfiguren irren auf der Suche danach umher, durch Labyrinthe, unendliche bürokratische Apparate, im sehnsuchtsvollen Blick durch unzählige Tore, die es bis zum Ziel zu durchschreiten gilt. Jedes Mal mühen sich Protagonist und Erzähler erfolglos ab, die Mächte hinter der materiellen, sinnlich erfahrbaren Welt, die Kafka in seiner Literatur erschafft, kennenzulernen. Sicher, die wichtigen Informationen sind da, irgendwo, versteckt in unendlicher Verschachtelung. Aber erreichen kann man sie nicht, und auch sie dringen nicht zu mir durch, selbst wenn sie es sollen.

So in Kafkas Erzählung Eine kaiserliche Botschaft (1917). Hier wird dem Leser wortwörtlich „Information“ vorenthalten: der Inhalt der kaiserlichen Botschaft. Diesmal ist es der Empfänger der Botschaft, der unerreichbar ist: Ein Bote soll die Nachricht des sterbenden Kaisers einem unbedeutenden „Einzelnen“ überbringen. Dieser „jämmerliche Untertan“ bin ich, der Leser, denn der Erzähler spricht mich in der zweiten Person an. Die Information wird niemals zu mir durchdringen, denn

„immer noch zwängt er [der Bote] sich durch die Gemächer des innersten Palastes; niemals wird er sie überwinden; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast; und so weiter durch Jahrtausende; und stürzte er endlich aus dem äußersten Tor – aber niemals, niemals kann es geschehen – liegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes“ (Franz Kafka: Eine Kaiserliche Botschaft).

Die Information, die eng mit der Macht des Kaisers zusammenhängt, bleibt mir verborgen. In unendlicher Verschachtelung ist der Bote weggesperrt und eingeschlossen. Ich werde auf meine Fantasie, meine Vorstellungskraft verwiesen, wenn ich den Inhalt der Botschaft zu erfahren wünsche:

„Du aber sitzt an Deinem Fenster und erträumst sie Dir, wenn der Abend kommt.“ (Franz Kafka: Eine Kaiserliche Botschaft)

In Kafkas Werken gibt es unzählige Beispiele, die strukturelle Ähnlichkeiten zu Eine kaiserliche Botschaft aufweisen. Auch in Vor dem Gesetz (1915) bedeutet Kafka dem Leser, dass dieses „Gesetz“ hinter einer Unzahl von Toren verborgen und damit unerreichbar für den „Mann vom Lande“ ist. Dieser blickt neugierig am Türhüter vorbei, um durch das geöffnete Tor zu spähen. Der Hüter gibt ihm zu verstehen, dass die Hindernisse zum „Gesetz“ in ihrem Schwierigkeitsgrad wachsen und dass es andererseits eine endlose Anzahl von Hindernissen gibt:

„Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbots hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere.“ (Franz Kafka: Vor dem Gesetz)

Ebenso wie dem „Mann vom Lande“ ist dem Leser der Zugang zum „Gesetz“ verwehrt. In unzähliger Verschachtleung scheint es unerreichbar. Was hat es mit diesem mysteriösen „Gesetz“ auf sich? Kafka verrät es dem Leser nicht. Es bleibt unklar, was sich hinter den unzähligen Toren verbirgt und wie das dort befindliche „Gesetz“ beschaffen ist. Nur eins ist gewiss: Alle Menschen streben danach. Denn das „Gesetz“ ist eine Macht, die die Geschicke der Menschen bestimmt und deren Aufmerksamkeit fordert. Erst nach einem lebenslangen Forschen, wenn der Tod naht und das Augenlicht des „Mannes vom Lande“ schwindet, er der Fähigkeit der visuellen Wahrnehmung verlustig geht, ist er dieser anziehenden Macht, die sich hinter den Toren verbirgt, näher als je zuvor:

„Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz, der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht.“ (Franz Kafka: Vor dem Gesetz)

Der Sterbende erkennt erst, was für eine Macht dort schlummert, wenn er nichts mehr sehen kann. Wird hier nicht gar seine Vorstellungsskraft gefordert, damit er sich des Schreckens seiner Situation bewusst wird?

Die unsichtbaren Mächte, die Kafkas literarische Welten beherrschen

Die Erzählung Vor dem Gesetz ist als allegorischer Teil in Kafkas berühmtestes Romanfragment eingebunden: Der Proceß (postum 1925). Hier wird der Protagonist Josef K. von einem Tag auf den anderen angeklagt. Wer oder was hinter dieser Anklage steckt, wie die Anklage lautet und vor allem: was K.s Vergehen ist, das ist undurchschaubar. Es tritt bis zum fatalen Ende nicht zutage. Vor allem das Gericht bleibt verborgen. Auch die Verfahrensregeln dieses obskuren Gerichts sind völlig diffus. Ich, der Leser, störe mich an dessen Vorgehen, weil es meinem herkömmlichen Bild einer Gerichtsbarkeit widerspricht. Es beunruhigt mich und ich will diese rätselhafte Situation aufgeklärt wissen. Um mich von meiner Unruhe zu befreien, deute ich diese Leerstelle des Textes. Meine Interpretation ist es, die mich eine Zeitlang bis zur nächsten Verwirrung beruhigt, nicht das, was mir der Roman offenbart. Was aber sicher ist: Dieses seltsame Gericht ist die oberste und dabei unsichtbare Instanz in einer von ihr gestörten Welt und damit auch die höchste, verborgene Macht, die in K.s Alltagsleben eingreift.

In seinem Buch Kafka für Fortgeschrittene (2004) weist Hans Dieter Zimmermann darauf hin, dass in Kafkas Geschichten, vor allem aber in Der Proceß, diese „Duplizität der Welt“ für das beim Lesen aufkommende Unbehagen verantwortlich ist:

„[D]iese Doppelwelt besteht aus der Alltagsrealität mit ihren bekannten Regeln und aus einer phantastischen Realität mit eigenen Regeln, die denen des Alltags überlegen sind. Hier in der phantastischen Realität wurden die Entscheidungen getroffen, die Kämpfe ausgefochten, die den Alltag dann bestimmen.“ (Hans Dieter Zimmermann: Kafka für Fortgeschrittene)

Das Prinzip dieser „Doppelwelt“ ist auch in Spielbergs Filmen wirksam. Dort wird die Alltäglichkeit von einer aus einer anderen Sphäre stammenden Macht gefährdet. Ich erinnere hier vor allem an Duel und den zitierten inneren Monolog.

Die unerreichbare metaphysische Macht oder einfach: Gott

Das, was diese Doppelwelt in Kafkas Werken beherrscht, diese verborgene Macht, ist ebenso metaphysisch wie in Spielbergs Filmen. Sie entzieht sich meinem geistigen Blick und ist somit unerreichbar. In Der Proceß ist

„die Rangordnung und Steigerung des Gerichts (…) unendlich und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar“. (Franz Kafka: Der Proceß)

Hier ist das Gericht, diese metaphysische Instanz, in mehrfacher Verschachtelung verborgen. Aus der Sphäre, in der sich das Gericht befindet, wirkt das „Gesetz“, das ebenso unbekannt ist. Woher entnimmt Kafka diese Motive und strukturellen Eigenheiten, die mir, dem Leser, so seltsam erscheinen? Welche metaphorische Bedeutung könnte diese metaphysische Macht haben?

Auf der Suche nach einer Antwort müssen wir uns nun in kulturhistorische Gefilde begeben: Zimmermann vertritt nämlich die These, dass sich viele Motive und strukturelle Eigenheiten von Kafkas Werken auf den Einfluss der jüdischen Religion und auf deren Mythologie zurückführen lassen, wofür ihm als Beispiele vor allem die drei oben behandelten Erzählungen dienen. Laut Zimmermann sind diese mehrfach von der kulturellen Substanz jüdischer Tradition durchzogen. Die Worte „Gesetz“ und „Gericht“ sind bei Kafka demnach zweideutig:

„Kafka spielt (…) mit der zweifachen Bedeutung des Wortes Gesetz, das einmal landläufig als juristisches Gesetz aufgefasst wird und zum anderen weniger landläufig als Thora, als das Gesetz, das Gott den Juden gab. Auch die Bedeutung von Gericht im Roman ‘Der Proceß’ wechselt irritierend zwischen staatlicher Gerichtsbarkeit und göttlichem Gericht. Doch die Gerichtsbarkeit, der K. unterworfen wird, ist keine staatliche Gerichtsbarkeit im üblichen Sinne – Kafka hat jüdische Elemente weitgehend unkenntlich gemacht, ausgerechnet ein katholischer Gefängnisgeistlicher erzählt in einem Dom die ganz und gar unkatholische Legende vom Eintritt in ‘das Gesetz’.“ (Hans Dieter Zimmermann: Kafka für Fortgeschrittene)

Auch die durch diverse Hindernisse auf dem Weg zu ihr bedingte Unzugänglichkeit der obersten Macht hat eine Entsprechung in jüdischen Gottesvorstellungen. Sowohl bei Kafka als auch bei Spielberg findet sich die folgende Struktur in poetischer Umwandlung wieder: Die zehn Stufen, wie sie als Sefirot in der Tradition der Kaballa bezeichnet werden,

„sind Eingießungen, Emanationen des Göttlichen in der Welt. Auf der obersten Stufe ist dieses Göttliche natürlich am stärksten, es entleert sich immer mehr, je weiter es nach unten gleitet, so dass die unterste Stufe, auf der die Menschen stehen, die der materiellen Welt, am weitesten vom Göttlichen entfernt ist, aber doch noch Anteil an diesem hat. Der sehnlichste Wunsch des Theosophen ist es, auf dieser Stufenleiter hinaufzuklettern, um – wenn möglich – zu erreichen, was nur die Engel der höchsten Stufe erleben: Gott selbst auf seinem Thron zu sehen.“ (Hans Dieter Zimmermann: Kafka für Fortgeschrittene)

