Dem Sterben und dem Tod zuzusehen, war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit ein Volksspektakel. Doch ist es heute anders? Oder befriedigen Krimis die moderne Schaulust? Und was passiert eigentlich, wenn das bloße Zusehen nicht mehr reicht?
Tag für Tag den Ermordeten
Der Sonntagabend gehört seit Jahrzehnten den Ermordeten. Doch seit geraumer Zeit breiten sich die Leichen aus. Ein Blick ins Fernsehprogramm und in die Netflix-Bibliothek zeigt: Auch der Montag gehört den Erschlagenen, den Erdrosselten. Am Dienstag können Wasserleichen betrachtet werden. Und Vergiftete am Mittwoch, Erhängte am Donnerstag, Zerstückelte am Freitag und Verbrannte am Samstag. Neben den Todesarten unterscheiden sich die Ermordeten durch ihren Auffindungsort: Mal werden sie in Dresden aus dem Elbe gefischt, mal im dunklen Göteborg von einem Baum geschnitten. Auch das Mordmotiv und ihre Mörderinnen unterscheiden sich meist, ja, müssen sich unterscheiden, schließlich wäre sonst die Spannung dahin. Doch diese Toten haben eines gemeinsam: Ihre Körper werden von Millionen von Augen inspiziert. Ihre Leichen aus Kellerlöchern gezogen, während sich Familien eifrig die Kartoffelchips zum Mund führen. Ihre einzelnen Teile zusammengesucht, während Tausende auf Facebook und Twitter ausdiskutieren, ob ihr Tod realistisch sei oder nicht. Zwar sind das keine echten Toten und die Morde nur die Hirngespinste der Drehbuchautorinnen. Aber kann es sein, dass die Beliebtheit von Krimis aus der Lust am Betrachten von Sterben und Tod resultiert?
Hinrichtung als Volksattraktion
Dass Menschen anderen Menschen beim Sterben und im Tod zusehen, ist ein uraltes Phänomen. Schaulust lässt sich „zu allen Zeiten und in allen Kulturen finde[n]“ (Lexikon der Psychologie/spektrum.de). Man nehme als Beispiel die Hexenprozesse mit anschließenden Hinrichtungen durch den Feuertod, die noch bis ins späte 18. Jahrhundert stattfanden. Sie galten als Volksattraktion, ja, als Volksspektakel. Dafür kamen die Menschen aller Schichten, jeden Alters und Geschlechts auf den Marktplatz gelaufen. Sie schauten zu, wie Menschen unter schrecklichen Schmerzen verreckten; offenbar musste ein Bedürfnis befriedigt werden. Zu jeder Zeit spielte die Schaulust auch der Politik in die Hände. Denn öffentliche Hinrichtungen waren politisch motiviert. Sie sollten abschreckend wirken, aber auch als „symbolische Wiederherstellung der Ordnung“ und zur „Veranschaulichung des Rechtsstaats“ (Richard van Dülmen in: Theater des Schreckens) dienen.
Lustbefriedigung bei Mord und Totschlag
Zwar fanden die beiden letzten öffentlichen Tötungen dieser Art im deutschen Staat 1864 statt, der menschliche Zwang hin- und nicht wegzuschauen ist damit aber keineswegs verschwunden. Wie auch? Er gehört laut Wissenschaft zur Natur des Menschen. Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass 90 Prozent aller Menschen von einer „natürlichen Schaulust“ betroffen seien. Denn wie heißt es bei Milan Kundera? „Ich aber weiß […], dass es Blicke gibt, die kein Mensch sich versagen kann; zum Beispiel auf einen Verkehrsunfall oder einen fremden Liebesbrief“ (in: Das Buch vom Lachen und Vergessen). Und auch die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag hat sich in ihren Büchern über Fotografie mit diesem Phänomen beschäftigt und festgestellt, dass das Bild verstümmelter und verletzter Körper, das Bild des Abstoßenden auch etwas Faszinierendes habe (in: Das Leiden der Anderen betrachten). Dies erklärt auch die Behinderungen von Einsatzkräften bei Verkehrsunfällen durch sogenannte „Gaffer*innen“. Und kann es sein, dass in den Sozialen Medien unter Berichten zu Mord- und Totschlag mehr Interaktionen zu verzeichnen sind als unter Berichten z. B. zu politischen Themen (ausgenommen es hat irgendwas mit Geflüchteten zu tun)?
Wonnegefühle beim Zuschauen
Geht man davon aus, dass die meisten Menschen von einer natürlichen Schaulust betroffen sind, bleibt noch eine Frage: mit welchem Motiv? Was wird mit dem Schauen bezweckt? Zwischen 1920 und 1930 ging man davon aus, dass die Schaulust einem angeborenen Neugiermotiv folge. Heute gibt es andere Ansätze: So meinen einige Forscher*innen, dass mit dem Hinschauen, z. B. bei Verkehrsunfällen, nicht etwa der Nervenkitzel gesucht würde. Vielmehr würden die Schaulustigen unbewusst Informationen sammeln, um die Gefahr zu verringern, beispielsweise ebenfalls in einen solchen Unfall involviert zu werden. Andere hingegen sehen in dem Schautrieb den „unbewussten Wunsch nach Bestätigung der eigenen Unversehrtheit beim Miterleben des Leides anderer“ (Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik). Der Erziehungswissenschaftler Felix von Cube spricht hier von dem „Sicherheitstrieb“. Ähnliches wurde bereits in der Antike vermutet. So schreibt der Dichter Lukrez im zweiten Buch seines Werkes De rerum natura: „Nicht als ob es uns freute, wenn jemand Leiden erduldet, sondern aus Wonnegefühl, dass man selber vom Leiden befreit ist.“ Und auch bei Albert Camus findet sich diese Theorie wieder, wenn sein Protagonist Meursault in Der Fremde über seine bevorstehende Hinrichtung nachdenkt und den Wunsch offenbart, bei dieser doch nur ein Zuschauer zu sein: „Denn bei der Vorstellung, eines frühen Morgens als freier Mann hinter einer Polizeikette zu stehen, gewissermaßen auf der anderen Seite, bei der Vorstellung, der Zuschauer zu sein, der zusieht und sich hinterher übergeben kann, stieg mir eine Woge giftiger Freude ins Herz.“ Trotz der negativen Konnotation, die die Schaulust mit sich führt, ist der Soziologe Wolf R. Dombrowsky der Meinung, dass die Schaulust, ja, das Hinsehen immer auch etwas Positives in sich birgt: das Erlernen des Umgangs mit dem Unerträglichen.
