Schlagwort: Filmkritik

Die unerträgliche Schwere des Seins

Erwachsene Menschen haben Probleme. Und je älter sie werden, desto verzwickter werden die Probleme. Das zeigt Sandra Nettelbecks neuer Film „Was uns nicht umbringt“.


Der Hauptcharakter Dr. Maximilian Lange (August Zirner) ist Psychotherapeut und verliebt sich in seine Patientin Sophie (Johanna ter Steege). Max ist geschieden, bezeichnet seine Ex-Frau Loretta (Barbara Auer) aber als seine beste Freundin. Sophie führt dagegen eine Beziehung mit David (Peter Lohmeyer), der weiterhin bei seiner Frau und seinem Sohn lebt, die von der Beziehung wissen.

Dazu kommen fünf weitere Haupt- und Nebenplots und nochmal so viele Probleme. Das Figureninventar umfasst unter anderem eine Schriftstellerin, einen Pinguinwärter und einen Bestatter. Als Zuschauer٭in fehlt allerdings der emotionale Bezug zu so vielen Charakteren und ihren individuellen Handlungszwängen. Vielleicht fällt das Zuschauer٭innen im höheren Alter leichter, die selber der eigenen Biografie nicht mehr entkommen können.

Wahrscheinlicher ärgern sie sich aber über Szenen, wie diese: Fritz (Oliver Bourmis) trauert um seinen Lebensgefährten Robert, der mit Blutkrebs im Koma liegt. Dessen religiöse Familie will verhindern, dass Fritz seinen Freund noch einmal sehen kann. Als Fritz schließlich den Leichnam sieht, erleidet er einen Wutanfall mit anschließendem Zusammenbruch. Die Reaktionen von Fritz sind so eindimensional, dass es schwer fällt, wirklich Mitleid mit der Figur zu empfinden.

Die Geschichten des Films mögen alle realistisch sein, doch für die Zuschauer٭innen bleiben sie innerlich hohl. Das liegt vor allem daran, dass der Film sich mit dem Ensemble-Format übernimmt. Die meisten Geschichten bleiben facettenarm wie die von Fritz, auch wenn der Film sich bemüht, durch weitere Schwergewichte (sterbender Vater, dysfunktionale Teenager, Spielsucht etc.) mehr Emotionen herzustellen. Schade ist, dass in dieser Menge an behauptetem Tiefgang die besseren Geschichten untergehen. Zum Beispiel die des Pinguinwärters Hannes (Bjarne Mädel) zu seiner autistisch veranlagten Kollegin Sunny (Jenny Schily). Als ihr gekündigt werden soll, verzichtet er stattdessen auf seinen Job, ohne ihr etwas davon zu sagen. Hier wird ein Problem nicht auf psychologischer Ebene abgehandelt, sondern durch eine handfeste und nachvollziehbare Handlung.

Quelle: YouTube

„Was uns nicht umbringt“ ist ein ambitioniertes Projekt: Der Film versucht ein umfassendes Generationenportrait der 40- bis 60-Jährigen in Deutschland zu zeichnen. Es gibt sicher Zuschauer٭innen, die sich darin wiederfinden und den Film genießen können. Dafür müssen sie allerdings auch immun sein gegen wirre Schnitte und dick aufgetragene Klaviermusik.

Vielleicht sind sie dabei ähnlich überfordert wie Protagonist Max. Der Psychologe steht im Auge des Sturms, da ein Großteil der Figuren bei ihm zur Therapie ein- und ausgeht. Ob er ihnen wirklich hilft, ist schwer zu sagen. Totengräber Mark (Christian Berkel) bemerkt, dass Max sich anscheinend lieber um sich selbst kümmern würde. Das tut er dann auch und kommt tatsächlich mit seiner Patientin Sophie zusammen. Das könnte nun doch noch die große Liebe sein – oder der Auftakt zu neuen Problemen.

„Was uns nicht umbringt“ ist ab dem 15. November im Kino.

Beitragsbild: © Alamode Film

Ein doppelter Befreiungsschlag

Michael Bully Herbig wildert in fremden Genre-Gefilden. Abseits der Komödiensparte hält er in seinem ersten Thriller Ballon erfrischenderweise noch nicht einmal sein Gesicht in die Kamera, sondern überlässt das Feld gänzlich seinem großartigen, weil wahren, Filmstoff und erschafft einen spannenden und zeitgemäßen Film über eine spektakuläre Flucht.

Von Maria Engler


Ballon, dessen Erzählung ebenso klug auf das Wesentliche reduziert ist wie sein Titel, spielt im Jahr 1979 und erzählt die Geschichte der beiden Familien Strelzyk und Wetzel, die mit einem selbstgebauten Heißluftballon in den Westen fliehen wollen. Nachdem der erste Fluchtversuch der Familie Strelzyk, die ausgerechnet direkt gegenüber eines Stasi-Mitarbeiters wohnt, gescheitert ist, muss schnell eine neue Fluchtmöglichkeit her. Es beginnt ein Wettlauf mit den Ermittlern der Stasi, die den Fundstücken der Absturzstelle allmählich zu den Schuldigen folgt.

Der Film ist ein Befreiungsschlag sowohl für die Figuren dieser faszinierenden Geschichte als auch für den Filmemacher Michael Bully Herbig, der sich mit Ballon erstmalig, dafür aber umso eindrucksvoller, vom Ewiglustigen abwendet. Mit seinem vollständigen Rückzug hinter die Kamera zeigt er als Regisseur, Produzent und Co-Drehbuchautor neben Kit Hopkins und Thilo Röscheisen, dass er nicht nur ein Komödiant, sondern ein richtig guter Filmemacher ist.

Spannung bis zum bekannten Ende

Nachdem Disney die Geschichte der Ballonflucht, die wohl wie kaum eine andere nach einer Verfilmung schreit, 1982 unter dem Titel Mit dem Wind nach Westen mit John Hurt in der Hauptrolle in ihrer vollen Detailfülle ausgewalzt hat, wird sie in Ballon auf das absolut Wesentliche beschränkt. Der Film steigt kurz vor dem ersten Fluchtversuch ein und begleitet anschließend hochgradig spannend die Hindernisse und Erfolge auf dem Weg zum zweiten Anlauf. In knapp 120 Minuten Laufzeit wird hier ein absolut gelungener Schwerpunkt auf den Kern der Geschichte gelegt.

Details über Hintergründe, moralische Bedenken und den eigentlichen Antrieb der Familien werden in Zwischentönen erzählt und vieles den Ergänzungen der Zuschauer*innen überlassen, was ihnen einen erfrischend aktiven Part verleiht. Die enorme Zuspitzung der Geschichte steigert die Handlung trotz bekanntem oder zumindest erwartbarem Ende bis ins aufgeregte Augenzuhalten und nervöse Herumzucken im Kinosessel.

Dunkirk mit Blümchenmuster

Die zusammengezurrte Erzählweise und die Ästhetik von Ballon erinnern im besten Sinne an amerikanisches Kino. Der tickende Soundtrack legt sich in seiner Hans-Zimmer-mäßigen Art zwar zuweilen etwas schwer über detailverliebten Bilder, ist aber neben der verschlungenen Geschichte bis zum Schluss ein Motor für die emotionale Bindung an die Ereignisse. Der Kameramann Torsten Breuer leistet mit zahlreichen spannenden bis ungewöhnlichen Einstellungen und Bewegungen der Kamera erstklassige Arbeit und fängt die authentischen DDR-Sets inklusive grausamen, aber niemals von oben herab belächelten Blümchentapeten perfekt ein.

Aus der insgesamt sehr guten Riege der Schauspieler*innen sticht nicht nur David Kross mit unansehnlichem Schnauzer, sondern vor allem Thomas Kretschmann als Stasi-Detektiv der fiesen Sorte gesondert hervor. Im Stile eines viel weniger affektierten Hans Landa entfaltet sich seine Grausamkeit weniger als persönliche Eigenart, sondern eher als Bösartigkeit eines in sich faulenden Systems.