Die vom Theosophen erstrebte Schau Gottes auf seinem Thronwagen heißt auf althebräisch „Merkaba“. Das nachfolgend aufgeführte Beispiel aus der Merkaba-Mystik illustriert die Gefahren, denen sich der Unwürdige aussetzt, wenn er den Aufstieg wagt:

„Wer aber nicht würdig war, den König in seiner Schönheit zu sehen, dem verwirrten die Engel an den Toren den Sinn. Und sobald sie zu ihm sagten: ‘Tritt ein’, so trat er wirklich ein. Sofort pressten sie ihn und warfen ihn in den feurigen Lavastrom. Und am Tor des sechsten Palastes schien es, als ob Hunderttausende und Millionen Wasserfluten gegen ihn anstürmten, während doch nicht ein einziger Tropfen Wassers da war, sondern nur strahlender Äther und klare Steine aus lauterem Marmor, mit denen der Palast ausgelegt war. Die Engel aber standen vor ihm. Wenn er nun sagte: ‘Was bedeuten diese Wasser?’, so begannen sie, ihn zu steinigen und riefen: ‘Du Unwürdiger, siehst du es denn nicht mit deinen eigenen Augen? Bist du etwa einer der Kinder derer, die das Goldene Kalb geküsst und nicht würdig, den König in seiner Schönheit zu schauen?’ Und er geht nicht von dannen, bis sie sein Haupt mit eisernen Stangen verletzen.“ (Gershom Scholem: Die jüdische Mystik zitiert nach: Hans Dieter Zimmermann: Kafka für Fortgeschrittene)

Zimmermann sieht hier eine Parallele zu Kafkas Der Proceß und der Erzählstruktur des Romanfragments. Und mich erinnert das Beispiel an den Showdown von Raiders of the Lost Ark, als die Nazis die Bundeslade öffnen: Die Unwürdigen werden von den aus der Truhe stürmenden Lichtgestalten getötet. Derjenige jedoch, der den Blick abwendet, nämlich Indiana Jones, wird verschont.

Spielberg, Kafka und jüdische Mythologie

Am Ende meiner Expedition, die bei Spielbergs Filmen begann und über Kafkas Erzählungen hin zur jüdischen Mythologie geführt hat, steht für mich folgende Erkenntnis: Spielberg und Kafka verwenden nicht nur ähnliche Kunstgriffe für ihre Werke, nämlich die Macht des Unsichtbaren als Erzählverfahren und die unsichtbare Macht als ständiges Motiv. Beide speisen ihre Erzähltechniken und Motive wohl auch aus der jüdischen Mythologie. Diese Techniken können zum einen für Unterhaltung (vor allem bei Spielberg), zum anderen aber auch für Verstörung (bei Kafka) sorgen.

Spielberg bekennt sich zu diesem Einfluss, wenn er in Spielberg on Spielberg auf seine jüdische Abstammung verweist. In seinen die Entstehungsgeschichte von Raiders betreffenden Erinnerungen betont er seine mythologischen Kenntnisse über die Bundeslade, die er ins Verhältnis zum historischen Wissen von George Lucas setzt, der die Idee und die Story zum Film beisteuerte:

„George had the idea that they were going after an antiquity called the lost ark of the covenant, which I knew a little bit about it. I should know a lot more about it, because I’m Jewish and George isn’t. But … but George knew a lot of the history, when it went missing etc. I knew a little bit it was about, was the mythology was about it.“ (Spielberg on Spielberg, 2007)


(7.40 min. bis 8.00 min.)

So wie in Kafkas Proceß und den anderen Erzählungen ist u. a. in Spielbergs Raiders of the Lost Ark der Einfluss jüdischer Mythologie nicht nur bei den Inhalten spürbar, sondern sie zeichnet auch für die angewendete Erzähltechnik verantwortlich. Bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt hat so eine Jahrtausende alte Kultur mit ihren religiösen Weisheiten durch den sowohl einflussreichsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts Eingang in die moderne Literatur und durch Spielberg in die Filmsprache des zeitgenössischen Hollywood gefunden. Dieser Einfluss ist selbst im kleinsten Detail einer Szene aus Raiders erkennbar:

Wenn Indy in seiner Funktion als Prof. Dr. Jones eine Vorlesung vor seinen überwiegend weiblichen Studierenden hält, ist er einer Menge Schwärmerei ausgesetzt. Eine Bewunderin sticht besonders hervor. Sie übermittelt ihm auf originelle Weise die Botschaft „Love You“. Die Worte sind feingliedrig auf ihre Augenlider geschrieben. Wenn sie diese sachte senkt, ihre Augen vor ihrem Idol verschließt, kann sie ihre Verliebtheit demonstrieren. Was uns zu einer letzten Parallelziehung, einer abschließenden allegorischen Deutung führt: Im Alten Testament lautet das 3. Gebot verkürzt: „Du sollst dir kein Gottesbildnis machen (…).“ Sich Gott zu veranschaulichen, ist damit eines der strengsten Verbote der jüdischen Religion. Die Liebe zu Gott demonstriert der Gläubige auch im Einhalten dieses Gesetzes. Ist es für ihn nicht die größte Versuchung, die größte Sünde, eben diesen Gott unbedingt schauen zu wollen? Seine wahre Liebe und seinen Respekt kann der Gläubige demonstrieren, wenn er im Angesicht dieser Versuchung die Augen verschließt.

„Any questions?“


Rudi AutorenfotoRudi Keiler Gómez de Mello, geboren auf Kuba, aufgewachsen in Berlin, hat Philosophie, Kunstgeschichte und vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Er ist als Dramaturg, Theaterpädagoge, Produktionsleiter und als Darsteller in verschiedenen Kunst- und Theaterprojekten an Berliner Institutionen (z. B. HAU, Theater an der Parkaue) aktiv. In seinen Artikeln beschäftigt er sich vornehmlich mit seiner schon in früher Kindheit entflammten Leidenschaft: dem Film.

Woody Allen: Irrational Man – oder: Warum eigentlich Kontinentalphilosophie?

Irrational Man” ist Woody Allens 47ster Film als Regisseur. Selbst im Alter von 80 Jahren ist das ganz schön beachtlich. Doch sind die jährlichen Filme des Altmeisters den Kinogang überhaupt noch wert?


Woody Allens Art in den letzten Jahrzehnten Filme zu machen ist beständig. So beständig, dass man fast den Eindruck entwickeln könnte, dass es garnicht so schwer wäre, sich seinen eigenen Woody Allen Film nach dem Baukastenprinzip zusammenzubauen. Im Vordergrund stehen möglichst plakative und offensichtliche Figurenkonstellationen, die sich vor einer austauschbaren Diakulisse stetig verkomplizieren. Untermalt wird das Ganze von gefälliger Intellektuellenmusik und einem Griff in die Zitatekiste. Auch in “Irrational Man” verlässt Allen seine ausgetretenen Pfade nicht:

Quelle: Youtube

Abe Lucas (Joaquin Phoenix) ist der neue mysteriöse Dozent am fiktiven Snobcollege Brayden – Fachbereich Philosophie. Da gehört es quasi zum guten Ton, dass man ein wenig kaputt ist. Aber bei Abe läuft’s gar nicht mehr so recht. Der Weltschmerz ist groß, der Todesdrang stark und die Errektionen schwach. Zu ertragen ist das eigentlich nur mit jeder Menge Single Malt und Aufmerksamkeit durch Frauen, die ob seiner unwiderstehbaren Fuck-it-all Attitüde ohnehin rege Mühe haben ihre Höschen anzubehalten. Aber weh-oh-weh: Selbst die freie Auswahl zwischen der läufigen Mittvierzigerkollegin Rita (Parker Posey), die nur auf Abe gewartet hat, um ihren Ehemann zu betrügen und der hübschen Studentin Jill (Emma Stone), die vor lauter Faszination garnicht mehr weiß wo ihr der Kopf steht, kann ihn nicht so recht aus seiner Lustlosigkeit befreien.

Glücklicherweise rettet ihn nach der Hälfte des Filmes der Plotpoint und er findet dann doch seine Passion: Die Planung und Durchführung des “perfekten Mordes” an einem joggenden Richter, ohne den die Welt nach Meinung des Moralexperten Lucas auf jeden Fall besser dran ist. Abe ist jetzt ein Macher und so richtig froh, dass er sich nicht mehr nur ausschließlich mit “französisch-intellektuellem Nachkriegsgeschwafel” über Wasser halten muss und nebenbei auch wieder kopulieren kann.

An (pseudo)philosophischen Kurzdarbietungen fehlt es “Irrational Man” nämlich nicht. Kant, Kierkegaard, Sartre, Dostojewski – jeder wird mal bemüht. Das Netz der phrasierten europäischen Denktradition verbindet die ganz großen Themen des Films: Weltschmerz, moralische Dilemmata, die Macht des Zufalls und die Einsicht, dass alle Theorie im Angesicht des praktischen Erfahrungshorizontes verblasst. Präsentiert wird das Ganze manchmal so unnachgiebig plakativ, dass selbst eine Studentin innerhalb des Films die unsichere Frage: “Warum eigentlich Kontinentalphilosophie?”, stellt. Die zögerliche Antwort lautet, dass das eben doch viel persönlicher sei als die verkopfte analytische Tradition. Zusätzlich wird durch das Abspulen der kleinen Zitatesammlung sehr effektiv die fast schon lächerliche Kulisse des gehobenen akademischen Snobmilieus vorgezeichnet und so der Weg für einige doch sehr amüsante Zwischenlacher bereitet. So findet “Irrational Man” eine Plotführung, die trotz oder gerade aufgrund ihrer als Tiefsinn getarnten Plattheit das Interesse des Zuschauers nie verliert.