Ersatzbefriedigung bei Krimis
Egal aus welchem Grund Menschen oft nicht widerstehen können, hinzuschauen, fest steht: Die „Lust am Schauen von Greuel, Kampf und Tod“ ist ein im Menschen tief verwurzeltes Bedürfnis (Walter Serner in: Kino und Schaulust). Und ein Bedürfnis, eine Lust, will befriedigt werden. Dabei muss jedoch Folgendes beachtet werden:
„Zu allen Zeiten gab es eine Unterscheidung zwischen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Schaulust, die daraus folgenden Normen variieren jedoch im Laufe der Geschichte und zwischen den Gesellschaften. […] Das Betrachten grauenvoller Bilder in seriösen Nachrichtensendungen […] gilt in unserem heutigen Normgefüge als durchaus akzeptabel; eher als unmoralisch das Verweilen auf einer Brücke bei einem Massenunfall.“
Krimis sind gesellschaftlich akzeptiert – keine Frage. Damit auch ihre Bilder von Gewalttaten, Mord, Totschlag, vom Sterben und von Folter. Das Hinsehen ist unbedingt erwünscht. Für die Zuschauerinnen ergibt sich durch ein solches Fernseherlebnis ein Gruseln auf Zeit. Ein kontrolliertes Ekeln, dem durch das Wiederherstellen der Ordnung, also das Fassen desder Mörders*Mörderin, ein Ende bereitet wird. Kann der Krimi also als Ersatzbefriedigung der natürlichen Schaulust betrachtet werden? „Schiebt sich ein Medium zwischen Wahrnehmenden und Wahrgenommen, sei es Bild oder Film, erhält die Lust am Schauen neue Begründungen (wie Lustersatz, Schadenfreude, ästhetischer Genuss)“, beantwortet das Filmlexikon der Uni Kiel die Frage. Susan Sontag geht bei der Analyse von Science-Fiction-Filmen sogar noch einen Schritt weiter:
„Eine andere Art der Befriedigung, die diese Filme bieten, beruht auf der extremen, moralischen Vereinfachung, die ihr Charakteristikum ist, das heißt, sie bieten eine moralisch akzeptable Phantasie, die als Ventil für grausame oder zumindest amoralische Gefühle dienen kann.“
Susan Sontag – Die Katastrophenphantasie
Teilhabe an Katastrophen
Dank der zahlreichen Krimifilme und -serien ist es also einfach geworden, die natürliche Schaulust zu befriedigen und unbewusst grausamen Gedanken und Phantasien ein Ventil zu geben. Eine Befriedigung kann tatsächlich jedoch nur eintreten, wenn sich die Zuschauerinnen dem Gesehenen hingeben, also wirklich hinsehen. Nur dann, wenn nebenbei keine Kartoffelchips zum Mund geführt und keine Decken gehäkelt werden. Doch das scheint oftmals gar nicht der Fall zu sein. Denn die Diskussionen auf Facebook oder Twitter, z. B. zum Tatort, verdeutlichen etwas ganz anderes: Der Krimi wird nur mit einem Auge geschaut. Fast könnte man meinen, die zerstückelten Körper, die aus irgendwelchen Kellerlöchern gezogen werden, und die kindliche Wasserleiche, die Taucherinnen in der Elbe finden, sind keine Bilder, die irgendwie verstören, schocken. Keine Bilder, die die Zuschauer*innen an den First Screen fesseln.
Hat etwa der übermäßige Konsum von Gewaltszenen und Leichenbildern zu einer Abstumpfung geführt? Muss bald etwas Härteres her? Empathielose, hetzerische und vorurteilsbehaftete Kommentare unter solchen Nachrichtenmeldungen und Fotos in den Sozialen Netzwerken prophezeien die Gefahr, dass weder die Häkeldecke noch der Second Screen weggelegt werden, wenn die Nachrichtenkanäle echte Tote zeigen. Oder hat etwa das Kommentieren solcher Meldungen die Schaulust abgelöst? Reicht das alleinige Sehen nicht mehr aus, muss es die Teilhabe an einer Katastrophe sein, damit sie spürbar wird? Zumindest würde dies bei realen Katastrophen die Muster von Twitter-Debatten oder den Drang einiger Menschen erklären, zu filmen oder zu fotografieren. Sie selbst werden damit zu Schausteller*innen des Leids.
Die dritte Staffel von Twin Peaks, der Mutter des TV-Epos, einer der bedeutendsten und zugleich seltsamsten Fernsehproduktionen aller Zeiten, ist (rot) angelaufen. Die entsprechenden Kult-Vorhänge wehen wieder, teilweise in Überblendung mit dem Zickzack-Muster der „Red is the new Black“-Lodge-Böden, was primär einen irren Schuss Nostalgie und sekundär eine gewisse unfreiwillige Komik zur Folge hat: ist die Reprise dieser Farben und Formen in Kombination mit einem Seltsamkeitszoom ins Innere eines Grammophons und dem klassisch gewordenen Lynchdröhnen aus der Hermetikkeule nicht die reinste Selbstparodie?
Trotz aller motivischen Wiedererkennbarkeit und des grün umrandeten Schriftzugs, der Zusammentrommelung fast vergessener Gesichter (Mädchen Amick ist inzwischen eine reife Frau) wird hier alles andere als Anbiederung betrieben, spätestens mit der Glaskammer-Szene (mehr weiter unten) ist jeder Zweifel an „Der alte Junge hats immer noch drauf wie kein anderer“ passé. David Lynch, den man seit seinem letzten, inhaltlich wie technisch beträchtlichen Experimentalfilm Inland Empire ziemlich vermisst hat (wenn man den witzigen Gastauftritt als Drill-Captain für angehende Late-Night-Hosts in Louie, eine überraschende Kollaboration mit Werner Herzog, diverse Kurzfilme sowie Studioalben nicht mitzählt), geht konsequent seinen Weg. Dieser scheint nicht ganz so kuschelig zu sein wie die sehr frühen Neunziger, sondern weist Ecken und Kanten und – wait for it – Schrägen und disparate Mannigfaltigkeiten und durchaus unterbeseelte Kälten auf, die insbesondere sein stark heterogeniales Werk ab 2001 auszeichnen.
In bisher jedem seiner Filme bot Lynch mindestens eine Verstörung an, die auf der Hirnrinde kleben blieb wie Information auf der Kuhhaut dieses unseren Hologramms, das sich Existenz schimpft. In Eraserhead war es am ehesten das „Baby“, in The Elephant Man war es die Mitproduzentenschaft von Mel Brooks, in Dune war es die Bild- und Tongewalt, in Wild at Heart waren es Willem Dafoes Zähnchen, in Blue Velvet war es Dennis der Gas-Hopper, in Fire Walk With Me war es der gesamte WTFilm, vor allem aber die CCTV-Perversion feat. David Bowie, in Lost Highway war es der brauenlose Myster X, der an zwei Orten gleichzeitig sein konnte, in TheStraight Story war es die Abstrusitätsabstinenz, in Mulholland Drive war es die Abstrusitätsredundanz + Alptraumpenner gleich um die Ecke, in Inland Empire war es die mit nicht viel mehr als Microsoft Paint erzeugte Visage, die als „Trashface“ zu bezeichnen sich aus diversen Gründen anbietet, in der PlayStation-2-Werbung war es die unscharf eingestellte, das damalige Firmenmotto „Welcome to the Third Place“ eklatant auslebende Mumie (vgl. YOLO) – und in der aktuellen Lieferung von Twin Peaks schließlich ist es … tja, die Auswahl ist reichhaltig, aber wir entscheiden uns nicht für das drastische Driwwer-Bäumchen mit dem gelbstichigen Plastilin-Trollface und auch nicht für den Gigamord durch Wangenknochenmassage, sondern für jenen gräulich-weißlichen Ruckelschemen, der sich in einem zuvor dunkel gewordenen Glasbehälter abzeichnet und anschließend als akuter Horrorwirbel ein junges Liebespärchen leichenhausreif raspelt. Erst kurz vorher erklärte nämlich der Mann seiner neugierigen Gefährtin nicht ohne einen Schuss jugendliche Arroganz, dass es seine Aufgabe sei, den berüchtigten Wunderkasten, Teil einer metaphysikalischen Enigmahrschaltung, zu beobachten, da darin angeblich etwas erscheinen könnte. Der umwerfend monströse Verweis auf die Tatsache, dass sein Vorgänger eine nicht weiter spezifizierte – wo „Lynch“ draufsteht, ist nicht zuletzt auch unaussprechliches Andeutungsgrauen drin – Emergenz erfahren durfte bzw. musste, bereitet den Zuschauer nur unzureichend auf das kurze, aber präzise Inferno vor, das zu unterschätzen sich nicht schickt. Bei genauerer Analyse der Unbegreiflichkeitsstruktur des dämonischen Aggressors fallen wieder die anspruchslos anmutenden Spezialeffekte auf, der Gruselzyklon ist in seiner diffusen Bewegung durchaus prim und hat gar etwas von den mühseligen Fernseh-CGI von 1997 – aber das macht die Sache nur noch schlimmer.