Ballon kommt Michael Bully Herbig kommt am 27.9.2018 im Verleih von Studiocanal in die Kinos und hat eine Spielzeit von 120 Minuten. Ein Trailer ist online verfügbar:

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Beitragsbild: © Studiocanal GmbH


Maria Engler ist eine der wenigen gebürtigen Berlinerinnen in Berlin und studiert Filmwissenschaft im Master. Wenn sie nicht gerade im Kino ist, schreibt sie Texte über Filme und Serien für ihren Blog diefilmguckerin.de oder andere schnieke Medien.

Besiegt die Hoffnung die Verzweiflung?

Freundschaft, Hoffnung, Vertrauen und Verrat. Große Gefühle, universelle Themen. In seiner Neuinterpretation des Film- und Buchklassikers „Papillon“ bringt Regisseur Michael Noer sie auf die Leinwand.


Die Geschichte ist eigentlich nicht sonderlich komplex: Henri „Papillon“ Charriere (Charlie Hunnam) wird zu Unrecht zu lebenslanger Haft verurteilt, und weil er schon vor seiner Verurteilung keine weiße Weste hatte, glaubt ihm niemand. Er verschwindet in den Gefangenenlagern, die Frankreich in den 30er-Jahren in Französisch-Guayana betreibt. Hier lernt er den Fälscher Luis Dega (Rami Malek) kennen und zwischen ihnen entwickelt sich eine Zweckbeziehung, die nach und nach zur Freundschaft wird. Dega verfügt über Geld, Papillon über Körperkraft. Nur diese Kombination ermöglicht ein Überleben in der Strafkolonie. Alleine – das begreifen beide noch bevor sie einander mögen – ist eine Flucht aussichtslos. Doch auch wenn es Papillon gelingt, sie beide gegen die Angriffe anderer Häftlinge zu verteidigen und die Bestechungen Degas minimale Verbesserungen des Haftalltags bewirkten, mündet jeder Fluchtversuch in drakonischen Strafen durch die Wärter. Schließlich kommt es zur ersten Katastrophe, das Team der beiden Männer wird  getrennt und ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt wird.

Charlie Hunnam und Rami Malek in „Papillon“, © Constantin Film.

In zeitgemäßer Hochglanzoptik erzählt Noer eine Geschichte, die schon einmal die Kinozuschauer begeistert hat. Bereits 1973 verfilmte Franklin J. Schaffner die autobiographische Erzählung des französischen Schriftstellers Henri Charrières.

So gnadenlos wie die Wärter der Strafkolonie mit den Gefangenen umgehen, so  geht Noer hierbei mit den Zuschauerinnen und Zuschauern um. Gewalt, Tot, Hunger und Elend hunderter verurteilter Männer ergießen sich ins Kino und lassen den Blick nicht entkommen. Doch Noer ergötzt sich nicht am Schrecken, er verleiht ihm Ausdruck. Ausdruck in ungewöhnlich langen Kameraeinstellungen, frontal gefilmten Gesichtern und kurzen, aber ausdrucksstarken Dialogen. Bemerkenswert hierbei ist der Spagat, der ihm zu gelingen scheint. Auf der einen Seite zeichnet er ein Bild der Hölle auf Erden und auf der anderen Seite eines der beispiellosen Freundschaft zweier Männer. Dies gelingt ihm ohne pathetische Dialoge und kitschige Bilder. So überbrückt er die Kluft zwischen den beiden tragischen Helden in dieser Ausnahmesituation und den Kinozuschauerinnen und Zuschauern. Dies geht soweit, dass man sich dabei ertappt, sich aus der samtigen Komfortzone der Kinosessel hervorzuwagen, und mit Papillon und Dega auf eine strapaziöse Reise geht, die schließlich ein gutes Ende nimmt.

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„Papillon“ von Michael Noer startet am 26. Juli 2018 im Kino.

Titelbild © Constantin Film

„ES“ ist nicht der Film, der „ES“ hätte werden können

Die Neuverfilmung von „ES“ ist nicht gruselig und enttäuscht auch auf vielen anderen Ebenen.


Die Originalversionen von „Evil Dead“ und „Blair Witch Project“ verschafften mir schlaflose Nächte. „REC“ war furchterregend. Horror funktioniert auf einer persönlichen Ebene. Jeder von uns hat seine eigenen Ängste, die (womöglich) nicht alle teilen.

Meine Hoffnung in die Horrorfilme dieser Tage ist gering. Selbst die intelligenten unter ihnen greifen manchmal auf klischeehafte Kamera-Zuckungen und Sound-Effekte zurück, um ihre Kategorisierung als Horrorfilm zu rechtfertigen. Für mich persönlich offenbarten die Filme „Life of Pi“ und „Der junge im gestreiften Pyjama“ ein größeres Verständnis von Horror als die „Insidious“- oder „Annabelle“-Filmreihen.

„ES“ von Stephen King habe ich nicht gelesen. Ich erwartete eine psychologische Horrorgeschichte. Die Trailer der 2017er Film-Adaption weckten meine Neugier. Die glänzenden Rezensionen bei Rotten Tomatoes brachten mich dazu, den Film zu schauen. Also saß ich im Dunkeln und wartete darauf, einen brillianten Horrofilm zu sehen und fühlte mich wenig später von der PR-Maschine betrogen, die mir weisgemacht hat, „ES“ (2017) sei ein Klassiker. Als ich das Kino verließ, schnappte ich zwei Kommentare auf:

„Ich wartete darauf, richtige Angst zu bekommen. Aber es war nicht mal gruselig.“

„Was haben wir da grad gesehen? Das war doch ein Witz!“

Ich selbst war auch verwirrt. Habe ich denselben Film gesehen, den die Kritiker angepriesen hatten? Ich kam verärgert heim, las ein paar negative Filmkritiken und darunter einige erhellende Kommentare. Die meisten Menschen, die die Hass-Kommentare unter den negativen Filmrezensionen posteten, hatten das Buch gelesen. Sie verteidigten „ES“ und rechtfertigten das Buch und die Geschichte. Haben die Filmemacher es also geschafft, ihr Publikum zu überzeugen und den Film so nah wie nur möglich an die Ängste herankommen lassen, die das Buch schürt?

Was positiv ist:

  • Die Kinderdarsteller machen einen großartigen Job.
  • Der Film ist technisch gut gemacht.
  • Die Coming-of-Age-Story wird gut erzählt.
  • Die Anfangsgeschichte, Georgies Tod, wird ausgewogen erzählt.

Was kritikwürdig ist:

  • Das Drehbuch ist inkohärent und abgehackt, mit ein bisschen Sound- und Lichtflackern für Fans moderner Pop-Horror-Filme.
  • Der Film versucht eine Comig-Of-Age- und eine Horrorgeschichte gleichzeitig zu erzählen. Worin er in meinen Augen scheitert.
  • Eine knappe Hintergrundgeschichte hätte geholfen. Hatte das Buch eine?
  • Die letzten 30 Minuten bestanden aus bedeutungslosem Nonsense (wie dem exzessiven Einsatz von animierten Bildern, unnötiger Gewalt, Kindern, die ohne erkennbaren Grund durch die Luft schweben und noch vielem mehr)

Eine ernsthafte Sorge

Die Sorge steht in Verbindung mit „ES“ und anderen Filmen wie zum Beispiel „Kick Ass“. Ich finde es akzeptabel, dass Autoren, die tiefe psychologische Phantasieren haben, diese auch niederschreiben. Aber ich habe ein Problem damit, zu akzeptieren, dass Film- und Fernsehproduzenten diese Phantasien Kindern und Teenagern zuschieben und diese für sich durchleben lassen. In „ES“ wird etwa die 15-jährige Sophia Lillis sexualisiert, während die Jungen (die meisten sind erst 14) in Szenen sexuellen Erwachens und blutiger Gewalt verwickelt werden. Die meisten Dialoge kommen nicht ohne Kraftausdrücke aus. Für seine Gewalt- und Horror, die blutigen Bilder und seine Sprache ist der Film mit der FSK 16 belegt.