Im Laufe des Filmes wird die philosophische Litanei des Protagonisten Abe Lucas folgendermaßen beschrieben:

“Es ist ein Triumph des Stils. Einer tiefergehenden inhaltlichen Betrachtung hält sein Schreiben nicht stand.”

Das tut wohl genausowenig der wenig komplexe Streifen des in die Jahre gekommenen Regisseurs und Drehbuchautors Allen. Aber das sollte er ja vielleicht auch gar nicht. “Irrational Man” ist nämlich trotzdem ganz unterhaltsam. Man muss sich einfach nur einen zynischen Woody Allen vor seiner Schreibmaschine vorstellen, der selber nicht so recht weiß, ob er seinen lethargisch weltschmerzelnden Hundeblick durch ein verschmitztes Lächeln stören soll, um so zu offenbaren, dass die beste Art mit dem Leben umzugehen vielleicht ist, es nicht vollständig ernst zu nehmen.

 

Alexej Balabanow: Cargo 200 (Груз 200)

An “Cargo 200” von Alexej Balabanow scheiden sich die Geister der Kritik, was ist angebracht: Psychotheraphie oder Auszeichnungen?


 

 

Die Handlung von Alexej Balabanows – seines Zeichens Zyniker und „Makaberettist“ – bereits vor Abschluss der Dreharbeiten berüchtigtem, laut Vorspann auf wahren Begebenheiten basierendem Film „Cargo 200“ spielt 1984, nicht lange vor Anbruch der Perestrojka, im Industriekaff Leninsk. Wie ein Menschenfleischwolf spuckt der Afghanistan-Krieg nach Input/Output-Manier jene im Titel euphemistisch bezeichneten Metall-Kisten mit gefallenen Soldaten in die Heimat aus, nur um im gleichen Atemzug neue aufzunehmen (vgl. entsprechende markante Filmstelle). Ein exemplarischer Leichnam in Form von Offizier Gorbunow wird aus dem Transport-Sarg gezerrt und neben eine nackte, ans Bett gefesselte junge Frau geworfen. Als die gequälte Seele in dem Toten ihren „zurückgekehrten“ Verlobten erkennt und daraufhin zu schreien beginnt, ist es weder das erste noch das letzte Mal, dass ihr Unmenschliches widerfährt.

Nach dem Besuch der Dorf-Russendisco macht der draufgängerische junge Alkoholiker Walera (Leonid Bitschewin) zusammen mit seiner Bekannten Anschelika (Agnia Kusnetzowa) gegen ihren Wunsch einen Abstecher zu einem Spiritus-Eremiten (Aleksej Serebrjakow), der in einer abgelegenen Hütte am Rande der Stadt mit Ehefrau und einem vietnamesischen Hausdiener lebt und hochprozentiges Eigenprodukt vertreibt. „Sunka“, so der slawisierte Spitzname des Asiaten, verfügt über eine schlichte Bescheidenheit, die in Kombination mit der unvollkommenen Beherrschung der russischen Sprache für einen raren humoristischen Akzent sorgt. Zugegen ist ebenfalls der Polizeikapitän Schurow (Aleksej Polujan), der schon frühzeitig ein unheimliches, da mit keinerlei menschlichen Gefühlsregungen einhergehendes Interesse an dem mitgekommenen Mädchen bekundet. Da ihr verantwortungsloser Begleiter Walera unmittelbar nach der Demonstration einer im Einsatz erlernten Alkoholabusus-Methode bewusstlos umkippt, ist das Mädchen den sadistischen Perversionen von Polizist/Soziopath Schurow ausgeliefert. Zwar versucht die taffe Frau des Hauses, Anschelika zu helfen, doch schließlich hält den Widerling nichts davon ab, amoralische Willkür walten zu lassen: Er erschießt den gutartigen Vietnamesen kaltblütig und vergewaltigt danach das Mädchen (mangels eines potenten organischen Pendants) mit einer Flasche – die Entartung nimmt ihren Lauf. Erste drastische Bilder werden hier realisiert, die so manchem Zuschauer den Weg aus dem Kinosaal weisen werden. Bekannte russische Schauspieler wie Ewgenij Mironow sind durch das Drehbuch vergrault worden und schlugen das Rollenangebot ab, was laut Balabanow auf Angst und mangelndes Vertrauen zurückzuführen sei. Durchaus beeindruckend ist die lakonische Rigorosität, mit der Balabanow die Abscheulichkeiten inszeniert. Die krassen Gewaltszenen erinnern entfernt an den einen oder anderen für Kinder ungeeigneten Kultfilm (z. B. „Fargo“ oder „Man Bites Dog“), mit dem Unterschied, dass hier kaum ein Lachen angeboten wird, um im Halse stecken zu bleiben. Auch die Darstellung des Polizisten, der mit seiner degenerierten und abstoßenden, über idiotische Sowjetcomedy-Auftritte eines Petrossjan lachenden Mutter in einer heruntergekommenen Wohnung lebt und das gewaltsam entführte Mädchen die ganze Zeit über angekettet lässt, ist peinlich darauf bedacht, die Schraube der Gewaltästhetik feste zuzudrehen. Die zwischen Hass und Horror hin- und hergerissene Anschelika schimpft, droht und winselt um Gnade, doch das Gesicht des wortkargen und irreparabel geschädigten Entführers, der in seiner pathologischen Leidenschaft ständig von „Ehefrau“ und „unerwiderter Zuneigung“ spricht, bleibt so monströs unbeeindruckt und regungslos, dass der Begriff des Inhumanen einer Untertreibung gleichkommt.

Nachdem Schurow ironischerweise die Ermittlungen im Entführungsfall übertragen werden, holt er beim Vater des Opfers, einem hohen Parteifunktionär, Gorbunows Briefe an dessen Verlobte ab, vorgeblich im Namen des Gesetzes agierend, aber in Wirklichkeit sich erneut über jedes Recht hinwegsetzend, was schon bald die hinterhältigste Szene des Films einleitet: Mit teuflisch monotoner Stimme verliest der Bösewicht die persönlichen Liebesbekundungen des anwesenden Toten, während die mehrfach verstörte und mit Leichen im Bett residierende junge Dame schluchzt und heult.

In einer Epoche unermesslichen Sittenverfalls und debiler Besäufnisse, deren Maßlosigkeit Selbstgebranntes als die russischste aller Seelen ausweist, hilft nur wenig. Dass Artöm (Leonid Gromow), Professor für wissenschaftlichen Atheismus, nach einem Disput über Gottes Stellung im Kommunismus am Schluss des Films in eine Kirche geht und darum bittet, getauft zu werden, ist nur ein schwacher Trost. Es ist ein wuchtiger Film, der die Seele so schwer belastet wie der nicht nur ein semantisches, sondern zu einem gewissen Grad auch onomatopoetisches Gewicht implizierende Originaltitel „Grus 200“. Den Soundtrack zu diesem Filmmonstrum bildet (mit Ausnahme der alternativen Kultsongs von Кино) ein tendenziell trashiges Pop-Liedgut, dessen gnadenloser Optimismus diese grausige (Polit-)Groteske bekräftigt.

Rund zehn Jahre plante Balabanow dieses Projekt, das auf radikale, subversiv-verachtende Weise mit der ethisch und ästhetisch entstellten Sowjet-Ära abrechnet. Doch solche künstlerische Kompromisslosigkeit wird nicht nur belohnt, was unter anderem die zuweilen feindseligen Reaktionen nach der Weltpremiere auf dem Filmfestival „Kinotawr“ in Sotschi zeigten: Statt den Film mit einer Auszeichnung zu ehren, wurde dem Regisseur eine Psychotherapie ans Herz gelegt. Auch traute sich kein Verleiher an die gefährliche „Fracht“ heran. Allerdings gab es auch günstiger gestimmte Kritiker, die Lob in den allerhöchsten Tönen walten ließen: Vom besten Regisseur Russlands, von einem genialen Meisterwerk und vom bedeutendsten Film der letzten Jahre war die Rede. In der Tat steht der sardonische Psychothriller den erschütternden Arbeiten eines Lars von Trier („Dogville“), Gaspar Noé („Irréversible“) oder Bruno Dumont („Twentynine Palms“) in nichts nach.


 

Daniel Ableev

Daniel Ableev, *1981 in Nowosibirsk; lebt als freier Seltsamkeitsforscher in Bonn. Veröffentlichungen in On- und Offline-Zeitschriften und –Anthologien; ausgezeichnet mit dem „KAAS & KAPPES“-Theaterpreis 2011 für D’Arquette; Mitherausgeber von „DIE NOVELLE – Zeitschrift für Experimentelles“. www.wunderticker.com / www.wunderticker.de

Fiktion als Kritik oder warum wir mehr Science Fiction schauen sollten

Poster Silent Running

1972 wagten sich ein paar kreative Köpfe daran, einen Science-Ficition-Film zu produzieren. „Silent Running“ ist ein gelungenes Beispiel für kritische Kunst. Noch viel wichtiger, der Film trifft mit seiner Thematik genau ins Schwarze der gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdebatten.