Konzentrieren wir uns nun ganz und gar auf die Errungenschaften der Glaskastenschwebung, um mit ihrer Intensität besser fertigzuwerden. Es handelt sich hier um eine vage, blasse, tendenziell antihumane Kreatur: etwas. Zu erkennen ist ein nackter, möglicherweise geschlechtsloser Körper/Geist, das Gesicht ist bestenfalls angedeutet, die Konturen sind unscharf, zittrig, transient, offenbar eine biologische wie physikalische Widernatürlichkeit. Ein gespenstisches Unwesen also, das unbekannten Gesetzen (falls überhaupt) zu gehorchen scheint, die zu begreifen uns nicht zusteht. Selbst wenn wir die stark erhöhte Bewegungs-, Stoffwechsel- oder ganz allgemein Daseinsgeschwindigkeit hinnähmen, so wäre noch immer nicht bekannt, was der Grund für die Zitterpartie – eine weitere Reverenz vor dem „creepy torso“-Stilbildner aus Jacob’s Ladder – ist. Levitation, ebenfalls ein renommiertes Merkmal von Widersinn, zumal die Leugnung der Schwerkraft selbst masselosen Pharaonen nicht vergönnt ist, kann als Ausdruck des Wunderbaren, aber auch Widerlichen zu deuten sein. Die mit den klassisch Twin-Peak’schen Invert-Sounds einhergehende Verdunkelung des kubischen Behälters lässt vermuten, dass die Schwärze des Raums der Fleischfond für das Bleed-over des megamalignen Hobelgeiers in unsere Realität zu sein scheint. Oder ist das Dunkel gar gasförmig, also eine Art Schwarzer Rauch, wie wir ihn bei Lost kennen und aufarbeiten gelernt haben? Die Finsternis bzw. Schwärze als furchtbarer Boden für Alptraumhaftes ist selbstverständlich ein Archetopos – unser Universum mit den unzähligen Konkreta und Abstrakta darin funktioniert nach ebendiesem Prinzip. Das Glaskasten-Event ist wohl nichts anderes als eine weitere Manifestation der Höllendimension, wie es Bad Boy Bobby, die Schwarze Hütte und die roten Vorhänge sind. Die Jenseitigkeiten der Unterwelt sind nun mal so viel mehr als ein gehörnter, ggf. mit Monsterpeniß aufwartender Satan.
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Die seelenvolle Seltsamkeit der Neunziger mag hin sein, der Kirschkuchenfetisch fühlt sich nicht allzu wohl in seiner neuen Haut, dafür aber ist das unselige 2017er-Strangeologos auf 11 gedreht. Erfreulich zu sehen, dass Lynch endlich die volle Transformations- und Wunderkammerpower des Roten Raums, Holodeck für Visiardäre, realisiert. Während in den ersten beiden Staffeln die Black Lodge mit ihren Bizarro-Eicheln – erst jetzt wird es unmissverständlich deutlich – doch etwas zurückhaltend war, erblüht in den neuen Folgen ein richtiger So-was-von-Abseitiger. Natürlich sei hier nicht zuletzt der modernen EDV gedankt, die unzählige ?¿-Hämmer relativ unaufwändig ermöglicht.
Von weird zu warmherzig, von silly bis chilly, von Hypersentimentalität nach Ultragewalt in Sekunden – hier regiert die totale Alles-ist-Möglichkeit: Eine massiv stressige Hupszene ebnet Chillout-WTF den Weg. Michael Rühl zelebriert einen abstrusen Brando-Pastiche, während Evil Coup den wohl safidalsten Telefonanruf aller Zeiten (vgl. Nina Myers’ Was-hast-du-getan!?!-Fernmanipulation in 24) tätigt. Inadäquate Emotionen treffen auf Traum-Frau Monica Bellucci, missratener Stagnationsabfuck heiratet Audrey Horne (nicht die Band) mitsamt ihrem offenbar ausdiskutierischen Homunculus von Ehemann. Tammys Laszivität vs. Bossbrei vs. Franz-Kafka-Plakat vs. schwarze Weltenvortices vs. Auch Pfriem-Zwerge haben eine Vorliebe für Auftragskills vs. instabile Tulpa-Shakur-Doppelgänger, die als Schläfer rekrutiert, aktiviert und anschließend gen Jenseits beyond verworfen werden, wobei noch etwas minderwertig animierter schwarzer Rauch und ein güldenes Bällchen als Single-Auskopplung übrig bleiben … Manchmal liegt die Überraschung aber auch darin, wie offensichtlich-straight einige Gegebenheiten sind. So überrascht es kaum, dass der gutartige Andy als Einziger die White Lodge betreten darf, um vom Akromegalieschen über die schutzwürdige, da benigne Augenlosigkeit der zärtlich klickenden Asiatante instruiert zu werden.
Das Schauspiel ist teilweise so hölzern (woody Aliens der Obdachlosigkeit lassen indezent grüßen), die Dialoge so künstlich und die Dramaturgie so knifflig, dass es eine wahre Freu/mde ist. Hauptgericht, Beilage und Nachspeise hören allesamt auf den Namen Seltsamkai. Manchmal ist es primär Schrulle, etwa wenn Mindy allen Ernstes durch das Konzept des Mobiltelefons ziemlich wörtlich aus den Socken gehashtagt wird. Ein andermal ist es die erstaunlich alberne und vor allem langwierige Wir-habens-langsam-kapiert-Comedykiste, in die Agent Ex-Cooper, nunmehr Dougie „Goldkügelchen“ Jones, gasförmig-enthirnt aus der Steckdose strömt, nachdem er via Stromwelt (vgl. Egner: „Die Elektrizität ist, wie zuvor schon die Ventilatoren, mit Seltsamkeits aufgeladen.“) in die sog. Realität gesogen wurde, nicht ohne dabei Schuhwerk und Persönlichkeit einzubüßen. Kognitiv unbelastet stolpiert er durch die Berufs- und Lebenswelt seines arglosen Avatars, gewinnt mithilfe seiner größtenteils aus der Spiegelung der jeweils letzten zwei bis drei Worte des Gegenübers bestehenden Kommunikationskunst neue Freunde und weiß sogar gestörte Diagramme hinzukritzeln, die sich als überraschend sinnhaft herausstellen.