Die jugendlichen Darsteller und ihre Eltern haben vermutlich kein Problem damit, dass sie für ein erwachsenes Publikum spielen, zumal der Film ihnen zu Prominenz und Geld verhelfen sollte. Und vielleicht stellen Filmemacher durch ihre kreative Produktion und Post-Produktion ja auch sicher, dass die Teenager nicht komplett in das finale Produkt involviert sind. Trotzdem bleibt ein bitterer Beigeschmack an dem Umstand, dass Kinder in einem als nicht jugendfrei bewerteten Film Erwachsenenphantasien ausspielen müssen. Oder bin es nur ich, der zu viel darüber nachdenkt?

Apropos Kohärenz

Dieses Review hat ein wenig seinen Rahmen verlassen, denn ich dachte mir, ich baue ihn einfach genauso „brillant“ auf wie „ES“.

Der Film wird ein Kassenerfolg werden und ohne Frage noch tolle Reviews bekommen. Mich überzeugt dieser anmaßende Film aber trotzdem nicht.

Quelle: YouTube

Kathir Sid Vel verbrachte seine ersten drei Lebensjahre im südindischen Dschungel. Von da aus zog er in eine Kleinstadt, wo auch heute noch Menschen sich gegenseitig ihre Fragen stellen, statt diese zu googlen. Sein Kindheitstraum verwirklichte sich mit seinem Eintritt in die Werbebranche, wo er hinter den Kulissen mit vielen großen Namen Bollywoods zusammenarbeitete. Um dem unruhigen Leben zu entkommen, zog Sid ins schöne Schottland, wo er Firmen dabei hilft, digitale Technologien für sich zu nutzen. Seine Leidenschaft gilt der Diskussion von Filmen, Technologien und dem modernen Leben.

Titelbild: © Warner Bros. Pictures

SWISS ARMY MAN: Fahren und fahren lassen

2016 war kein schlechter Jahrgang für ausgesprochen weirde Filme, wie unter anderem „Swiss Army Man“ von Daniel Kwan & Daniel Scheinert belegt.


Besser als nix, denkt sich wohl der vereinsamte Gestrandete Hank (Paul Dano) und lässt von seinem Suizidplan ab, als eine Leiche angeschwemmt wird. So ganz tot scheint der junge Mann (Daniel Radcliffe) aber nicht zu sein, wie die seinem blassen Körper immer energischer entweichenden Flatulenzsalven nahelegen. Da hat Hank den genialen Einfall, seinen rückstoßbetriebenen neuen Freund kurzerhand als Jetski zu nutzen, und reitet sodann entsprechend euphorisiert den Filmcredits entgegen – ein erhabener Anblick. Nicht weniger genial ist das transgressive Konzept einer „Schweizer Multifunktionstaschenleiche“, die im Laufe der munter zwischen selt- und empfindsam wechselnden Geschichte auch als Trinkwasserspender, Nussknacker, Schießbüchse und Peniskompass fungiert.

Einige der progressivsten Filme der letzten zwanzig Jahre stammen von Filmkünstlern, die mit Musikclips erste Berühmtheit erlangten: Spike Jonze / „Being John Malkovich“, Michel Gondry / „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“, Jonathan Glazer / „Under the Skin“. Nun haben die beiden Daniels Kwan & Scheinert („Turn Down For What“) es geschafft, die 2016er Weirdness-Schraube massiv an- bzw. abzudrehen und sich ganz in die Tradition von Bizarro-Perlen der Vorjahre wie „The Forbidden Room“, „Upstream Color“, „Holy Motors“ oder „Rubber“ einzureihen. Man muss „Swiss Army Man“ im Speziellen oder albern-groteskes Schrägzeug im Allgemeinen nicht mögen, um trotzdem zuzugeben, dass dieser Film bemerkens- und daher sehenswert ist, nicht zuletzt auch angesichts extrem lauer Kinosommerabende mit „Independence Day: Resurgence“ und dergleichen.

Andererseits sind offenbar selbst solch abseitige Kinofilme vor Pathos, Sentimentalität und einem überraschend ­(wenn nicht gar enttäuschend) geradlinigen „Suche nach der Liebe und sich selbst“-Plot nicht gefeit. Gewiss funktioniert die bittersüße Bromance, erfüllt sie doch nebenbei die Funktion, Pupshumor-Kritikern den entsprechenden Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn hier werden Meteorismen nach dem Motto „Was stille Wässer können, das können laute Gase ebenso“ allegorisch überhöht. So lernt Hank von seinem universalbegabten „Supermanny“ schlussendlich, dass man sich nicht verstecken oder verstellen, nichts in sich aufstauen sollte, und entsprechend ist denn auch das „Free Willy“-artige Ende zu verstehen, das Rührseligkeit mit einer ordentlichen Portion WTF versetzt. Neben der Erkenntnis, dass hier ein besonderes Indie-Kino fernab vom üblichen Mumblecore geboten wird, bleibt einem aber auch der Nachgeschmack eines nicht gänzlich kompromisslosen Werks in Erinnerung. Dennoch: Auf das Filmdebüt von Video-Legende Chris Cunningham sollte man unbedingt gespannt sein.


Beitragsbild: nofilmschool.com

Leos Carax: Holy Motors – Hermetisches Bild- und Konzeptwunder auf zelluloid Beinen

Holy-Motors

Kaum zu glauben, dass der Regisseur des zugegebenermaßen nicht biederen, aber doch relativ straighten Filmklassikers Die Liebenden von Pont-Neuf von 1991 rund 20 Jahre später einen der seltsamsten Filme seit langem drehen würde: Holy Motors.


Obwohl „zelluloid“ kein Wort ist, das man leichtfertig zur Angabe von Beinanzahlen benutzen sollte und zudem nur noch als Kino-Metapher dient im Zeitalter von Megabits und mechatronischem Internet, muss doch vorweggenommen werden, dass die fast einhellige Begeisterung über Leos Carax’ neuen Film Holy Motors nicht von ungefähr kommt, sondern einfach von der Tatsache herrührt, dass dieser von dem wandlungsfähigen, physisch sehr begabten Denis Lavant getragene Bizarro-Batzen ein geniales Cooliosum mit philosophischen Obertönen ist. Man kann durchaus Kritikpunkte finden, etwa dass das Limo-Finale keineswegs die Gewieftheit der vorhergehenden Episoden in sich hat und somit unnötig schwächelt – überhaupt ist die hemmungslose Mindfuck-Attitüde der ersten Hälfte ein wenig Schattenspender für den Rest des Films. Ins Zentrum ist aber vor allem die vielseitige Kühnheit des Projektes zu rücken, das ein wenig wie eine waghalsige Mischung aus Die fabelhafte Welt der Amélie, Mulholland Drive – wobei deutlich unprätentiöser – und Raymond-Roussel’schem Locus-Solus-Enigma anmutet, weil auch hier einfach alles möglich zu sein scheint. Man stelle sich also auf Bewusstseinsverrückungen mittels Wahnwitzparade ein.