Am 30. November diesen Jahres beginnt die 21. UN-Klimakonferenz. Es werden ca. 40.000 Gäste erwartet. Unter ihnen Vertreterinnen der 194 Mitgliedstaaten, unabhängige Beobachterinnen und auch Teilnehmerinnen aus der Zivilbevölkerung. Hauptsächlich aber werden Experten und Politiker über Zahlen und Fakten diskutieren, Zugeständnisse von dem anderen erwarten und selbst Kompromisse eingehen müssen. Die Ziele sind hochgesteckt:

„The aim is to reach, for the first time, a universal, legally binding agreement that will enable us to combat climate change effectively and boost the transition towards resilient, low-carbon societies and economies.“

Quelle: COP 21 Main Issues

Eine allgemeingültige, verbindliche Vereinbarung aller Mitgliedsstaaten bezüglich ihrer jeweiligen CO2-Emissionen. Die so festgelegten Werte sollen die Staaten dann durch entsprechende politische Maßnahmen erreichen. Dass zunächst einmal die Akteure der Wirtschaft und öffentlicher Institutionen mit diesen neuen Regelungen konfrontiert werden und diese in ihr künftiges Handeln integrieren müssen, ist wahrscheinlich der erste Schritt politisch-praktischer Umsetzung. Wie aber kann das, was auf dieser Konferenz beschlossen wird, auch zum einzelnen Individuum vordringen?

Dass es jedes Jahr einen Klimagipfel gibt, wissen wir, aber wer weiß schon, was jedes Jahr dabei herauskommt? Welche Zahlen und Fakten werden für die Entscheidungen zu Grunde gelegt und wie viel der Entscheidungsfindung besteht eigentlich nur aus der Instandhaltung und Festigung bestehender Machtverhältnisse im weltpolitischen Spiel der Großen? Aber ich möchte wieder zurück zum/zur kleinen Mann/Frau. Denn was dort verhandelt wird, betrifft uns alle. Jeden einzelnen Menschen auf der Erde, jedes Tier. Regulierungen solcher Art müssen nicht nur auf makro- und meso-ökonomischer Ebene, sondern auch auf der Ebene des individuellen Handelns des einzelnen Subjekts etabliert werden. Zuvor allerdings müssen diese Regulierungen auch als notwendig wahrgenommen werden. Damit ein neuer Aspekt in meinem alltäglichen Handeln Berücksichtigung findet, muss ich für diesen Aspekt sensibel sein, ihm einen Wert zusprechen und er muss gerechtfertigt sein.

Die Verbindung zwischen einem Anstieg des Klimas verursacht durch vermehrten CO2-Ausstoß und einem irreversiblen Rückgang der Biodiversität lässt sich schon lange nicht mehr ernsthaft bestreiten. Es gibt unzählige Studien, wissenschaftliche Papers und Vorträge zu dem Thema. Aber die werden eben hauptsächlich von denen gelesen, die selbst solche Texte schreiben und diese Forschung betreiben. Was ist mit dir und mir? Und vor allem mit denen nach uns? Damit unsere ganzen Bemühungen nicht einfach nur als kurzes Aufflackern praktizierter Verantwortung im Kosmos erlöschen, müssen diese auf wissenschaftlichem Weg erschlossenen Erkenntnisse über die Folgen unseres invasiven Treibens auf der Erde auch eine Entsprechung in unserer praktischen Vernunft, das heißt in unserem ethischen Denken finden. Ich spreche hier von dem Begriff der Nachhaltigkeit. Seit Jahrzehnten ein scheinbar magisches Wort, mit dem sich alle gern schmücken, es aber nur wenigen gelingt, sich seiner wahren Bedeutung durch tatsächliches Handeln zu nähern.

Kunst als Kritik

In den 1970er Jahren gab es bereits Menschen, die sich mit dieser Thematik auseinander gesetzt haben. Keine Wissenschaftler, sondern Filmemacher. Keine rohen Texte voll gespickt mit Zahlen und Argumenten, sondern Bilder, Musik und Personen, die handeln. Das Filmdebüt „Silent Running“ (1972) des damals 28-jährigen amerikanischen Spezialisten für Spezialeffekte Douglas Trumbull ist ein gelungenes Beispiel für kritische Kunst (das Beitragsbild zeigt ein originales Filmplakat). Trumbull, der zuvor für die Spezialeffekte in Kubricks 2001 zuständig war, steckte sein ganzes technisches Können und die Wagnis das erste Mal Regie zu führen in diesen Science-Fiction-Film (The making of, 26:00-26:40). Der Titel ist eine Anspielung auf ein 1962 veröffentlichtes Buch der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson. In „Silent Spring“ belegt Carson akribisch die verehrenden Folgen des Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft und gibt somit den Startschuss für die erste große Umweltbewegung in den Staaten.

Quelle: Youtube

Das 21. Jahrhundert (damals in den 70ern noch weit, weit entfernt). Die Erde bewohnt von einer einzigen Art, dem homo technicus. Alle anderen Arten, sei es Flora oder Fauna, existieren nicht mehr. Das heißt fast. Denn die kleine vierköpfige Crew des American-Airlines-Frachters Valley Forge beherbergt einen großen Schatz: Mehrere Plateaus mit großen transparenten Kuppeln bieten Schutz für unzählige Pflanzen und Tiere. Eine Idylle unter einer gigantischen Käseglocke könnte man sagen. Gehegt und gepflegt von dem etwas hippieesk anmutenden Botaniker Lowell, der jedes Mal seinen blauen Astronauten Overall gegen eine weiße Kutte tauscht, wenn er in den Plateaus nach dem Rechten sieht.

Es wird schnell klar, dass seine drei Kollegen irgendwie doch lieber den optimierten „Astronautenfraß“ essen als Lowells liebevoll erzeugte Kürbisse oder Melonen. Es stehen sich zwei grundsätzlich verschiedene Haltungen gegenüber: hier die sensible, mit der Natur verbundene Person, die jedem Lebewesen den gleichen Wert beimisst und dort die anderen, rational Denkenden, die einfach nur ihren Job machen wollen. Das kann nicht lange gutgehen. Und man spürt schnell, dass sich zwischen diesen Einstellungen ein Konflikt entfalten wird. Wie sich dieser Konflikt dann entlädt, lässt den zuvor dahinplätschernden, bildgewaltigen Film in Richtung Thriller gleiten. Aber nur für kurze Zeit.

Die Belegschaft des Frachters bekommt die Anweisung, alle Plateaus vom Frachter zu lösen und ins Weltall zu schießen. Lowell gerät in einen moralischen Konflikt, denn er sieht keine Möglichkeit durch Gespräche seine Kollegen davon zu überzeugen, die Plateaus weiterzubetreiben: Nun sieht er sich vor der Entscheidung entweder seine bisherige Arbeit, seinen Traum und vor allem etwas aufzugeben, das alles andere an Wert übertrifft, nämlich die biologische Artenvielfalt, oder er verhindert das Abschießen der Plateaus um jeden Preis. Der Preis ist hoch, denn Lowell tötet schließlich im Ringkampf den einen Kollegen und schießt die anderen zwei mit einem Plateau einfach in die Unendlichkeit.

Die Krise des Zuschauers

Lowell bleibt jedoch, obwohl er schreckliche Taten zur Erreichung seines Ziels einsetzt, der „Gute“. Man identifiziert sich mit ihm am Anfang ganz einfach, weil er vieles von dem verkörpert, was wir als erstrebenswert ansehen: er ist achtsam und respektvoll anderen Individuen gegenüber, er scheint beflissen und verantwortungsvoll seine Arbeit zu verrichten. Man identifiziert sich aber auch dann noch, wenn er zu Mitteln greift, die wir als unmoralisch beschreiben würden. Dass Lowell nicht einfach gestrickt ist und den Tod seiner Kollegen als eine erstrebenswerte Art der Problemlösung ansieht, dass er sich also in einem ernsthaften moralischen Konflikt befindet, zeigt sich in folgender Szene. Er schickt die drei Hilfsroboter zum noch am Kampfort liegenden Kollegen. Sie sollen ein Grab für ihn ausheben und im letzten Plateau „beerdigen“. Während dessen beobachtet Lowell alles über einen Monitor im Raumschiff und gibt den Robotern Anweisungen. Sein Gesicht im close-up, die Worte kommen nur stockend:

„Put him, put him down in it. And then remain there because i would like to say something before you cover him over. […] There weren`t exactly my friends but I did like them. And, uh, I don`t think that I will ever be able to excuse what it is that I did, but I had to do it.“

“Silent Running”, Min. 40:50-42:04

Was hier geschieht, ist von existenzieller Bedeutung. Denn ein Mensch muss seine bisherigen Wertvorstellungen gegeneinander abwägen. Er kann sich nur für a oder b entscheiden. Beides, also die Biodiversität erhalten und seine Kollegen am Leben lassen, geht nicht. Es ist ein utilitaristisches, auf den größtmöglichen Nutzen ausgerichtetes Prinzip, welches Lowell letztendlich zu seiner Handlung antreibt: Drei Menschenleben wiegen nicht so viel, wie die diversen Arten auf den Plateaus. Der Wert der Plateaus wird sogar noch gesteigert, indem der Umstand hinzukommt, dass der Erhalt der Biodiversität in der Zukunft viel mehr Menschen nutzen könnte, falls man diese wieder auf der Erde oder auf einem anderen Planeten siedeln ließe.