Es dominiert aber natürlich jene Seltsamkeitsart, für die Lynch am meisten verehrt bzw. verhasst wird: inspirierend kühne, unauflösbare Kryptoschlimmären, deren Puzzle-Teile, einmal über das Rezipientenhirn geschoben, kurz ineinandergreifen, nur um im letzten Moment durch das Herausschnellenlassen einer ultravioletten Tierzunge zu kastrieren. Daher gehört zu den Höhepunkten der Serie bzw. der gesamten Fernsehgeschichte definitiv Folge 8, die nicht nur mit einem NIN-Cameo, sondern auch mit übelster Got-a-lighter-Logik punktet: In der ersten Atomexplosion in Los Alamos wird das Böse geboren, das übrigens ein wenig an den Raspelknut vom Anfang erinnert – und Bob der Gaumeister ist mit von der Partie. Sogleich wird von einer höchst suigenerischen Wächter-Instanz die inzwischen durchmythifizierte Laura Palmer als ein Antidot zu den Dres. Evils dieser Welt in der Existenz installiert. Nachdem ein fachmännisch, jedoch fehlerhaft manipulierter Zeitstrahl nach hinten losgeht, endet Twin Peaks: The Return (scheinbar) in unserer Realität, fernab von Magie und Seltsamkeitssupremat, alles wirkt naturalistisch, banalltäglich, Rohei ’n’ Ödion – doch dann geschieht noch ein finaler Mind-Glupscher …
Quelle: YouTube
Jedenfalls ist Lynch für das „Weird/Bizarro“-Genre in etwa dasselbe wie The Raid für Action, Kung Fury für Comedy, Tony Soprano für die Gattung „Homo sauens mit sympathisch-soziopathischen Anwandlungen“, Watchtower für Prog Metal, Dalí für „Hat wirklich noch nie jemand zuvor an weiche Uhren gedacht?“, Beavis für Neurose, Butthead für zahnfleischbasierte Arschgesichter, D. P. Schreber für Mehlhäuphrenie, Banane für Krümmung, „Alma Mater“ für Bildungsbürger, Studenten für Bierchen, Bällchen & Bude, was für Nullen, Nullen für Computer, Einszehn für Iven, russische Oligarchen für Gold, Danielewski für ■, Einstein für Genialität, Mozart für Genialität, Stephan Hawking für Sprachausgabe, „Triologie“ für Rechtschreibung, Tarantino für Fußfetisch, Nazis für Star Wars, Ufos für Verschwörungstheoretiker, Daniel Ableev für Ganz-vorne-im-Klassenbuch (gleich nach den AAA-Batterien), Descartes für Skepsis, Uranus für Höhöhö, Rauchen für Verbote, 608/609 für Gielgen, Elon Musk für MAGs (multipel ambitionierte Genies), Apple für Hipster, Laser für Akronyme, Bonn für Wortspiele, Matrix für Parodieoverkill, Hellboy für Asymmetrie, Symmetrie für Quantenphysik, Quantenphysik für die Wiedervereinigung von Naturwissenschaft und Philosophie, Philo für Sofie, Lichtgeschwindigkeit für Konstanz, Konstanz für Ferdinand von Zeppelin, Zeppelin für den Rock, Rollins für Henry, Heath Ledger für Bleistift-Gags, Christopher Nolan für schwächelnde Dialoge, M. Night Shyamalan für Pointenhuberei, Bruce Willis für Glatzencoolheit, Glatzencoolheit für Vin Diesel, Vin Diesel für Monosyllaba, Lars von Trier für Enfants terribles, Nymphomaniac für die Fingernägelschneidreihenfolge, Joe Pesci für Giftzwerge, Douglas Hofstadter für Interdisziplinarität, Charles Darwin für Evolution, Evolution für Revolution, Helge Schneider für Impromptu-Kniffel, Jonathan Basile für Selectronik, Fails für Compilations, Spın̈al Tap für Metal-Umlauts, Muschel & Blasi für SEK, Flüchtlinge für DaF-Zertifizierung, DaF-Zertifizierung für arbeitslose Geisteswissenschaftler, Matthew Barney für Bienen-Drumsoli, David Blair für Bienen-TV, Carmina Burana für Filmtrailer […]
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Kommen wir nun aber zum „Schimmel im Wohnzimmer“ – Safidalität? Das Groteske ist ein Spektrum: Am einen, harmlosen Ende finden sich einfache Übertreibungen wie die Aussage von Steve Coogans Phileas Fogg in Around the World in 80 Days, worin er die Bezichtigung, eine Bank ausgeraubt zu haben, als „grotesken“ Vorwurf abtut [exaktes Zitat suchen]. Es folgen diverse Skurrilitäten in Form von Zeichentrickfilmen, Monty Pythonetc. Irgendwo in der Mitte des genannten Spektrums strolchen Zombies, Vampire, Werwölfe und dergleichen, keinesfalls ununheimliche Kreaturen, die jedoch selten jene ausschlaggebende Grenze zur Unfasslichkeit erreichen oder gar überschreiten. Eben hinter jener Grenze aber beginnt die Kühnigsdisziplin der Weird Fiction, die die Lovecrafts, Ligottis, Egners, Cronenbergs und natürlich David Lynchs dieser Welt – knallharte Safidalisten eben – beheimatet. Safidales kann durchaus mit Physis, Mutation und ähnlich „Profanem“ zu tun haben (vgl. etwa Tim Burton, Guillermo del Toro, Michail Bachtin usw.), aber der bedeutendste Konstitutionsfaktor von Safidalität ist der Unbegreiflichkeitsterror, der Unvorhersagbarkeitsschock, der dissonante Kogelton angesichts von Hybridisierungsprozessen, die aufgrund inkompatibler Substrate eigentlich zum Scheitern verurteilt sind – doch was, wenn das Scheitern misslingt? Safidal ist jede noch so subtile, raffinierte, ephemere Abartigkeit, die im Kern einer jeden Abstrusität steckt. Wahre Safidalität ist so extrem, dass sie den Rezipienten teilweise oder ganz vernichtet, weshalb selbst mächtige Vokabeln wie „grotesk“ oder „absurd“ nicht heftig genug sind.