Zum Plot: Ein professioneller Schauspieler/Aktionskünstler namens Monsieur Oscar, der anscheinend ganz ohne Kameras (na ja, fast ohne) in immer wieder neue, disparate Rollen schlüpft, macht Paris mit seinen Verwandlungen zum kultigen Episodenkarussell. Von tragikomisch bis phantasmagorisch, von Ansatzweise-SF zu Voll-Melodram, von anarcho zu schnarcho experimentiert hier der exzentrische Kinomagier Carax freakreich, unter anderem damit, dass er die beiden bisher eher wenig experimentellen Damen Eva Mendes und Kylie Minogue gecastet hat. Konsequenz: Holy Motors krallt sich ins Kopffleisch und lässt die alte Denkmurmel nicht los. Man fragt sich, warum nicht alle Filme so erfrischend sind, und hofft leise, dass der „Alles schon mal dagewesen“-Umstand noch viel mehr Filmemacher, und überhaupt Künstler aller Richtungre, dazu anspornt, kleinere und größere Jenseitigkeiten zu realisieren, um einer Verkrustung des quantitativ längst nicht mehr zumutbaren Weltkunstwusts entgegenzuwirken. Andererseits – wie würden Culture Vultures wohl reagieren, wenn jährlich nicht eine Umwerfung von diesem Format auf sie zukäme, sondern 18080? Jedenfalls ist der Wunsch, das Hirn des Rezipienten durch einige gut platzierte Wunder („Platzwunder“) zu (t)rösten, und in diesem Falle die Augen gleich mit, lobenswert.
Weiter so, ihr Leosse und Caraxe dieser Welt, nur her mit dem Gigablast!

Verrissverriss-Epilog: Wenn der Spiegel-Redakteur Jörg Schöning seiner Heckleriade von einer Rezension die Überschrift „Hokuspokus“ gibt, dann ist natürlich schon klar, was folgen wird. Da wird Carax wenig benutzerfreundlicher Kryptizismus vorgeworfen und die „radikalsubjektive Sicht“ des Films allen Ernstes als „anachronistisch“ (?) bezeichnet. Die Filmideen dieser „Sinnhuberei“ seien „antiquiert“, den Regisseur umgebe der „Nimbus eines Taschenspielers“ usw. Wow – so ein schlechtgelaunter Rezensent mit 0,00 Bock auf Schrägheiten darf eigentlich nicht an die Tastatur ran – als durchfleischter Prog-Metaller rezensiere ich ja auch keine Oi!-Punk-Platten. Aus jeder Pore des Schöning’schen Textkörpers strömt der uncoole Duft von aggressiver Voreingenommenheit, dass einem schwin- & -dlig wird. Selbst Lavants vierte Filmfigur, der stilbildende Kanalisationsleprechaun (of the Assis) namens Monsieur Merde, ist da weniger Troll. Ungern möchte man die Philister-Karte ausspielen, aber was bleibt einem angesichts der Unverschämtheit des hier dargebotenen Hater-Grusels übrig?

Feminismus mit oder ohne Technik

Auf der Berlin Feminist Film Week wurde das Science-Fiction Genre endlich `mal ein wenig umgekrempelt. Frauen schrieben Drehbuch, führten Regie und machten den Großteil des Castings aus. Mit Advantageous ist eine dystopische Schau in die Zukunft entstanden, die uns widerspiegelt, was an dem heutigen Verhältnis von Arbeit/Frauen und Wissenschaft/Technik schief läuft.


Im Rahmen der Berlin Feminist Film Week lief Advantageous. Die Regisseurin Jennifer Phang schrieb zusammen mit der Hauptdarstellerin Jaqueline Kim das Drehbuch. Zunächst als Kurzfilm für Netflix produziert, wurde dieser 2012 beim Sundance Film Festival gezeigt und später als Feature zu einem vollen Spielfilm ausgearbeitet. Angekündigt wurde „feminist sci-fi at its best“. Ich erwartete also einen feministischen Science-Ficiton Film. Vor allem erwartete ich eine Geschichte, in der Frauen sich behaupten und vielleicht auch gerade durch Technik mehr Macht bekommen oder sie sich nehmen. Ich hatte hier an anderer Stelle bereits auf das speziell gesellschaftskritische Potenzial von Science-Fiction aufmerksam gemacht. In Science-Fiction-Filmen speist sich die Not, mit der neue technische Innovationen erforscht und realisiert werden, fast immer aus ganz grundsätzlichen Fragen, die die menschliche Existenz betreffen. In vielen populären Filmen sieht das so aus: Der Lebensraum auf diesem Planeten wird zerstört, also brauchen wir Raumschiffe und Technik, die Überlebensbedingungen im All oder auf einem anderen Planeten für uns schaffen.

Berlin Feminist Film Week 2016

© Florence Wilken

Das beinahe zwanghafte Verhältnis von Wissenschaft und Praxis wird gerade in Science-Fiction zwar nicht immer Thema der Handlung, ist aber dennoch der Grund und Boden, auf dem sich Handlungsstränge abspielen und Konflikte entzünden oder überhaupt erst ermöglicht werden. Und das ist die gar nicht so fiktionale, sondern reale Dimension des Genres. Wissenschaft und Technik wirken ganz direkt auf Machtverhältnisse zwischen Menschen, denn die in der Wissenschaft destillierten „Fakten“ werden normativ aufgeladen in Technik eingewoben und werden jedes Mal im Gebrauch der Nutzerinnen reproduziert (Cynthia Cockburn, Susan Ormrod: “Wie Geschlecht und Technologie in der sozialen Praxis gemacht werden”, in: Irene Dölling und Beate Krais: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis).

Technik gegen Biologie

Dreh und Angelpunkt für den Konflikt, dem die Protagonistin in Advantageous ausgesetzt ist, ist der Verfall des menschlichen Körpers, das Altern. Gwen Koh, eine alleinerziehende Mutter, ist Sprecherin für den Konzern „Center for Advanced Health and Living“. Wie der Name vermuten lässt, verbirgt sich dahinter das Bestreben, dem Fortschritt nicht im Wege zu stehen. Dort werden technische „Lösungen“ vermarktet, die das menschliche Leben und die Gesundheit erträglicher machen sollen. Welche Lösung wäre nicht umfassender und logischer, als den Verfall des Körpers gänzlich zu stoppen? Gwen ist in den 40ern, immer noch bildschön, aber man sieht ihr den unerbitterlichen biologischen Prozess eben doch an. Sie kann nicht mehr als Sprecherin des Centers auftreten, man sucht eine neue, jüngere, attraktivere Frau. Gwen ist nicht die einzige, die arbeitslos wird. Im Verlauf des Films sieht man immer wieder Bilder von Frauen in prekären Lebensumständen, ohne Wohnraum oder Prostitution. Die dezent animierten und gezeichneten Gebäude und Transportmittel dieser zukünftigen Welt verstärken dabei das Gefühl, dass für „Natürliches“ und biologische Körper eigentlich kein Platz mehr ist. Zugespitzt wird diese Kritik an der zunehmenden Technisierung unserer Lebensräume, indem ab und an einzelne Bauten einzustürzen beginnen und grauer Staub in den Himmel steigt. Auch die von uns erschaffene Konstruktionen sind vergänglich.

Advantageous Jules Gwen Feminist Film Week

© Good Neighborhood Media

Um ihrer talentierten Tochter eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen, sucht Gwen verzweifelt eine neue Arbeit. Ohne Erfolg. Sie weiß um ihre Expertise, jahrelange Erfahrung mit den Produkten. Das will sie noch einmal als Argument ins Feld führen. Als sie sich schließlich an ihren alten Arbeitgeber und auch privat vertrauten Mitarbeiter wendet, ergibt sich eine neue Chance. In Sequenzen, in denen der Mitarbeiter mit seiner Vorgesetzten verschwörerisch Gwen im Wartezimmer beobachtet, wird der Zuschauerin klar, dass von Anfang an auf Gwen gesetzt wurde. Unklar bleibt allerdings, wieso gerade sie eine geeignete Kandidatin für das waghalsige Experiment ist, das Gwens Arbeitgeber an ihr ausprobieren wollen. Obwohl ihr der Mitarbeiter unter vier Augen mitteilt, welche Risiken damit einhergehen, entscheidet Gwen sich dazu, ihren Körper aufzugeben und ihre Identität in einen neuen, jüngeren Frauenkörper transferieren zu lassen. Für sie ist es die letzte und beste Chance.