Wir können Lowells Entscheidung/Handlung verstehen, aber dass sie nicht auf die Art und Weise gerechtfertigt ist, wie wir es gerne von rationalen und „richtigen“ Entscheidungen/Handlungen fordern, wird uns mit Lowells Gram und Trauer vor Augen geführt. Und genau an dieser Stelle entfaltet der Film seine kritische Potenz. Was die Stärke des Films ist, ist seine Darstellungsform. Wir sehen und hören den Protagonisten, wir erleben ihn und unsere Spiegelneuronen geben ihr Bestes, um in unserem Gehirn ein passives Miterleben zu erzeugen. Wir sind sozusagen mittendrin, fast ist es so, als müssten wir selbst uns verantworten. Der Zuschauer wird, genau wie der Protagonist, in eine Krise geführt, die einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. Gar nicht so „simple-minded“ wie Vincent Canby in seiner Kritik nach den ersten Vorstellungen in der New York Times schrieb .

Science-Fiction

Was macht diesen Film noch so besonders? Es ist das Genre, in dem er sich bewegt, das wie gemacht dafür scheint, ethische Fragen zu Umweltveränderungen durch menschliches Handeln und die Zukunft uns folgender Generationen abzubilden. Science-Fiction war lange Zeit ein Spartengenre, bevölkert von Nerds und Phantasten. Aber spätestens seit Stanislav Lem und Isaac Asimov ihre kurzen und langen Geschichten in diesen (gar nicht so) fiktiven Zukunftswelten ansiedelten, hat sich Science-Fiction immer mehr Platz in den Bücherregalen der „Normalos“ erkämpft.

Wissenschaft und Technik bedingen sich gegenseitig. Dinge werden erforscht, um sie nutzbar zu machen, sie in ein technisches Vokabular zu überführen. Und genau dieses scheinbar zwanghafte sich gegenseitig Hervorbringen ist die Grundannahme in Science-Fiction. In „Silent Running“ gerät der Protagonist durch die Umwelt zerstörenden Folgen angewandter Wissenschaft in die Ausgangssituation der Story: Lowell hat den Auftrag mit riesigen Raumschifffrachtern in der Nähe des Saturn zu fliegen und während dessen sämtliche Tier-und Pflanzenarten für die Nachwelt zu erhalten, weil die Menschen Bedingungen geschaffen haben, die ein natürliches Leben unmöglich machen. Das, was zum Problem geführt hat, wird auf der anderen Seite wieder zur Problemlösung genutzt. Denn die Technik (Das Raumschiff und die Plateaus) ermöglicht es auch, dass die Biodiversität unter für sie hinreichenden Bedingungen weiter existieren kann.

“[Social] science fiction is that branch of literature which is concerned with the impact of scientific advance on human beings.”

Isaac Asimov, Science Fiction Writers of America Bulletin, 1951

Dennoch spielt die Science im Film „Silent Running“ und auch in den meisten anderen Science-Fiction Geschichten nicht die entscheidende Rolle – denn entscheiden können letztendlich nur Menschen. Wissenschaft und Technik bilden den Handlungsrahmen für Individuen, die sich darin mit vorher nie gedachten Problemen und Konflikten zurecht finden müssen. Man könnte sagen, dass Science-Fiction in einem besonderen Maße auch Geschichtsschreibung ist. Geschichtsschreibung für die Zukunft. Denn es wird versucht, im Gegensatz zu Fantasy, die Grenzen der Physik auszudehnen, aber nicht völlig auszuhebeln. Es werden mögliche Welten erdacht, die vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich, die Konsequenzen unseres gegenwärtigen Treibens auf der Erde aufzeichnen. Insofern kann man Science-Fiction – sei es im Buch oder Film – auch in dieser Hinsicht ein aufklärerisches Potenzial zusprechen.

Was hat das jetzt alles mit der UN-Klimakonferenz zu tun? Hier die Antwort: Die Themen, die auf solchen kostspieligen Konferenzen besprochen und nach denen dann bestimmte Regulierungen festgesetzt werden, betreffen am Ende uns alle. Für viele Menschen scheint es aber einen grundsätzlichen Graben zu geben zwischen dem, was die da oben beschließen und dem, was wir hier dann bitte schön tun sollen. Die Ziele der UN-Kommissionen sind zu begrüßen, aber der größte und schwierigste Schritt ist der, hin zu einer umweltverträglichen, verantwortungsvollen Haltung jedes Bürgers. Warum sollen wir denn jetzt auf unseren Wohlstand verzichten oder weniger Autofahren? Ich möchte nicht an meinem Wohlergehen sparen nur damit zukünftige Generationen ein genauso gutes oder vielleicht größeres Wohlergehen haben. Das sind verständliche Einwände, die aber auch problematisch sind. Darüber nachzudenken ist der erste Schritt hin zu einer ethischen Haltung. Und Kunst, die solche Filme wie „Silent Running“ hervorbringt, kann einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, mit dem Nachdenken zu beginnen.

“You were the chosen one” – Star Wars und George Lucas

Am 17. Dezember 2015 läuft in deutschen Kinos mit “The Force Awakens” die mittlerweile siebte Episode der Star-Wars-Saga an. Der Film markiert nicht nur den Beginn einer neuen Trilogie, sondern ist auch der erste Star-Wars-Langspielfilm, der ohne wesentliche kreative Mitwirkung von George Lucas enstanden ist. Lucasfilm Ltd. wurde 2012 an Disney verkauft.

Die Geschichte der Star-Wars-Filme war immer eng verbunden mit der Person von George Lucas – er ist zugleich der verehrte Schöpfer eines Universums, das Generationen geprägt hat, musste aber auch viel Kritik für Episode I-III und den generellen Umgang mit dem Star-Wars-Franchise einstecken. Die dramaturgische Entwicklung der Figur George Lucas offenbart Parallellen zu der seiner berühmtesten Kreation: Anakin Skywalker – ein Kommentar.


“Dream Maker”

Das Titelbild dieses Artikels ist ein Ausschnitt aus dem Bild “Dream Maker” des japanischen Künstlers Tsuneo Sanda.  Im Mittelpunkt des Bildes steht ein übergroßer George Lucas vor einer Auswahl von Figuren und Raumschiffen aus dem Star Wars Universum. Lucas wird als Übervater portraitiert, als Schöpfer – als jemand, der Träume zur Wirklichkeit gemacht hat. Und genau in dieser Rolle wurde der Filmemacher auch von der Öffentlichkeit gesehen. Nach dem Überraschungserfolg von “Krieg der Sterne” 1977 (ursprünglich in den USA nur in 32 Kinos aufgeführt) wurde George Lucas als Wunderkind des Films gehandelt. Spätestens mit den Nachfolgern “Das Imperium schlägt zurück” 1980 und “Die Rückkehr der Jedi-Ritter” 1983 (und dem ersten Teil der Indiana-Jones-Reihe 1984) war Lucas endgültig ein Superstar. Er hatte mit einem ganz einfachen Konzept ein Science-Fiction-Märchen erdacht, das Millionen von Menschen berührte. Die Formel “Gut gegen Böse” mit archetypischen Charakteren in einem Weltraumsetting ging voll auf.

Doch Lucas hatte nicht nur erfolgreiche Filme gemacht, er war dabei ursprünglich auch noch ein Rebell in der Filmszene, der sich den großen Produktionsfirmen nicht beugen wollte und deshalb seine eigene Produktionsanstalt – Lucasfilm Ltd. – gründete. 1975 kam mit Industrial Lights&Magic außerdem eine hauseigene Firma für visuelle Spezialeffekte hinzu.

“What I was trying to do was stay independent so that I could make the movies I wanted to make […]”

George Lucas in der Dokumentation “Empire of Dreams” (2004)

Durch einen Deal mit 20th Century Fox, der ihm vor dem Erscheinen von “Krieg der Sterne” die Rechte an allen Nachfolgeprojekten inklusive Merchandise sicherte, wurde Lucas Ltd. schnell auch finanziell zu einer echten Größe. George Lucas hatte es geschafft – er war der Liebling der Öffentlichkeit, er konnte die Filme machen, die er wirklich wollte, er war ein Held, er hatte die Macht sich auszuleben. Und das tat er dann auch..

Episode I-III oder “The People vs. George Lucas”

Der Erfolg von Lucasfilm Ltd. und Industrial Lights&Magic spornte Lucas an seine Vision von Star Wars auszuweiten. Der Start wurde mit einigen Überarbeitungen der originalen Trilogie gemacht. Die Filme erschienen unter neuen Titeln und wurden erheblich digital verändert und erneuert. Doch nicht jede Veränderung wurde positiv aufgenommen. Viele Star-Wars-Fans fanden die digitale Überarbeitung ihrer Lieblingsfilme fragwürdig. Eben weil die originalen Star-Wars-Filme noch so roh waren, hatten sie ihren ganz eigenen Charme. Aber wenn man ganz ehrlich ist: Sobald eine Filmreihe Erfolg hatte, wird es immer die Nostalgiker geben, die jede Veränderung als Frevel ansehen.

Was allerdings tatsächlich einen filmischer Fauxpas darstellte war der Auftakt zur Star Wars Prequel Trilogie: “Episode I – Die dunkle Bedrohung”. Der Film startete 1999 mit einem riesigen medialen und öffentlichen Hype. In den USA herrschte am Eröffnungswochenende absoluter Ausnahmezustand – die Presse berichtete über Millionen von Menschen, die sich am Folgetag der Mitternachtsvorstellungen freigenommen hatten, oder einfach die Arbeit ausfielen ließen. Dementsprechend hoch waren natürlich auch die Erwartungen an den Film – die, um das schonmal vorwegzunehmen, dramatisch enttäuscht wurden.