Jede Kunstform kann die nötige Subversivitätsderbheit aufweisen, um einen Beitrag zur Weltsafidalität abzuliefern, so etwa Musik (Dead Can Dance, Technical Brutal Death Metal, Breakcore etc.) oder Literatur (Kenji Siratori, Daniil Charms etc.). Die meiste Safidalität findet sich aber in den visuellen Künsten. Wenn in Event Horizon Sam Neill ohne Augen antanzt, dann ist das grotesk, sobald er aber den Grund dafür nennt, warum Augenlosigkeit gar kein Problem sei, wird es safidal. In Philip Kaufmans Invasion of theBody Snatchers sind die Klon-Pods zweifellos grotesk, doch der gellende Schrei von Jack Bauer senior am Schluss ist eher safidal. Alien-Eier sind grotesk, aber die technologische Fremdartigkeit der Steuerkonsole im Raumschiff der Engineers ist safidal. In der Farscape-Folge „DNA Mad Scientist“ assimiliert Namtar zahlreiche Genotypen, um seine Fähigkeiten zu erweitern, was sicher grotesk ist (vgl. Syler in Heroes oder die Borg in Star Tarek – Türkisch für Anfänger) – ziemlich safidal wird es aber, als er am Ende sein gesamtes Skills-Akkumulat einbüßt und zu seiner durch die vielen Fort- und Weiterbildungsschichten getarnten Ausgangsform, nämlich einer Art debilen Ratte, zurückmutiert. Die diversen Zirkus-Mitarbeiter in Freaks sind grotesk, doch die Strafe, die man der fiesen Ex-Schönheit Cleopatra am Ende angedeihen lässt, ist doch ganz schön safidal. Die Verwandlung von Dr. Jonathan Osterman in Doctor Manhattan ist abnorm, doch seine Monumentalstrukturen auf dem Mars haben es faustdick hinter den safidalen Ohren.
In Enter the Void entführt uns Gaspard Noé in die safidale Welt der subatomaren Seelenquanten, in Requiem for a Dream zeigt sich der Kühlschrank von seiner safidalen Seite. Gore Verbinskis Ring ist reichlich safidal, der 2001er Monolith, der offenbar zu 108 Prozent aus Portalschwärze besteht, ist ebenfalls nicht ohne. Und wie stehts mit der transgressiven Kettensägend-aus-dem-Fenster-Szene in Brian De Palmas Scarface? War El Topo nicht auch ziemlich daneben? Und die Schlussszene von Taxidermia? Wenn aus Dr. Jekyll Hyde wird, dann ist das sicherlich grotesk, doch wäre es nicht safidal, wenn Hyde auch einen Doktortitel hätte? Begotten ist von vorne bis hinten safidal, ebenso das meiste von Chris Cunningham. Dark City ist nicht unsafidal, was vor allem imposant schwebenden Strukturwandlern in SMänteln geschuldet sein dürfte. Wie stehts aber mit Munchs Schrei? Sind die gewaltigen Metamorphosen in Carpenters The Thing safidal? Und John Carpenter selbst? Das Stacheldraht-Finale in Gans’ Silent Hill ist auch kein schlechter Kandidat, oder? Ist Pyramide Head safidaler als Donald Trump? Ist Funky Forest: The First Contact zu albern, um safidal zu sein, oder gilt das genau Umgekehrte? The Cell hatte einige visionäre Safidalitäten auf Lager. Hieronymus Bosch ist gewiss safidal, ebenso Francis Bacon. The Leftovers hat eine nicht unsafidale Prämisse, Picnic at Hanging Rock ebenso. Transfiguration, eine völlig safidale Performance von Olivier de Sagazan. Die erste Staffel von True Detective ist leider nicht safidal genug, dafür aber evtl. das Christmas-Special von Black Mirror mit seinen horrenden SF-Implikationen? Luther (mit Dris in der Hauptrolle) hat überraschenderweise ganz kurze Safidalitätsanflüge. Threshold. Resident Evil 4. Buffy the Vampire Slayer. Jam. Tim & Eric Awesome Show, Safidal Job. Wonder Showzen. Lexx. Killer7. Perfect Hair Forever. Uzumaki. Snuff Box. The Head. Xavier: Renegade Angel. Black Hole. The Eric André Show. 12 oz. Mouse. Diverse YouTube-Kanäle (cyriak, Cool 3D World) … nur um recht wahllos ein paar wenige Beispiele zu nennen.
Fakt bleibt: Jenes ungewisse Etwas, das Safidalität ermöglicht, war schon immer essenzieller Teil von David Lynchs weltbewegender Mythologie, die ihn stets in den allerhöchsten Sphären der Seltsamkeit operieren ließ. Mögen Comedy-Größen wie Martin Short (Jiminy Glick in Lalawood) oder Mike Myers (SNL) Lynch – zu Recht – für seine eindeutig lynchesken Visionen durch den Kakao mobben, am Ende muss man sich doch eingestehen: „You’ve been Lynch’d!“
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Und hier noch einige Filmtitelparodien, die es aufgrund von akuter Overthetopdidelung nicht in den Text geschafft haben:
Larry
Jacob’s Leggins
Symptomaniac
Monty Python Flying Hirnkuss
Evian Horizon
Alienne
Fartscape
Freaks & Greeks
Euter the Void
Bling
Sparface
El Popo
Taxidrivia
Begossen
Eine Kritik der Kritik zur Netflix-Serie Stranger Things: Ihr habt da was übersehen. Und es ist ziemlich laut.
Es ist von Gevatter Internet in sehr kurzer Zeit sehr viel gesagt worden zu Netflixens ultrastimmiger und gigagemütlicher Samstagabend-kocht-Mama-Pizza-und-Papa-trinkt-ausnahmsweise-nur-ein-Bier-Hommage an das geniale Kino und utopische Feeling der 80er (inkl. „Twin Peaks“ & „Under the Skin“). In ihrer überwiegend positiven analytischen Zerroppung des nicht zuletzt auch mit feinem Synth-Score (der perfekt designte, ominöse Vorspann ist vielleicht einer der besten aller Zeiten!) punktenden Phänomens haben die Kritiker bisher allerdings wenig Worte über Folgendes verloren:
Ein Großteil der Serie besteht aus Geschrei. So hat Joyce (Weinona Ryder), die Mutter des verschwundenen Jungen Will, ihre Hysterie überhaupt nicht unter Kontrolle. Sie schreit ihren Sohn an, der Sohn schreit zurück, sie möge sich beruhigen. Und Wills drei NerD&D-Freunde schreien entweder sich gegenseitig oder E11even (möglicherweise den einzigen Ruhepol der Serie) zusammen. Vor lauter Vorlautheit darf niemand einen Satz zu Ende sprechen, es wird übers Maul gefahren wie über die B9. Vor allem der mit Vorurteilen nur so um sich sch(m)eißende Lucas lässt gar niemanden ausreden und weiß eh alles besser, was eine ganz schöne Leistung ist, da Mike und Dustin, seine alles andere als konfliktscheuen Krawallkumpels, jeweils auch alles besser wissen.
Die insgesamt siebenundzwanzigmalklugen Kinder stellen aufgrund ihrer enthemmten Kommunikationsform somit ein dramaturgisches Unding dar, was der Erträglichkeit Abbruch tut. Bei so viel Gemenge wird einem das Hirn rasch gasförmig und entweicht ins Upside Down, wo es dann anstelle von Arsch auf Grundeis geht. Oder haben die Duffers lediglich versucht, das Trauma einer pathologisch dBilen Kindheit (Schnuller aus Megaphonbauteilen) aufzuarbeiten?