Wenn Jugend und Schönheit über Arbeit entscheiden

Eine Gesellschaft, in der Frauen es besonders schwer haben, Arbeit zu finden und die aufgrund ihrer verwelkenden Jugend und Schönheit einfach aussortiert werden, dazu muss man nicht ins Jahr 2041 reisen. Wenn sich Gwen dazu entschließt dem Druck nachzugeben und sich der Schönheitsindustrie und dem Diktat „Frau sein heißt attraktiv sein“ unterordnet, schwindet erst einmal die Hoffnung bei mir als Zuschauerin, die Protagonistin könnte sich doch noch selbst behaupten. Aber halt! Vielleicht wird Gwen ja von ihrem Mut belohnt und kann als ganz neues Wesen, eine neue Art von Mensch, Grenzen überwinden und doch noch den Zwang von sich schütteln. Es wird ihr suggeriert, und Gwen glaubt daran, dass Körper und Geist sich trennen lassen, ja sogar unabhängig voneinander existieren können. Dass Identität etwas ist, dass noch mit sich identisch ist – falls es überhaupt so etwas wie einen Kern oder eine Einheit des Selbst gibt –, wenn jeglicher materielle Bezug weggenommen wird. Gwen und ihre Tochter Jules suchen gemeinsam einen neuen Körper aus, in den Gwens geistigen Muster übertragen werden sollen. Irgendwie ahnen beide, dass sie danach anders sein wird. Die Drastik der Handlung spitzt sich gerade in dem Umstand zu, dass Gwen sich nicht verändert hat, sondern dass, auch durch die noch nicht ganz ausgereifte technische Umsetzung, der gespendete Körper und der eingespeiste Geist zusammen eine ganz neue Person bilden. Frau und Mädchen müssen sich erst einmal kennen lernen, damit daraus Mutter und Tochter werden kann.

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“Does progress mean that you can have a conversation with a fellow human being and be human? Or does it mean that you’re just going to be this ultra-human that just exists forever? Or is that natural to who we are?“, fragt die Schauspielerin Jaqueline Kim in einem Interview (Interview auf craveonline.com) . Und das sind auch die Fragen, die bei mir auftauchen, während ich den Film schaue. Der Film versucht aus einer weiblichen Perspektive eine Gesellschaft darzustellen, die es gerade Frauen fast unmöglich macht, ihre eigene Rolle als Frau zu erkennen, geschweige denn autonom zu gestalten. Deprimierend ist, dass hier keine Frauenpower proklamiert wird. Meine Erwartungen wurden also nicht erfüllt. Aber gerade der dystopische Charakter und die totale Aufgabe der Mutter bis hin zur körperlichen Entäußerung erzeugen eine erschütternde Drastik. Und dann ist er wieder da, dieser Moment, der Filme und besonders Science-Fiction so sperrig und wertvoll macht. Der praktische Zwang, der mit der Möglichkeit etwas völlig Neues machen zu können, einhergeht, führt uns vor Augen, was auf dem Spiel steht. Welche Vorstellungen wir von uns haben und welche Teile wir davon vielleicht bewahren sollten und welche wir völlig neu denken müssen. Advantageous ist ein ruhiger, nachdenklicher Science-Fiction Film mit einem überzeugenden Casting und er ist feministisch, gerade weil die Betrachterin gefordert wird, darüber nachzudenken, wie Frau-Sein heute und in Zukunft aussehen soll oder kann.

Titelbild: © Good Neighborhood Media

„Dark Harbor“ – Retrospektive eines Nicht-Klassikers

Das postmondäne Augenmerk liegt diesmal nicht auf einer cineastischen Neuheit oder zeitgemäßen Analyse eines großen Kultfilms, sondern fischt in den trüben Gewässern von Dark Harbor (1998). Abgesehen davon, dass Alan Rickman (†) und Norman Reedus mitwirkten, haben wir es mit einem kleinen Independent Thriller zu tun, der den Anschein einer verfilmten Novelle macht, jedoch nie als Buch funktionieren würde…


Die deutsche Titelergänzung Der Fremde am Weg erinnert schon etwas an das osteoporöse Frühabendprogramm hierzulande, während der originale Untertitel A drifter. An affair. A murder an Klassiker seines Genres Tribut zu zollen scheint. Tatsächlich wird Dark Harbor eine Ähnlichkeit zu Hitchcock-Filmen nachgesagt; in wenigen auf IMDb gelisteten Kritiken werden recht einstimmig Parallelen zu Roman Polanskis Das Messer im Wasser (1962) gezogen. Tatsächlich ist der Plot ein sehr ähnlicher: Ausgangspunkt bildet ein Ehepaar, das auf bzw. am Wasser das gemeinsame Wochenende verbringen will. Wie Polanskis Paar haben Adam Coleman Howards David Weinberg (Alan Rickman) und seine Frau Alexis (Polly Walker) die besten Ehejahre hinter sich gelassen. Gleich zu Anfang kommt ein junger, attraktiver Mann (Norman Reedus) ins Spiel, dessen Name und Herkunft unerwähnt bleiben. Während dieser junge Mann in Das Messer im Wasser als grünschnabeliger Tramper in Erscheinung tritt, wird er in Dark Harbor verletzt am Straßenrand aufgefunden und schließlich von den Weinbergs mit zum Hafen genommen.

„(…) Zunächst unbemerkt beginnt der geheimnisvolle Fremde ihr Leben zu untergraben: David und Alexis befinden sich plötzlich in einem gefährlichen Spiel aus Sex und Verrat – nichts ist mehr so, wie es war! Was geschieht mit Ihnen…?“ (Quelle: MCP Sound & Media)

Die deutschsprachige Filmzusammenfassung auf dem DVD-Cover lässt irgendwie zu wünschen übrig, fügt sich aber wunderbar in die einfältige Pathetik, die wir schon in der Phrase Der Fremde am Weg vorgefunden haben. Was hier zu einer billigen Sensation verkommt, wird im offiziellen Trailer hingegen zu einem regelrechten Horrorevent aufgeblasen:

(Quelle: YouTube)

Que(e)rverweise

Spannend ist er allemal, doch Dark Harbor kommt und geht auf leisen Sohlen und hebt sich im Verlauf der Story von seinem polnischen Vorbild aus den Sechzigern deutlich ab. Er spielt mit den Erwartungen des Zuschauers und lässt sich mit der Herausstellung des Motivs bis zum Schluss Zeit. Coleman Howards Dreiecksdrama entpuppt sich als Schauspiel im Schauspiel, wobei es ein wenig an Sidneys Lumets Verfilmung des amerikanischen Theaterstücks Deathtrap erinnert. Das play-within-a-play ist jedoch nichts Neues – Agatha Christies Mousetrap wäre ein älteres Beispiel, das wiederum von Shakespeares Hamlet inspiriert wurde.

„Alan Rickman and Polly Walker are perfect as the cou-ple [sic] whose lives are empty of everything except material things and Norman Reedus continues to prove he is so much more than a pretty face“, schrieb Deena Juras anlässlich des damaligen Hamptons International Film Festivals. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der theatererfahrene Alan Rickman als David Weinberg gecastet wurde. Norman Reedus hingegen hatte bis dato vordergründig als Model Karriere gemacht und sollte erst ein paar Jahre später zu einem Exportschlager der US-amerikanischen Popkultur heranwachsen; seine aktuelle Dachmarke ist die Rolle des Daryl Dixon in der beliebten TV-Serie The Walking Dead. Ob Reedus für die Rolle des Fremden gezielt ausgesucht worden war? Eine spezielle Szene erweckt den Verdacht. In dieser verschmelzen Catwalk mit Bühne und ein amerikanischer Pop-Mythos wird in queer konnotierten Trash transformiert: Ein relevantes männliches Idealbild – hier verkörpert durch Inzwischen-Mythos Norman Reedus – vermischt sich mit einem relevanten weiblichen. Die Performance einer transvestierenden Marilyn Monroe mit Veilchen ist sowohl absurd als auch anziehend, denn sie bedient sich klischeehafter Elemente, ohne aber das gängige Transvestiten-Klischee zu reproduzieren.