Hier ein Auschnitt aus der Dokumentation “The People vs. George Lucas“, die diese Enttäuschung illustriert:

Aus irgendeinem Grund fehlte Episode I alles, was Star Wars so erfolgreich gemacht hatte. “Krieg der Sterne” und seine Nachfolger konnten mit einer klaren Erzählstruktur (Gut gegen Böse), archetypischen Charakteren (Der tollkühne Schurke, der junge idealistische Held, der weise Lehrmeister) und einen zugleich zugänglichen, wie auch mystischen Universum überzeugen. Episode I hingegen wollte getrieben von Lucas alles besser machen: bessere Effekte, mehr Erzähllinien, mehr Aufklärung (siehe: Midi-Chlorianer), ein größeres Publikum (Stichwort Lucas “Ich habe Star Wars für Kinder gedreht”). Leider muss man dieses Projekt als gescheitert ansehen. “Die dunkle Bedrohung” konnte die Menschen einfach nicht packen. Figuren wie Qui Gon Jin und Königin Amidala waren zu blass konzipiert und drängten eigentlich bekannte Lieblinge wie Obi Wan in den Hintergrund –  als Zuschauer verlor man schnell das Interesse. Und gar noch schlimmer: Der trottelige Gungan Jar Jar Binks nervte ziemlich und zog sogar regelrecht Hass auf sich.

Unter den unzähligen Parodien und Analysen des Scheiterns der Star Wars Prequels sticht wohl der detaillierte Youtubekommentar von Mr. Pinklett (Red Letter Media) besonders heraus:

Episode II und III krankten an den gleichen Gebrechen wie der erste Teil: Die Vorgeschichte einer Saga, die weltweit von Millionen Menschen liebten, wurde einfach nicht zufriedenstellend  erzählt.

Star Wars – mehr als ein Tanz der Lichtschwerter

Lucas hatte bei der Konzeption der neuen Trilogie irgendwo die falsche Abzweigung genommen und sich verkalkuliert. Symptomatisch für den Drang nach immer besseren visuellen Effekten sind die Unterschiede im Lichschwertkampf in den respektiven Filmreihen. Hier zunächst der zentrale Kampf aus Episode 3: Anakin Skywalker, der zur dunklen Seite der Macht übergelaufen ist, duelliert sich mit seinem Meister Obi Wan Kenobi:

Der ganze Kampf ist eine metikulös durchgeplante Choreographie. Der Lichtschwertkampf in der visuell beeindruckenden Lavalandschaft ist fast zu schnell für das Auge. Anakin und Obi Wan sind klare Meister ihrer Waffen – das muss natürlich auch cool aussehen um zu funktionieren, oder?

Zum Vergleich das Duell von Luke Skywalker mit Darth Vader aus der alten Trilogie:

Luke wird vom Imperator und Vader (von dem er zu diesem Zeitpunkt schon weiß, dass er sein Vater ist) dazu gedrängt zur dunklen Seite zu konvertieren – seinem Hass freien Lauf zu lassen. Luke weigert sich zunächst zu kämpfen, verliert aber schließlich durch den Verweis Vaders auf seine Schwester die Kontrolle. Der Kampf hat überhaupt nichts Tänzerisches. Die Choreographie wirkt klotzig, teilweise hackt Luke unkontrolliert auf seinen Vater ein. Doch diese vermeintlich schwächere Umsetzung in den originalen Filmen wird getragen von einer narrativen Tiefenstruktur, die über Stunden vorbereitet wurde: Es kämpft Vater gegen Sohn. Luke ist ständig mit Vader – seinem möglichen Spiegelbild, sollte er dem Hass in ihm nachgeben (Dies wird besonders stark illustiert, als Luke Vader die Hand abschlägt) – konfrontiert. Gleichzeitig spürt Luke aber auch das Gute in seinem Vater. Diese ganz einfachen und sehr klassischen Themen: Versuchung, Hoffnung, Verbundenheit, Schicksal etc. tragen die originalen Star-Wars-Filme.

Das soll nun nicht heißen, dass in Episode I-III diese Erzählstrukturen ganz ausgelassen werden. Es gibt durchaus Szenen, die emotional stark auf den Zuschauer wirken. Sogar in dem obig angeführten Lichtschwertduell von Anakin und Obi Wan kulminiert die Handlung in den wichtigsten Plotpoint: Anakin verliert erst das Duell mit Obi Wan und schließlich seine Menschlichkeit. Die Kritik vieler Star-Wars-Fans war aber, dass die visuell überladene Ausführung der Prequelfilme das Wichtigste am Filmemachen aus den Augen verliert: Eine starke Charakterentwicklung. Wer war nun schuld an der Misere? Für viele ganz klar der einstige Held: George Lucas.

George Lucas, Anakin Skywalker und Darth Vader

Kehren wir kurz zurück zur künstlerischen Darstellung von George Lucas durch Tsuneo Sanda. Es fällt auf: Lucas trägt den bekannten Anzug Darth Vaders. Obwohl vom Künstler sicher nicht so intendiert wird hier auf eine interessante Parallelle zwischen Lucas und seiner Figur Anakin Skywalker verwiesen. Die Transformationsgeschichten ähneln sich  bisher stark: Beide starten als vielversprechende junge Rebellen – Wunderkinder, von denen viel erwartet wird, die aber dann enttäuschen. Lucas hatte mit Star Wars und seiner Firma Milliarden verdient, musste aber zusehen, wie er vom gefeierten Filmpionier zu einem Feindbild wurde. Nach der neuen Generation der Star-Wars-Filme sah sich Lucas sowohl dem Zorn der Kritik als auch der Öffentlichkeit ausgesetzt, für die er einst “the chosen one” gewesen war.  Er war genau zu dem geworden, wogegen er früher rebellierte: der Kopf einer Multimilliarden-Dollar-Produktionsfirma.

Diesem Druck konnte Lucas nicht dauerhaft standhalten – 2012 verkaufte er Lucasfilm Ltd. an Disney. Ironischerweise genau an eine der Firmen, die er in seinen frühen Jahren als Beispiel für den Verfall der Filmindustrie angeführt hatte. Doch war dieser Verkauf in der Analogie mit Anakin Skywalker/Darth Vader nun der endgültige Verfall an die dunkle Seite der Macht, oder vielmehr das kathartische Abnehmen der Beatmungsmaske? Hat Lucas seine Ideale endültig verraten, oder sich endlich von der Last befreit, zu der das titanenhafte Franchise “Star Wars” geworden ist? Wie bei jedem guten Erzählbogen stimmt wohl beides. Klar bleibt aber, dass Lucas bei aller Kritik die er in den letzten Jahren einstecken musste unglaubliche Leistungen für den modernen Film erbracht hat.

Quo vadis, Star Wars?

Die Fortführung von Star Wars unter dem Banner von Disney wird nun weitestgehend ohne Mitwirkung von George Lucas stattfinden. Zwar wird Lucas noch als “kreativer Berater” gelistet, aber in der Realität wurden die  vorkonzipierten Ideen und Drehbücher, die Lucas an Disney verkaufte allesamt verworfen (Quelle). Das kann eine Chance sein, dem Universum neues Leben einzuhauchen, ist aber irgendwo auch tragisch.

Interessant wird nun werden, welchen Weg die Schreiber von “The Force Awakens” gehen werden. Sicher wird der Film wieder neue visuelle Standards setzen, das ist in der heutigen Filmlandschaft und mit den technischen Möglichkeiten einfach ein Muss. Fraglich bleibt, ob Disney den Spagat zwischen Fanservice der alten Generation (Harrison Ford und Carrie Fischer bekamen wohl genau deswegen wieder große Rollen) und einer interessant konzipierten neuen Generation hinkriegt. Im aktuellen Trailer zu “The Force Awakens” sieht man einen neuen maskierten Bösewicht zur verformten Maske Darth Vaders sprechen: “I will finish what you started”. In der gezogenen Analogie von George Lucas als Vader ist wohl Disney der neue dunkle Antagonist – Star Wars wird weiterbestehen und zwar unter dem Motto: “Nothing will stand in our way”.

Französisches Fernsehen unter dem Meer. Trends doppelter Alben

We Are Scientists haben es schon im Frühjahr getan. Jetzt auch noch Björk. Remixalben und Unplugged-Versionen sind überrannte Trends. Gut, dass es noch Musiker*innen gibt, die neue setzen können.


Es gibt wenige Marken im Musikgeschäft, die sich so systematisch selbstdekonstruiert haben, wie das gute alte MTV Unplugged-Konzert. Neben den großen Awardshows markierten sie lange das letzte Fünkchen Bedeutung des Musikfernsehens. Bis dann plötzlich jeder durfte, alles gleich zu klingen begann, ein deutlicher Blick auf die Vermarktungsmaschine freigelegt wurde und der künstlerische Wert der neuen Arrangements im Schatten der Maschine verschwand. Dabei ist eine Konzertreihe mit Akustikversionen eine schöne Idee, die eine Intimität zwischen Bands und Fans herstellen kann, die einander sonst nur von zwei Enden einer Produktionskette aus betrachten können und sich nur auf Großveranstaltungen begegnen. Bei Nirvana war diese Intimität noch da. Bei Sido, den Sportfreunden Stiller und Revolverheld jedoch schien es allen Beteiligten eher darum zu gehen, alte Songs unter dem Gütesiegel MTV Unplugged in neuen Versionen neu zu vermarkten. Nur blöd, dass sie dabei das Gütesiegel zerstört haben.