Quelle: YouTube
Und dass der an sich ganz nette, mit seiner Pädagogikbegeisterung relativ knallhart an der schulischen Realität vorbeiidealisierte Physiklehrer – nach „Event Horizon“ und „Interstellar“ – schon wieder ein metaphorisch gefaltetes, vierdimensionales Blatt Papier mit einem Stift durchstößt, ist irgendwie undufte. Ist wahrscheinlich als Reverenz vor erschreckend prätentiösen Wissenschaftlertypen gedacht, die ihr repressives Physikwissen mit jovialem Pathos für den albernen Arschlochamateur herunterbrechen.
Aber mal abgesehen von diesen umsetzungstechnischen Mängeln, die zumindest meine Nerven abzutöten vermögen, ist die Operation „Stranger Things“ gelungen – der Achtteiler ist immerhin ein schmuckes, herzlich collagiertes Zitatfeuerwerk mit schwerem Retroästhetik-Nostalgiefaktor und viel Liebe zum Detail. Und das Monsterdesign („Silent Hill“ und „Resident Evil“ lassen grüßen) ist auch schön grotesk geworden.
Zu Beginn der ersten Staffel wurden Game of Thrones häufig frauenfeindliche Darstellungen vorgeworfen. Ein paar Staffeln später wurde die Serie bereits für seine Zeichnung komplexer weiblicher Charaktere als feministischer Beitrag gelobt. Liegt der Grund dafür in einem Generationswechsel der Königshäuser von Westeros und Essos, mit dem Emanzipation einiger selbst- und machtbewusster Frauen einhergeht? Betrachten wir den Aufstieg der Daenerys Targaryen mal aus feministischer und filmhistorischer Perspektive.
ein Gastbeitrag von Kerstin Bass
Redaktioneller Hinweis: Es sei ein Spoiler-Alert ausgesprochen, der sich auf Inhalte der ersten vier Staffeln von Game of Thrones bezieht. Zum Verständnis dieses Textes und um auf dem Schulhof mitreden zu können, wird empfohlen, diese vorher anzusehen.
“All men must die. But we are not men.”
Als Frau in Westeros zu leben, kann sicherlich sehr angenehm sein, wenn man sich seiner zugeteilten Rolle fügt. Doch gerade in George R. R. Martins Romanzyklus gibt es viele weibliche Hauptcharaktere, die sich mit ihrer Positionierung in der Gesellschaft nicht zufrieden geben. Sei es nun Brienne, die unbedingt ein Ritter sein möchte und mit den Gepflogenheiten einer Lady nur wenig anfangen kann, Arya, die in ihren jungen Jahren bereits besser Bogenschießen kann als ihre älteren Brüder und dennoch zum Sticken und Nähen verdonnert wird oder Daenerys, die zunächst von ihrem Bruder für eine Armee verkauft wird und durch mehrere extreme Ereignisse selbst in eine Führungsposition gelangt. All diese Frauen haben sich in ihrem festgelegten, gesellschaftlichen System, in welchem ihre Handlungsräume auf die Rollenzuteilung und die hierarchische Einordnung beschränkt sind, neue Handlungsräume eröffnet.
Dass sich durch dieses Schaffen von Handlungsräumen die Charaktere in gewisser Weise selbst verwirklichen können, ist auf den ersten Blick der prägnanteste positive Aspekt. Doch mit dieser Unabhängigkeit und dem Widerstand gegen die Machtstrukturen in Westeros erfolgt auch eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft und das Ausstellen solcher Frauen als monströse Ausnahmeerscheinungen. Eine grundlegende Herausforderung, der sie begegnen müssen, ist die starke religiöse Prägung der Gesellschaft, in der sie leben, die entscheidende Verantwortung für die repressiven Rollenbilder trägt, gegen die sie ankämpfen müssen. Wollen wir die Serie im Wertekontext der Gesellschaft bewerten, die sie produziert hat, so dürfen wir dennoch zunächst nicht den intradiegetischen Wertekontext der Welt aus den Augen verlieren, in der sie spielt.
Religion und Rollenvorbilder im „Faith of the Seven“
Die Religion „the Faith of the Seven“ bietet eine der vielen Möglichkeiten, Handlungsfelder zu strukturieren und die dauerhaften Machtstrukturen der Serienwelt nachzuvollziehen, gegen die diverse weibliche Hauptcharaktere sich auflehnen. Sie ist die vorherrschende Religion in Martins Universum und kann ähnlich dem starken Einfluss der christlichen Religion auf den europäischen Raum im Mittelalter positioniert werden. Martin etabliert im Laufe seiner Erzählung noch zahlreiche weitere Religionen, dennoch ist „the Faith of the Seven“ die prominenteste in weiten Teilen von Westeros. Es ist eine monotheistische Religion, deren einer Gott sieben Gesichter aufweist. Diese sind unterschiedlich charakterisiert und stehen als Rollenvorbilder für das Gute. Will man das Böse daraus ableiten, so findet man es außerhalb dieser Figuration, nicht innerhalb: Boshaft sind demnach nur diejenigen, die nach ihrem freien Willen handeln, außerhalb der Vorgaben dieser Religion. In diesen sieben Gesichtern sind Rollenzuteilungen für alle gläubigen Männer und Frauen streng festgelegt. Martin schreibt in „A Clash of Kings“:
“Catelyn studied the faces. The Father was bearded, as ever. The Mother smiled, loving and protective. The Warrior had his sword sketched in beneath his face, the Smith his hammer. The Maid was beautiful, the Crone wizened and wise. And the seventh face … the Stranger was neither male nor female, yet both, ever the outcast, the wanderer from far places, less and more than a human, unknown and unknowable.”
George R. R. Martin: A Clash of Kings: 495 ff.
Teilen wir die Sieben geschlechterspezifisch auf, haben wir auf der Seite der Männer den Vater, den Krieger und den Schmied und auf der Seite der Frauen die Mutter, das Mädchen und das alte Weib. Betrachtet man die im Zitat hinzugefügten Eigenschaften, so erkennen wir, dass den männlichen Gesichtern (Schmied und Krieger) eindeutige Professionen oder Berufe zugeschrieben werden, während man auf der weiblichen Seite keinerlei solcher Hinweise findet. Eben dieser Vergleich zeigt bereits, wie die Hierarchie und Rollenverteilung in Westeros funktioniert. Männlichkeit wird mit dem Aktiven, Kriegerischen und Handwerklichen verbunden, während der Frau der familiäre, passive und unterstützende Part zugeschrieben wird. Mädchen beispielsweise haben keine andere Eigenschaft, als dass sie schön sind. Weder Mann noch Frau haben eine freie Wahl, in welcher Weise oder ob sie sich überhaupt einordnen wollen. Hierarchisch gesehen stehen laut dieser Ordnung die Frauen als passiver Part immer in Abhängigkeit zum aktiven männlichen Part, was ihre Handlungsräume stark strukturiert und einschränkt.