(Quelle: YouTube)

Bevor ich fortfahre und des unangekündigten Vorwegnehmens bezichtigt werde: Wer Dark Harbor spoilerfrei erleben will, sollte diesen Abschnitt lieber überspringen!
Der Plot ist klassisch: Es ist das verflixte siebte Jahr, die Ehe der Weinbergs ist merklich zum Scheitern verurteilt und das Hinzukommen des Fremden wirkt dem nicht sonderlich entgegen (anders als in Tom Tykwers 3, in dem ein Paar seine Beziehung öffnet). Während Alexis‘ Interesse für den jungen Mann stetig aber vorsichtig wächst, scheint ihr Ehemann seine Anwesenheit höchstens zu billigen. Der Fremde weckt Erinnerungen und Sehnsüchte in ihr, denen sie nach einem verheerenden Streit mit David schließlich nachgibt – was sich als fatal herausstellt.

Dem Zuschauer wird bis zum letzten Viertel vorgegaukelt, das Spiel einigermaßen zu durchschauen; der Twist allerdings bringt das vertraulich erscheinende Konstrukt zum Einsturz: Der geschickt als Suizid getarnte Mord an der Ehefrau stellt sich als von langer Hand geplanter Coup heraus, den David Weinberg und der junge Mann offenbar unternommen haben, um an das Erbe der Frau – das Haus auf der Insel – zu kommen. Den Verdacht, dass die beiden Männer bereits vor Beginn der Erzählung ein heimliches Paar gewesen sein mussten, erweckt die unmissverständliche Schlussszene. Eine solche Auflösung war 1982 in Deathtrap noch mutig (siehe Aids und Homophobie) und wäre in Das Messer im Wasser undenkbar gewesen – wohingegen sie in Dark Harbor keinen diskursiven Gegenstand mehr darstellt. Darüber hinaus entlarvt die letzte Sequenz die beiden Figuren gewissermaßen als Schauspieler, die aber in diesem Augenblick ihre Rollen bereits abgelegt haben. Polly Walkers Alexis dürfte diejenige gewesen sein, die sich gegenüber dem Zuschauer am durchgängigsten offenbart hat.

Gut gelöst: das narrative Dilemma des Unscheinbaren

Er mag beim ersten Sehen etwas zäh und irgendwie absurd wirken. Vielleicht liegt es daran, dass wir es eher mit einem Kammerspiel als mit einem gewöhnlichen TV-Thriller zu tun haben, vielleicht liegt die Ursache aber auch woanders. Dark Harbor – Der Fremde am Weg birgt eine Qualität, die in einer erzählerischen Cleverness liegt und sich zunehmend, also beim wiederholten Schauen, erschließt. Vereinzelte irritierende Momente, die zuerst den Anschein von inkonsequenter, unbeholfener Erzählung gemacht haben könnten, fügen sich plötzlich wie passende Puzzleteile zwischen die Zeilen ein. Die Distanz zwischen dem Zuschauer und den Figuren wird dabei nur bedingt kleiner, doch die Machenschaften an sich werden entschlüsselbar: Jedes Wort und jede Geste wird zu einem potenziellen Träger verborgener Botschaften. In Form eines Buches wäre diese Art des Erzählens nicht möglich, da der Leser auf die Momente, auf die es ankommt, irgendwie verwiesen werden müsste.

Die szenische Umsetzung Dark Harbors vermeidet es bis zur Auflösung, den Zuschauer mit der Nase auf die entscheidenden Augenblicke zu stoßen (darauf muss er schon selbst kommen!); die Zurückhaltung liegt nicht in der Narration selbst, sondern bei den Figuren. Die Rezeption dieses Films ist meiner Meinung nach eher mit der Rezeption eines Kunstwerks vergleichbar, dessen eigentlicher Gegenstand der Kommunikation sich erst bei intensiverer Auseinandersetzung offenbart: Der Zuschauer muss sich erst die Geschichte, dann den eventuellen Hergang erarbeiten. Alternativ kann man Dark Harbor – dreht es sich doch im Grunde um Liebe, Versuchung, Tod und Auferstehung – wie einen gewöhnlichen arte-Film anschauen und sich dabei einfach zurücklehnen.

Titelbild: Screenshot aus „Dark Harbor – Der Fremde am Weg“, MCP Sound & Media

Über Liebe, staatlichen Terror und eine Sekte – Colonia Dignidad

In “Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück” erleben Emma Watson und Daniel Brühl das Grauen. In einem pathetischen Film, der sein Potential leider nicht ausschöpft, wagt sich der Oscar-prämierte Regisseur Florian Gallenberger an ein dunkles Kapitel der lateinamerikanischen Militärdiktaturen und deutschen Auslandsbeziehungen.


Ein ländliches, dünn besiedeltes Gebiet. Wälder, Wiesen und im Hintergrund die schneebedeckten Berge der mächtigen Gebirgskette der Anden. Am Straßenrand ein Eingangstor, das Besucher mit „Bienvenidos“ und dem bayerischen Wappen willkommen heißt. Dahinter eine Parkanlage, am Ende der Auffahrt ein Hotel, ein Restaurant, ein Veranstaltungsgebäude. La Villa Baviera – das bayrische Dorf, in dem unter anderem das Oktoberfest gefeiert wird. Wo Familien dazu eingeladen werden, sich in einem „authentischen deutschen Dorf der Sinne zu erfreuen“, wie es auf der eigenen Website heißt. Wer heute nach Chile reist und unvoreingenommen einen Fuß auf dieses einige hunderte Kilometer südlich der Hauptstadt Santiago de Chile gelegene Areal setzt, wird sehr wahrscheinlich nichts von der Dramatik ahnen, die sich hier über Jahrzehnte vollzog.

Colonia Dignidad: Die Schaffung eines Ortes des Horrors

1961 gründete der evangelische Jugendbetreuer und Prediger Paul Schäfer nahe der chilenischen Stadt Chillán die Colonia Dignidad (dt. Kolonie der Würde). Zuvor war er aufgrund des Verdachts sexuellen Missbrauchs aus Deutschland geflohen. Mit sich brachte er eine Anhängerschaft, die seinem christlich-fundamentalistischem Weltbild folgte und errichtete eine abgeschottete Enklave, in der ein urchristliches Leben geführt werden sollte. Bereits kurz nach der Gründung begann er mit der systematischen Entführung von Minderjährigen, die unter strenger Bewachung Zwangsarbeit leisteten. Der Personenkult um Schäfer innerhalb der Gemeinde erlaubte es ihm außerdem, seine pädophilen Neigungen uneingeschränkt ausleben zu können. Ein Entkommen aus dieser abgelegenen Siedlung war praktisch unmöglich. Laut Gallenberger gelang in fast 40 Jahren lediglich fünf Personen die Flucht aus der Kolonie.

Als am 11. September 1973 der chilenische General Augusto Pinochet einen Staatsstreich organisierte, der den Sturz der weltweit ersten sozialistisch gewählten Regierung Salvador Allendes zur Folge hatte, wurde das südamerikanische Land für knapp zwei Jahrzehnte dem staatlichen Terror unterworfen. Anhänger Allendes und Personen, die sich nicht dem Willen der ultrakonservativen, von der Elite gestützten Militärdiktatur beugten, wurden verfolgt, verhaftet, gefoltert, verschwanden spurlos bzw. wurden ermordet. Der Colonia Dignidad kam in dieser Epoche eine nicht unwesentliche Rolle zuteil. Zum einen unterstützte sie den Putsch, indem sie durch ihre Verbindung zu rechtsextremen Gruppierungen Waffenlieferungen aus Deutschland erleichterte. Zum anderen diente die Siedlung fortan als Stützpunkt von Pinochets Geheimdienst DINA, sodass dort in der Folge politische Gegner festgehalten, ermordet und verscharrt wurden.