Aber irgendwas an Akustik-Versionen übt offensichtlich nach wie vor einen starken Reiz aus. Vielleicht ist es ein Gefühl, dass die Ursprünglichkeit der Musik, die wir so hören, zu uns durchdringt, und wir Einblick in die Entstehung von Songs und das Wesen von Bands abseits großer Shows erlangen. So hat sich der Trend schon lange unabhängig von MTV gemacht. Auf Videoplattformen wimmelt es von Akustikkonzert-Reihen und auf den meisten großen Konzerten kommen kurze Akustikgitarreneinlagen vor. Viele Künstler*innen haben ganze Alben in zwei verschiedenen Versionen herausgebracht: erst in der Studioversion mit festivaltauglichen Produktionen, dann wenig später als reduzierte Wohnzimmerkonzert-Version. Ein schönes Geschenk an die Fans. Die doppelt zahlen.

Das doppelte Album

Aber der Trend scheint weitgehend ausgereizt zu sein. Ihre Songs auch auf Akustikgitarren und Cajons statt auf E-Gitarren und Schlagzeugen spielen zu können, scheint zu den Tugenden zu gehören, die junge Bands beherrschen sollten, wenn sie im Musikgeschäft bestehen wollen. Aber warum machen das eigentlich alle mit? MTV Unplugged ist es wohl zu verdanken, dass wir uns daran gewöhnt haben, dass dieselben Songs in unterschiedlichen Versionen auf dem Markt sind. Und dass es unterschiedliche Varianten ganzer Alben gibt, hat sich mittlerweile auch etabliert, obwohl eine Doppelveröffentlichung nach wie vor eine merkwürdige Maßnahme ist, da eine einzige veröffentlichte Version doch viel prägnanter ist und eine eindeutigere Ästhetik hat, die einer Band Profil gibt.

Ein anderer Trend des Re-Releases, nämlich der der Remix-Veröffentlichungen, dient wohl vor allem dazu, Motive von Songs zu reinterpretieren und für andere Musikrichtungen aufzuarbeiten, um Künstler*innen einer bestimmten Szene für eine andere zugänglich zu machen. Endproduktionen und Akustikversionen derselben Songs hingegen sollen dieselbe Hörerschaft ansprechen. Bleibt die Frage: Wäre es nicht nach Jahren der Akustikgitarren-Cover-Songs an der Zeit, dieser Hörerschaft, die sich ja nun zwischenzeitlich an den Trend der Re-Releases gewöhnt hat, etwas Neues zuzutrauen? Wenn man schon zwei Versionen derselben Platte herausbringt: Kann man nicht auch zwei interessante Versionen daraus machen? Ein aktueller Trend zeigt: Man kann. Neben einigen anderen haben zwei sehr unterschiedliche Acts diesen Weg ausprobiert: We Are Scientists und Björk. Sie zeigen, welch unterschiedliche Versionen dabei herumkommen können, und damit auch, was wir jahrelang verpasst haben.

We Are Scientists – TV en Français / Sous la Mer

Der bisherige Weg von We Are Scientists war relativ klar bestimmt. Sie kommen aus der US-Dancerock-Nische, aus der es Mitte der 2000er auch Panic! at the Disco über Plattformen wie Myspace in die öffentliche Wahrnehmung geschafft haben. Im Gegensatz zu letzteren scheinen sie jedoch relativ früh gemerkt zu haben, dass sich zu starke Veränderungen in ihrem Genre nicht auszahlen. Auf ihrem 2005er Album With Love and Squalor, das zugleich ihr erstes kommerziell erfolgreiches war, traten sie als straighte Indie-Rock-Band auf:

Fünf Jahre später klangen sie so:

Etwas ruhiger, erwachsener vielleicht, aber nicht wesensverschieden. So sind es auch auf ihrem 2014er-Album TV en Français immer noch vor allem feine Details, an denen sich ihre Weiterentwicklung zeigt, wie etwa der Refrain der B-Seiten-Eröffnung Overreacting, dem vielleicht interessantesten Song der Platte:

Eine kreative Variation auf denselben Sound, den sie immer hatten. Das Album kam zwar relativ gut an (ich hab es mir auch gekauft), gilt jedoch nicht als der große Fang. So richtig kann es sich nicht davon lossagen, ein bloßer Nachklang ihrer alten Platten zu sein. Denn musikalisch scheinen sie auf festgefahrenem Fundament zu stehen und sich eher immer weiter einzuschränken. Aber sie scheinen sich dieses Problems bewusst zu sein und haben womöglich einen Ausweg parat. Denn deutlich mehr Aufsehen als TV en Français erregte ihr Re-Release der Platte in neuer Version zum diesjährigen Record Store Day. Sämtliche Songs sind hier neu aufgenommen, und zwar nicht mit Akustikgitarren, sondern im eigens kreierten „Sous la Mer“-Sound.

Was erstmal wie ein ins Meer gefallenes Radio klingt, funktioniert tatsächlich über die gesamte Albumspielzeit. Es ist nicht nur ein ganz netter Remix der Platte, sondern ein komplett eigenständiges Kunstwerk, in dem die Songs des Albums detailliert und mit viel musikalischem Gefühl in den neuen Sound übersetzt wurden. In der Ankündigung las sich das Projekt noch etwas befremdlich:

„Darker, more spacious, with distorted Rhodes and delayed Farfisas replacing electric guitars, …Sous la Mer (“under the sea”) draws the lyrics closer and casts them in a bluer light.”

Ankündigung dinealonerecords.com

Beim ersten Hören der Platte wird das Projekt jedoch klarer. Vielleicht ist es die bessere Version des Albums. Sie wirken im neuen Sound viel sicherer, viel abgeklärter, sie scheinen sich wohlzufühlen. Aber marketingtechnisch war der Weg des Doppelreleases sicher ein ziemlich cleverer Spielzug – und am Record Store Day kann man sowas ja machen. Denn We Are Scientists zeigen hier nach all den Jahren des Dancerocks ein paar ungekannte Facetten, ohne in irgendeiner Weise ihr Andenken zu gefährden. Hinter dem sperrigen Titel TV en Français, Sous la Mer verbirgt sich in Wahrheit ein Befreiungsschlag. Warum nun wählt ausgerechnet eine Künstlerin den Weg der alternativen Albumversion, deren gesamtes bisheriges Werk als Befreiungsschlag betrachtet werden kann?

Jetzt also Björk

Erst im Januar hatte Björk ihr neuntes Studioalbum Vulnicura veröffentlicht, das noch immer seine Wellen schlägt. Darauf knüpft sie an den Sound ihres 2011er-Albums Biophilia an und streift weiter durch einen Crossover-Dschungel aus Elementen aus klassischer Musik und Ambient House, zwei Richtungen, zwischen denen, wie Björk zeigt, alles passieren kann:

Jetzt hat sie auch noch eine zweite Albumversion angekündigt, Vulnicura Strings, die am 6.11. erscheint und zugegebenermaßen eine an anderer Stelle verschriene Akustikversion ist. Aber zumindest ohne Akustikgitarren und Cajon. Denn es treten neben Björks Gesang darin ausschließlich Streichinstrumente auf. Und Björk wäre nicht Björk, wenn sie es dabei belassen würde. Unter anderem kommt auch ein einst von Leonardo daVinci entworfenes Instrument zum Tragen, die Viola Organista, eine Kombination aus Orgel und Geige, von der es weltweit momentan nur ein Exemplar gibt. Warum auch nicht? Der darauf interpretierte Song allerdings wird sicher einen Sonderling der Platte ausmachen, weil er ein bloßes Instrumentalcover des Songs Black Lake ist. Aber wer die 10 Minuten hat, sollte ihn sich anhören:

Bereits vor der Veröffentlichung zeichnet sich ein entscheidender Unterschied zur ursprünglichen Version der Platte und zu ihren früheren Alben ab: Björk legt ihrem Sound erstmals äußere Grenzen auf und gibt diese Beschränkung sogar schon im Vorfeld der Platte preis. Dabei macht doch gerade die Grenzenlosigkeit der Elemente ihre Einzigartigkeit aus. Denn seit Jahren stilisiert sie sich als Gebieterin über unzählige Elemente, als Beherrscherin experimentellen Chaos. Man könnte die angekündigte Version also durchaus als Sehnsucht nach geordneten Bahnen verstehen, wobei schon die vorab veröffentlichten Songs zeigen, dass man sie damit verkennen würde. Denn dass ausschließlich Streichinstrumente zum Einsatz kommen, heißt nicht, dass das Album nicht experimentell ist, es lässt bloß die verbleibenden Instrumente näher zusammenrücken. Björk bleibt die Anführerin, aber die Elemente bilden, wie vor allem die String-Version von Lionsong zeigt, einen vertrauteren Kreis, fast wie eine Ritterrunde:

Warum das Ganze?

Vielleicht also führt Björk uns, wenn das Album am 6.11. erscheint, nach den vielen öffentlichen Auftritten endlich auf ihr Schloss. Die Zeichen stehen zumindest ganz gut für uns. Wie das Album letztendlich dann auch klingen mag, so scheint die Idee doch letzten Endes schlicht und einfach eine Björk-eigene Variante des MTV Unplugged-Ethos zu sein. Der einzige wirkliche Unterschied ist, dass Björk in der Lage ist, aus dieser Idee noch etwas Interessantes herauszuholen, was die meisten anderen Musiker*innen eben nicht sind.