Dies steht konträr zu den Grundgedanken feministischer Theorien, wird in ihnen die Macht der Frau als Selbstbestimmung außerhalb von geschlechterspezifisch zugeteilten Rollen und kulturellen Codices verstanden. Eine Betrachtung der vorherrschenden Religion soll hier nur beispielhaft für diverse Faktoren angeführt werden, auf welchen andere hierarchische Aspekte basieren, durch die auf die weiblichen Hauptcharaktere in Game of Thrones Macht ausgeübt wird. Das Machtgefüge von Westeros, in dem sich primär alles um das Erlangen des eisernen Throns dreht, ist folglich eines, in welchem Frauen als freie Subjekte in ihren Handlungsräumen eingeschränkt werden und dadurch für sie die Macht, auf dem eiserenen Thron zu sitzen und somit Herrscherin über die „Seven Kingdoms“ zu sein, ebenso unwirklich scheint, wie die Macht, allein über sich selbst und die eigene Positionierung in der Gesellschaft zu entscheiden.
Ebenfalls beispielhaft soll nun im Serienkontext ein besonderes Gewaltmittel zur Unterdrückung von Frauen untersucht werden, das nicht nur im Fortgang der Geschichte der Seven Kingdoms, sondern auch in der Filmhistorie ein zentraler Aspekt in der Darstellung von Frauen ist: sexuelle Gewalt. An ihnen lässt sich die besondere Stellung Daenerys Targaryens bemessen, die diese nicht nur gegenüber den religiösen Rollenbildern ihres eigenen Kosmos, sondern auch gegenüber filmischen Rollenvorbildern einnimmt.
Vergewaltigungen, Transformation und die Machtergreifung der Frau
Im Machtsystem von Westeros wie auch in Essos ist sexuelle Gewalt ein sehr zentraler Aspekt. Der Akt einer Vergewaltigung ist eine Gefahr, die für viele der weiblichen Charaktere omnipräsent ist und die gewalttätige Dominanz des Mannes über die Frau verdeutlicht. Sansa wird während eines Aufstands des Volkes fast vergewaltigt, Brienne wird von Jamie Lannister vor einer Vergewaltigung bewahrt, Arya muss sich nach dem Tod ihres Vaters als Junge verkleiden, um Vergewaltigungen zu vermeiden und Daenerys wird sowohl von ihrem Bruder sexuell belästigt, als auch von ihrem Ehemann, mit welchem sie zwangsverheiratet wurde, vermeintlich vergewaltigt.
Dabei wird häufig in Bezug auf die HBO-Serie diskutiert, dass die Darstellung vom Missbrauch an Frauen als Unterhaltung gehandelt und somit legitimiert wird. Tatsächlich stellt sich hierbei nicht die Frage nach einer frauenfeindlichen Inszenierung als Unterhaltung. Vielmehr sollte hierbei beachtet werden, dass diese Omnipräsenz einer Gefahr der Vergewaltigung zusätzlich zu den strengen Rollenverteilungen die Handlungsräume der weiblichen Charaktere einschränkt oder bestimmt. Zusätzlich kann sie jedoch auch eine Transformation der Charaktere antreiben, welche wiederum ein wichtiger Bestandteil der Charakterentwicklung ist. Beispielsweise kostümieren sich Arya und Brienne, nehmen andere Identitäten und andere Rollenverteilungen an und Daenerys transformiert sich durch das Feuer zur „Mother of Dragons“. Eine ähnliche Entwicklung kennt man aus Plotstrukturen des Rape-Revenge-Genres. Hierbei erfolgt bei den weiblichen Charakteren nach dem Gewaltakt ebenfalls eine Transformation, die meistens äußerlich festzustellen ist.
Girls with Guns in Game of Thrones?
Julia Reifenberger, die das Genre in ihrem Buch Girls with Guns – Rape & Revenge Movies analysiert, stellt bloß, dass die Entwicklung vom Opfer zum Täter in den Filmen häufig eine bestimmte Monstrosität in Bezug auf den weiblichen Rächer und Bedrohung gegenüber dem vorherrschenden männerdominierten gesellschaftlichen System mit sich zieht. Keinesfalls kann man dieses Inszenierungsmuster vollkommen, einer Schablone ähnlich, über die weiblichen Charaktere aus A Song of Ice and Fire übertragen. Jedoch sind einige signifikante Parallelen zu erkennen. Bei Seriencharakteren, die sich Handlungsräume schaffen, können wir oft die Beschreibung und Inszenierung einer bestimmten Hässlichkeit oder gar Monstrosität erkennen. Ebenso wie sich im Rape-Revenge-Genre das Opfer gegen die männliche Dominanz wehrt und weiter sogar Rache an den Tätern ausübt, so sehen wir auch an Charakteren wie Brienne und Arya nicht nur einen Widerstand gegenüber eines dominierenden männlichen Geschlechts, sondern auch starke Tendenzen zu Rachegelüsten. Lady Brienne etwa schwört Rache, nachdem Renly getötet wurde, und Arya fokussiert sich auf die Rache als ihre zentrale Agenda und wiederholt jede Nacht die Namen aller, an denen sie Rache nehmen will.
Besonders bemerkenswert ist, dass hierbei von einem Verlust der Unschuld durch die Taten anderer gesprochen wird. Es geht folglich ebenso wie im Rape-Revenge-Film um einen Verlust einer Unschuld oder auch Kindlichkeit, welcher dann in einer Transformation des Charakters zu einer tödlichen Rächerin mündet. Während sich Arya im späteren Handlungsverlauf dann nach Bravos begibt, um sich als Assassine ausbilden zu lassen und sich aus den Machtstrukturen herausnimmt, geht Daenerys anders mit dem Verlust ihrer Kindlichkeit und Unschuld um.
Daenerys‘ Zwangsvermählung. Ausgang eines Rape-and-Revenge-Schemas?
In der kompletten ersten Episode sehen wir Daenerys passiv gegenüber Männern – und eine starke Ausstellung ihres Körpers. Auf den ersten Blick sehen wir sie so inszeniert, wie die feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey den männlichen Blick beschreibt: nämlich indem die Inszenierung einer Codierung des Erotischen in die Sprache der dominanten patriarchalen Ordnung folgt, was eine Objektifizierung der Frau als zu betrachtendes Objekt verursacht, in welches männliche Fantasien projiziert werden. Doch bei genauerer Untersuchung wird sichtbar, dass Daenerys die Figur ist, aus deren Blickachse wir die Geschehnisse betrachten. Ein weiterer Aspekt ist, dass extensive Kamerafahrten, die über ihren Körper fahren, sehr selten mit der Blickachse von männlichen Protagonisten verknüpft werden. Als Khal Drogo sie in einer späteren Sequenz begutachtet, sehen wir Daenerys in einem semi-transparenten Kleid zusammen mit Viserys vor dem Eingang eines Gebäudes stehend. Khal Drogo kommt mit ein paar weiteren Männern seines Volkes angeritten um die Brautschau zu vollziehen.
Die komplette Szene verfolgen wir mit Point-of-View-Aufnahmen oder Eye-line Matches, welche mit Daenerys’ Blick verknüpft sind. Des Weiteren sehen wir häufig in Szenen, in denen Daenerys mit männlichen Charakteren interagiert, eine Art der Inszenierung, wo die Kamera auf ihrer Blickebene verweilt und die Männer, die allesamt größer als sie sind, insbesondere in halbnahen Einstellungen aus dem Kader herausragen. Daenerys ist folglich trotz ihres zunächst passiven Verhaltens stets das Zentrum des Kamerablicks, um welches sich alle anderen Positionen konstruieren.