Das Schweigen der politischen Akteure

Das Ende der Diktatur im Jahr 1990 überlebte die Colonia Dignidad. Es dauerte bis 1996, bis die chilenische Justiz begann, sich mit Paul Schäfer auseinanderzusetzen. Dieser tauchte daraufhin unter. Erst als er im März 2005 in Argentinien festgenommen wurde, unterstellte man die Kolonie der Zwangsverwaltung. Die Anklage gegen Schäfer und seine Mittäter brachte weitere grauenhafte Details zu den Praktiken innerhalb der Sekte zu Tage. Es stellte sich heraus, dass es dort neben der Kollaboration mit einem Regime, das zahlreiche Menschenrechtsverletzungen beging, zu massiven Folterungen und psychiatrischen Prozeduren an Kindern kam. Bis heute kämpfen Überlebende und ehemalige Bewohner um gerichtliche Anerkennung und Entschädigung ihres jahrelangen Leidens.

Die deutsche Regierung hegte für die Aufklärung der Ereignisse in der Colonia Dignidad kein sonderliches Interesse. Ein Grund dafür dürfte sein, dass sie in der deutschen Politik, allen voran in der CDU und CSU, eine Lobby besaß. CSU-Politiker um Franz Josef Strauß besuchten die Kolonie persönlich und zeigten sich danach von den dortigen Zuständen positiv beeindruckt. Heute ist die Siedlung ein Ort des Tourismus, der sich kaum mit der dunklen Vergangenheit auseinandersetzt. Ein Affront gegen die Opfer.

Gallenbergers Fiktion

Eine mehr als heikle Thematik also, die der Regisseur für die Schaffung einer fiktiven Geschichte nutzt. Daniel (Daniel Brühl), ein deutscher Fotograf, hat sich in Santiago de Chile der sozialistischen Studentenbewegung angeschlossen und unterstützt diese als Redner und Gestalter von Plakaten. Daniels Freundin Lena (Emma Watson) ist Stewardess und stattet ihm während ihres mehrtägigen Aufenthalts in Chile einen Besuch ab. Kurz vor ihrer Abreise gerät das junge Paar in den Strudel der Ereignisse. Nachdem Pinochet zum Staatsstreich aufgerufen hat, Präsident Allende gestürzt wurde und Suizid begangen hat, beginnt das Militär umgehend mit der Repression jeglicher politischer Gegner. Auf offener Straße werden Menschen willkürlich untersucht, verhaftet und bei Gegenwehr mit Schlagstöcken malträtiert oder sogar erschossen.

Daniel versucht, das Chaos mit seiner Kamera festzuhalten, wobei ihn ein Soldat entdeckt. Daraufhin werden er und Lena in Gewahrsam genommen und in das Nationalstadion, das damals für einige Monate als Konzentrationslager für politische Gefangene genutzt wurde, gebracht. Nachdem ein Kollaborateur des neuen Regimes Daniel als politischen Aktivisten Allendes ausmacht, wird dieser schließlich an einen zunächst unbekannten Ort entführt und dort gefoltert. Lena, die der gewaltsamen Verschleppung ihres Freundes tatenlos zusehen muss, findet heraus, dass Daniel in die Colonia Dignidad gebracht wurde und entscheidet sich dazu, in die berüchtigte Sekte einzutreten, um ihren Geliebten zu retten.

Gute Intention

Gallenbergers Intention, mit seinem Film auf die Verbrechen in der Colonia Dignidad und deren Verquickung mit der Militärdiktatur aufmerksam zu machen, ist lobenswert, da die Aufarbeitung weder in Chile noch in Deutschland als abgeschlossen betrachtet werden kann und das Thema daher nach wie vor von Aktualität geprägt ist. Dem Regisseur gelingt es, die Perfidität Schäfers, der von Mikael Nyqvist verkörpert wird, eindrucksvoll nachzuzeichnen, ohne das Grauen ständig direkt zu präsentieren. Da das Latente, nicht Gezeigte dem Zuschauer dennoch offensichtlich erscheint, werden die Qualen und die Angst der Sektenmitglieder nachvollziehbar. Das trist gestaltete Szenenbild einer zutiefst konservativen und fundamentalistischen Umgebung unterstreicht die Stimmung und bildet somit einen krassen Kontrast zu der farbenfrohen und endlos weiten Landschaft, die sich unmittelbar außerhalb der Kolonie in Freiheit präsentiert.

Mangelhafte Umsetzung

Dennoch kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Film zuvorderst auf die Unterhaltung des Publikums abzielt und dabei die zunächst verfolgten Ansätze verloren gehen. Die zu Beginn der Handlung noch sinnig erscheinende Romanze, ist rechtzeitig nur noch von untergeordneter Bedeutung, drängt sich letztendlich aber wieder in den Vordergrund. Zudem werden die Protagonisten von einem beständig vorhandenen Pathos umwoben. Die übermäßige Konstruktion der fiktiven Momente des Films sowie die Heroisierung der Charaktere verleiten den Zuschauer hin und wieder zu Belustigung, was im Zusammenhang der Hintergründe unpassend wirkt. Die schauspielerischen Leistungen erscheinen passabel, allenfalls Emma Watson weiß gelegentlich wirklich zu überzeugen.

Was Gallenberger jedoch allem voran vermissen lässt, ist die Konsequenz in der Durchführung seiner durchaus guten Annäherungen an dieses dunkle Kapitel. Damit verpasst er die Chance, auf weiterreichende Missstände hinzuweisen als letztlich die Vorkommnisse in der Kolonie selbst. Viele Faktoren, die beispielsweise auf einen politischen Skandal verweisen, werden nur angedeutet. Zwar wird gezeigt, dass die deutsche Botschaft in Santiago mit dem Regime kollaborierte, jedoch steht sie mehr oder weniger als unabhängiger Akteur da. Dass offensichtlich auch weitere politische Vertreter aus der Bundesrepublik von den Zuständen gewusst haben mussten, wird außen vor gelassen. Außerdem macht der Film den Zusammenhang zwischen Kolonie und Diktatur ersichtlich, geht jedoch nicht näher darauf ein, wie dieser zustande kam oder wie er sich für beide Seiten auswirkte. Zu der Ideologie Schäfers und den Hintergründen seiner Gefolgschaft werden ebenso nur wenige Informationen geliefert.

Vielleicht wird man Gallenberger mit Hinblick auf das Format des Spielfilms nicht gerecht, zu verlangen, auf all diese diversen Problematiken einzugehen. Dem Regisseur gelingt immerhin ein durchaus unterhaltsamer und sehenswerter Film. Allerdings nutzt er sein Potential nicht, eine größere Reichweite zu erlangen.

 

Titelbild: Copyright: Majestic / Ricardo Vaz Palma

The Hateful Eight – Neo-Western in Überlänge

The Hateful Eight” ist Quentin Tarantinos achter Langspielfilm. Mit opulentem Schauspielerensemble präsentiert der Kultregisseur einen furiosen Neo-Western, bei dem sich altbekannte Stilelemente mit narrativer Verspieltheit vermischen.