Von daher scheinen We Are Scientists anderen Künstler*innen das interessantere Vorbild zu sein. Denn Björk kann ohnehin machen, was sie will, aber viele Indiebands wie We Are Scientists bewegen sich in festen Schienen, die sie zwar vorwärts bringen, aber ihnen keine Bewegungen in die Breite erlauben. Nach der Veröffentlichung von TV en Français, Sous la Mer steht die Band erstmals in ihrer Karriere an einem Punkt, von dem aus sie verschiedene Richtungen einschlagen kann. Hätten sie das Album nur als Sous la Mer veröffentlicht, hätte es sicher nicht dieselbe Aufmerksamkeit bekommen, weil es schlicht nicht als neues We Are Scientists-Album verstanden worden wäre. Der Doppelrelease zahlt sich also aus und bietet eine Plattform zum Experimentieren, die zu nutzen andere Bands nur ermutigt werden können. Denn treue Fans zahlen nach wie vor gerne doppelt und holen sich eh beide Versionen, freuen sich bloß ab und zu, wenn sie mehr für ihr Geld bekommen.

Der Zorn der Filmkritik: Pixels (2015)

“Der Zorn der Filmkritik” ist eine Serie, die sich mit besonders vernichtenden Filmkritiken beschäftigt. Dieses Mal: Adam Sandlers neuer Blockbuster “Pixels (2015)”


Pixels (2015)

Pixels ist eine Sci-Fi Komödie, welche sich Videospiel Memorabilia aus den 80er Jahren zum Thema macht.

Trailer:

Im Jahre 1982 schickt die NASA eine Zeitkapsel ins Weltall, um möglicherweise mit außerirdischen Lebensformen in Kontakt zu treten. Schließlich erreicht diese Zeitkapsel auch eine Alienrasse, die jedoch von den enthaltenen Videospielausschnitten ziemlich irritiert ist und die Botschaft als Kriegserklärung auffasst. In der Gegenwart tauchen nun auf einmal riesige Verkörperungen von PacMan, Donkeykong & Co auf und greifen die Erde an. Glücklicherweise hat der Präsident der USA (Kevin James) einen alten Freund aus seiner wilden Arcadejugend, der als ehemaliger Videospielchampion quasi prädestiniert ist, die Welt zu retten. Sam Brenner (Adam Sandler) wird somit, als Kopf einer Task Force (Josh Gad, Peter Dinklage und Michelle Monaghan), damit beauftragt, die Karre aus dem Dreck zu ziehen. Bald stellt sich heraus, dass die Aliens die Videospielverkörperungen als eine Art Herausforderung auf die Erde geschickt haben, welche die ungleiche Gruppe bewältigen muss.

Sandler, der nicht nur als Hauptdarsteller, sondern auch als Produzent am Film beteiligt ist, spielt seine typische Rolle: ein in die Jahre gekommenes Riesenbaby, das mitten in seiner “Ich bin ein totaler Versager”-Midlifecrisis nun auf unerwartete Weise doch noch mal seine speziellen Qualitäten unter Beweis stellen kann. Dass Pixels tatsächlich durch und durch ein Adam-Sandler-Film ist, wird durch ziemlich flache Gags (Highlights sind tatsächlich Witze der Form: “Ach guck mal, den kenn ich doch! PacMan! Und er ist böse. Haha! Jetzt hat er seinem Erfinder die Hand abgebissen!”; siehe Trailer) und mehr als fragwürdige Frauenrollen (eine Schönheit wird im Film sprichwörtlich zur Trophäe…) klar. Visuell bombardiert Pixels mit einer Fülle von 3D-optimierten Szenen und passt sich damit einem gewissen Hollywoodtrend an, der nach der Maxime: “Wer braucht schon starke Figuren oder ein solides Plot-Developement, wenn wir CGI haben?”, operiert.

Die Einspielergebnisse der ersten Woche waren dennoch zufriedenstellend. Mit einem weltweiten Umsatz von über 108 Millionen Dollar bis zum 06.08.15 pendelte sich Pixels meist in den Top 3 der Filmcharts ein.

Pixels – Kritikerstimmen

Im Vergleich zur moderat positiven Zuschauerresonanz wurde Pixels von der Filmkritik regelrecht zerrissen. Auf Rotten Tomatoes erreichte der Film ein Rating von 18% mit folgendem Kritikerkonsens:

Much like the worst arcade games from the era that inspired it, Pixels has little replay value and is hardly worth a quarter. (RT CC)

Auch Metacritic listet Pixels mit einem Metascore von 24 als ziemlichen Flop.

Interessant ist hierbei die ungewöhnlich heftige und emotional aufgeladene Resonanz der Kritiker. Hier eine kleine Auswahl:

“This is a film in which a viewer can be forgiven for rooting for the old video game icons to annihilate humanity. God help us if the best savior we can muster is Sandler.” James Berardinelli ReelView

“I see Pixels as a 3d Metaphor for Hollywoods digital assault on our eyes and brains. Not funny. Just relentless and exhausting.” Peter Travers Rolling Stone

“There are legitimate excuses for going to see Pixels. Losing a bet, perhaps. Having a loved one held for ransom. Maybe a serious blow to the head. But none of those (except maybe the last) would allow you watch and actually enjoy the latest cinematic leavings of Adam Sandler.” Marc Mohan Portland Oregonian

Besonders agitiert war der auf YouTube populäre Kritiker “MovieBob”, der seiner tiefen Enttäuschung in einer sehr sehenswerten 10-minütigen Hasstirade Luft machen musste:

“In summation: Fuck PIXELS, fuck everyone who made PIXELS and preemptively fuck everyone who goes to see PIXELS.” MovieBob

Hände weg von Videospiel Memorabilia, Adam!

Doch warum fallen die Reaktionen so vernichtend aus? Natürlich ist Pixels kein Film, bei dem man unbedingt Lobpreisungen erwartet hätte, doch das Grundkonzept ist zumindest aus Marketingsicht durchaus attraktiv: Eine Sci-Fi Komödie macht sich eine in den letzten Jahren trendende “Geek”-Zielgruppe, die sich längst aus dem Keller ihrer Mutter in das grelle Licht des Mainstreams bewegt hat, zu Nutzen. PacMan, Donkey Kong oder SpaceInvaders haben einen hohen Wiedererkennungswert – und zwar nicht nur für die Generation die sie direkt erlebt hat. Diese Figuren repräsentieren den Beginn der goldenen Zeit einer mittlerweile fast legendären Ära der Arcadegames. Und genau hier liegt das Problem.

Der Grund für einige besonders vernichtende Kritiken ist, dass die Menschen, die diese Kritiken schreiben mit den verhackstückelten Videospielen aufgewachsen sind, die in Pixels vorkommen. Die Umsetzung der eigentlich interessanten Idee nach aktuell typischen Filmmachermustern (Visuell überladen, schwacher Plot, flacher Humor) ist eine Beleidigung für das, was viele Menschen mit ihren verpixelten Helden verbinden: Eine genuine Liebe zu einem Genre, dass heutzutage eigentlich nur noch über pure Erkennensassoziation lebt. Eben genau die Struktur der “Ach das ist doch PacMan! Haha!”-Erlebnisse muss für jemand, der früher sein Taschengeld in der Spielhalle ausgegeben hat, genauso schwer zu ertragen sein, wie die eindimensionale Darstellung der menschlichen Heldenfiguren (Verlierer kriegt am Ende doch noch die Frau), die eigentlich die Bannerträger dieser kulturellen Erscheinung sein müssten. Doch am schlimmsten ist wohl, dass Pixels vor allem mit einem Namen assoziiert wird: Adam Sandler.

Ist Pacman böse oder doch Adam Sandler?

Sandler löst bei Filmkritikern in den letzten Jahren vor allem eines aus: ein resigniertes Augenrollen. Spätestens seit “Der Kaufhaus Cop” oder “Jack und Jil” ist Sandler zur Antithese des Selbstverständnisses eines Filmgenießers mit etwas höherem Anspruch geworden. Das liegt nicht nur an den schon beschriebenen Schwächen in der narrativen Struktur und der schauspielerischen Leistung von Sandler, sondern auch an seinen dubiosen Produktionspraktiken.

Jim Emerson hat in seinem Artikel: “Adam Sandler´s house of cruelty” gut zusammengefasst, warum Sandler als Produzent nur wenig Sympathie für sich gewinnen kann. Adam Sandler Filme zeichneten sich häufig durch ein extremes Gewinn-Risiko-Gefälle aus. Sehr niedrige Kosten für Screenwriting und Umsetzung (oft durch Sandlers eigene Schreibversuche unterstützt) wurden durch übertriebenes Product-Placement supplementiert und machten diese Filme aus Investorensicht zu einer sicheren Sache. Auffälligerweise sind die kompletten Filmbudgets der generischen Adam-Sandler-Komödien vergleichsweise sehr hoch. Red Letter Media hat versucht am Beispiel von “Jack und Jil” zu zeigen, dass diese Art von Filmen eigentlich garkeine Filme mehr sind. Die Grundlagen des Filmemachens werden so marginalisiert, dass Qualität fast unmöglich zu erwarten ist. Die These von Red Letter Media ist hierbei, dass die gesamten Produktionskosten künstlich aufgeblasen werden, um so hohe Auszahlungsmargen an Sandler und seine Investoren zu rechtfertigen. Unabhängig davon, ob man Sandler fast schon betrügerische Machenschaften in seiner Filmproduktion vorwerfen kann oder nicht, eines ist Fakt: Der typische Adam Sandler Film macht nicht einmal den Versuch eine gute Umsetzung zu liefern.

Pixels ist hierbei insofern doppelt tragisch, als dass eine eigentlich innovative Idee mit Potential, nämlich einen lustigen Film mit hohem Wiedererkennungwert für eine immer stärker in den Mainstream integrierte Subgruppe (Videospielenthusiasten) zu machen, durch die typischen Symptome einer Kinolandschaft vereinnahmt wird, die kommerziellen Erfolg vor gutes Handwerk stellt. Leider funktioniert es.