Schon kurz nachdem Tarantino Ende 2013 angekündigt hatte an einem neuen Filmprojekt zu arbeiten, gab es bereits die erste Aufregung – das Drehbuch war ungewollt im Internet veröffentlicht worden und der Regisseur drohte mit der Einstellung der Produktion. Dass der Film trotzdem noch zustande gekommen ist, liegt auch an Tarantinos spezieller Beziehung zu dem Projekt: “The Hateful Eight” sollte etwas ganz Besonderes werden – schließlich sieht Tarantino seine Arbeit als “Dialog mit der Filmgeschichte”, mit dem Anspruch auf zeitlosen Klassikerstatus. Diesen Dialog setzte Tarantino diesmal auch technisch um. Das Alleinstellungsmerkmal der Filmproduktion ist der Dreh im altehrwürdigen 70mm Format, eine Reminiszenz an das sprichwörtlich “große Kino” (etwa Ben Hur). Tarantino drehte “The Hateful Eight” mit Kameralinsen aus den 60er Jahren und bietet eine Schnittversion des Films an, die als “Roadshow” präsentiert wird:

Roadshows presented a longer version of the film than would be shown in the films subsequent wider release, included a musical overture to start the show, an intermission between acts and a souvenir program.” (Tarantino auf der Hateful Eight Website)

Diese Darstellungsform verweist auf einen Anspruch der Kinogeschichte, die viele Filmemacher in der Moderne laut werden lassen: Der Kinogang muss wieder zum epischen Erlebnis werden. Konsequenterweise spiegelt sich das auch in der Struktur des Films wieder – die Roadshow-Version hat eine Laufzeit von über drei Stunden und erinnert an eine Kammerspielinszenierung, inklusive Pause.  Der normale Kinogänger muss sich allerdings in den meisten Fällen mit der normalen Schnittversion von “The Hateful Eight” begnügen, da etwa in Deutschland nur vier Kinos überhaupt die technischen Projektionsmöglichkeiten besitzen, den Film im Sonderformat zu zeigen. Doch auch die normale Schnittversion vermittelt den Eindruck, dass Tarantino sich hier filmisch und narrativ mal so richtig ausleben wollte. Doch worum geht´s eigentlich?

The Hateful Eight” ist ein Western, der kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg spielt. Auf einer verschneiten Straße irgendwo in Wyoming trifft der ehemalige Major Marquis Warren (Samuel L. Jackson), der seither auf die Profession des Kopfgeldjägers umgesattelt hat auf seinen Kollegen John Ruth (Kurt Russel), der zusammen mit seiner Gefangenen Daisy Domergue (Jennifer Jason Leigh) in einer Kutsche unterwegs ist. Warren ist auf dem Weg in die Stadt Red Rock und befindet sich in der prekären Situation, in Gesellschaft von den Leichen dreier zur Fahndung ausgeschriebenen Verbrechern und ohne Pferd, in einem Schneesturm festzustecken. Glücklicherweise kann Warren sich einen Platz im Sechsspänner von John Ruth erschwatzen, der seine Gefangene ebenfalls nach Red Rock transportieren muss. Schnell wird klar, dass Ruth seine Begleiterin zwar lebend abliefern möchte, um seinem Spitznamen “The Hangman” gerecht werden zu können, ihm aber sonst am körperlichen Wohl von Domergue nicht sonderlich gelegen ist. Die folgende Kutschfahrt wird dominiert von langen Dialogen zwischen Warren und Ruth, der immer wieder fast beiläufig körperliche Gewalt gegenüber Domergue ausübt. Das Trio trifft in der Folge auf den verirrten Chris Mannix (Walton Goggins), der Sohn eines konföderierten Rebellenführers, der behauptet der neue Sheriff von Red Rock zu sein. Der Schneesturm verschlimmert sich, sodass die Gruppe schließlich Zuflucht in einer Herberge sucht, in der das namensgebende Achter-Ensemble durch den Mexikaner Bob (Demián Bichir), den Henker Oswaldo Mombray (Tim Roth als Christoph Waltz), den Konföderiertengeneral Sandy Smithers (Bruce Dern) und den Cowboy Joe Gage (Michael Madsen) komplettiert wird.

Der kleine Raum der eingeschneiten Herberge dient für den Rest des Films als Bühne für die Inszenierung des Kammerspiels zwischen diesen acht Personen. Mit ausführlichen Dialogen und Metaerzählungen werden die Charakterzüge der einzelnen Protagonisten und ihre Beziehungen zueinander gezeichnet und die große Konfliktlinie des Films deutlich gemacht: Der Rassismus gegenüber Schwarzen vor dem Hintergrund des Sezessionskriegs.

Auch wenn dieses Thema stark an Tarantinos letztes Projekt “Django Unchained” erinnert (Western+Rassismus), so ist “The Hateful Eight” alles andere als ein bloßer Abklatsch. Während Tarantino in “Django Unchained” eine alternative Realität entwirft, in der ein schwarzer Mann die Unterdrückung durch die weißen Sklavenhalter gewaltopulent umkehrt, so erzählt “The Hateful Eight” die Geschichte des Rassismus unaufgeregter und somit näher an unserer Realität. Der schwarze Major Warren ist kein Sklave, sondern ein freier Mann der in einem von Rassenvoruteilen durchzogenen Krieg gekämpft hat, der die menschlichen Abgründe aller Beteiligten zum Vorschein kommen lässt. Die omnipräsentente Aura des Rassismus wird nicht durch die plakative Gewalt gegen Schwarze inszeniert, sondern vielmehr durch Macht des beiläufigen Wortes. Circa 65 Mal lässt Tarantino seine Protagonisten das Wort “Nigger” benutzen – für einige Charaktere ist die derogative Bezeichnung schlicht Konversationsstandard.

In dieser Beiläufigkeit offenbart sich in den ersten beiden Dritteln des Films eine Aura der Brutalität verbal, die bei anderen Charakteren auch physisch zu Ausdruck kommt. Der Kopfgeldjäger Ruth malträtiert seine Gefangene Domergue regelrecht im Vorbeigehen: Hier ein Ellenbogen ins Gesicht, dort eine Ohrfeige, ab und zu mal Eintopf ins Gesicht. Die weiße Frau Domergue wird dabei allerdings nicht dezidiert auf Grund ihrer Hautfarbe oder ihres Geschlechts zum Ziel, sondern einfach, weil menschliches Leben auf der Bühne von Tarantino relativiert wird. Domergue wird im Laufe des Filmes ein Sinnbild hierfür: Ihr Antlitz wird mit jeder angebrochenen Filmstunde demolierter und besudelter (Hierzu auch der sehr empfehlenswerte Artikel von Richard Brody im “New Yorker”).

Nachdem in den ersten zwei Dritteln des Filmes eine selbst für Tarantino ungewöhnliche Dialogdichte die Handlung bestimmt, so wird “The Hateful Eight” am Ende doch noch zu der gewohnten tarantinoesken Splatterorgie. Doch genau das Zusammenspiel zwischen dramaturgisch fein inszenierter Dialoghandlung, die in ihrer langatmigen Struktur eher an Kammerspieltheater erinnert, als an Kino, und der überzeichnet-komischen Gewalt, macht den Film an vielen Stellen schwer zugänglich. “The Hateful Eight” zeichnet eine Parabel über die Ursprünge von Moral und Rassismus in einer Geschwindigkeit, die dem Zuschauer einige Geduld abverlangt. Major Warren gibt an einer Stelle des Films die Maßgabe: “Let´s slow it down. Let´s slow it way down.” aus (siehe auch: Trailer)  – und daran hat sich wohl auch Tarantino dramaturgisch orientiert. Das Resultat ist ein Film mit inhaltlicher Sprengkraft (die sicher auch durch persönlichen Aktivismus des Regisseurs befeuert wird), der für einige Tarantino-Fans aber schwerer verdaulich sein wird als viele seiner bisherigen Filme.  Fast hat man den Eindruck, dass sich der Regisseur in seinem Bestreben einen besonderen Film zu machen, der technisch und dramaturgisch für die Moderne unorthodoxe Wege einschlägt, in seiner eigenen narrativen Verspieltheit verliert. “The Hateful Eight” ist wohl gerade deswegen sicher nicht Tarantinos bester Film, aber einer seiner eindrücklichsten.

© Beitragsbild: The Weinstein Company