Verschleppung zum Dothrakischen Meer
Auf der Ebene des Blickes des Charakters finden wir folglich in den meisten Fällen einen weiblichen Blick, da dieser eng mit Daenerys verknüpft ist. Betrachten wir die Inszenierung von Drogo und den Dothraki, können wir zudem eine weitere Parallele zum Rape-Revenge-Genre entdecken. Carol J. Clover nennt dies in ihrem Buch Men, Women, and Chain Saws den „double-axis revenge plot“, in welchem eine doppelte Plotachse zwischen dem Opfer und dem Täter und auch der Stadt gegen das Land etabliert wird. Die Stadt/Land-Achse des Plots bezeichnet dabei häufig einen Besuch oder Umzug von einem urbanen oder suburbanen Charakter aufs Land. Der Städterin sind dabei die Menschen auf Land und ihre Lebensstandards nicht nur fremd, sondern sogar bedrohlich. Clover schreibt hierzu:
„People from the city are people like us. People from the country […] are people not like us.“
Eine ähnliche Struktur finden wir auch bei Daenerys, welche im Grunde genommen von der Stadt Pentos aufs Land in ein Nomadenvolk verheiratet wird. Dass dieses Volk auf sie beängstigend wirkt, sehen wir in der Hochzeitssequenz, in welcher sie mit Khal Drogo verheiratet wird. Wir sehen zahlreiche Aufnahmen von Sitten, Gebräuchen, exotischen Tänzen, welche durchsetzt sind von Aufnahmen von Daenerys’ schockierten und ängstlichen Blicken. Erneut folgen wir hier auf der Charakterebene einem weiblichen Blick und zusätzlich wird dieser durch establishing shots und Kamerafahrten durch die Veranstaltung mit dem Zuschauerblick verknüpft. Anhand dieser Beispiele sehen wir folglich, dass die Inszenierung von Daenerys in großen Teilen auf die Inszenierungsmuster der Rape-Revenge-Films zurückgreift, dabei einen überwiegend weiblichen Blick verfolgt, wodurch wiederrum Daenerys trotz passiver Haltung zu den anwesenden männlichen Charakteren, als „gaze holder“ eine aktive Position einnimmt. Aus dieser passiven Haltung gegenüber Männern und der unfreiwilligen Hochzeitsnacht mit Khal Drogo entwickelt sich der Charakter Daenerys von einer kindlichen Braut hin zur ersten weiblichen Führerin eines eigenen Nomadenvolkes.
Die Machtergreifung der Mother of Dragons
Die erste Staffel über gelingt es ihr schließlich, sich mit der Zwangshochzeit und ihrem Ehemann zu arrangieren, mehr noch Gefallen an dem Leben an seiner Seite zu finden, sich aus den Befehlen von Viserys zu befreien und eine eigene Agenda als Anführerin an der Seite Drogos zu entwickeln. Am Ende Staffel schafft sie es zudem, durch den plötzlichen Tod Drogos und dessen Feuerbestattung, drei Dracheneier, welche ihre Hochzeitsgeschenke waren, zum Leben zu erwecken und schlüpfen zu lassen, sodass sie fortan die einzigen lebenden Drachen in ihrer Obhut hat. Ab diesem Zeitpunkt beginnt sie eine beschwerliche Reise, in welcher sie versucht, sich eine Armee aufzubauen um nach Kings Landing zurück zu kehren und selbst den eisernen Thron zu besteigen. In ihrem Buch Power and Feminism in Westeros stellt Spector auf diese Entwicklung fest:
„As she gathers her army together, Daenerys begins to sacrifice aspects of her personality. She becomes harder and less compassionate, her choices less personal. A sweetness that she had at the beginning of the series is slowly burning away as she becomes more and more powerful.“
Betrachten wir nun diese Punkte und Inszenierungsweise und verknüpfen diese auf dieselbe Weise, wie es zuvor mit den anderen weiblichen Charakteren geschehen ist, können wir erkennen, dass Daenerys’ Einführung und Positionierung der von Sansa sehr ähnlich ist. Beide werden als Mädchen verheiratet und dabei auf ihren Körper reduziert. Im Gegensatz zu Sansa gibt sich Daenerys dem jedoch nicht kampflos hin, sondern versucht, ihren enorm eingeschränkten Handlungsraum zu erweitern. Durch die sehr stark der Inszenierungsweise des Rape-Revenge-Films ähnelnden Darstellung, können wir bereits erkennen, dass aus dem dominanten Verhalten der männlichen Protagonisten gegenüber Daenerys eine Transformation dieser vom Passiven ins Aktive stattfinden wird.
Quelle: YouTube
Daenerys rächt sich zwar nicht direkt in Bezug auf einzelne Personen, jedoch widerstrebt auch sie den Machtbeziehungen Westeros’ und dies in einer so extremen Weise, dass sie durch das Aufbauen einer Gefolgschaft und einer Armee nicht nur ihre eigene Agenda entwickelt, sondern zusätzlich auch ihr eigenes Machtsystem konstruiert, welches nicht mit dem vorgegebenen patriarchalen System Westeros’ übereinstimmt. Daenerys wird vom unterdrückten, handelnden Subjekt zu einer machtausübenden Instanz. Sie wird zu einer Führungsperson, welche versucht, mit bestem Gewissen ein Volk zu führen. Wir sehen folglich, dass Daenerys sich nicht nur in die Lage versetzt, ihren eigenen Handlungsraum zu strukturieren, sondern auch die Führung und damit die Strukturierung der Handlungsräume anderer übernimmt. Dabei setzt sie sich selbst als Frau nicht in den Vergleich zu Männern, indem sie im Gespräch mit einer anderen Frau betont:
„All men must die. But we are not men.“
Mother of a new feminism?
Trotz ihrer stark körperzentrierten und sexualisierten Inszenierung ist Daenerys durchaus in der Lage, eine Führungsperson zu verkörpern, welche sich nicht gezielt gegen die Männerwelt durchsetzt, sondern sich selbst erst gar nicht in einem Vergleich dazu positioniert. Dabei schafft sie es, sich gegen die Machtverhältnisse sowohl der des „Faith of the Seven“ als auch der Dothraki-Gesellschaft durchzusetzen, in denen sie als Frau unterdrückt wird um einen selbstbestimmten Weg zur Macht zu finden. Was beim Rape-Revenge-Genre darin endet, dass die unterdrückte und dominierte Frau selbst zum gewaltsamen Täter wird und somit in ständigem Vergleich zu ihren männlichen Tätern steht, verhält es sich in Game of Thrones anders, da man bei Daenerys etwa nur schwer von einer direkten Täterschaft der Charaktere sprechen kann. Sie rächt sich nicht direkt, wird jedoch, als sie Sklaventreibern dasselbe antut, was diese ihren Sklaven antaten, mit einer ähnlichen Opfer-Täter-Thematik konfrontiert.
Betrachtet man hierzu noch den Kommentar von Sarah Clarke Stuart, dass in es Fernsehserien zwei Tendenzen für starke weibliche Charaktere gibt, die Burschikose und die Verführerin, können wir feststellen, dass eine solche Einteilung im Falle von Daenerys völlig unzulänglich ist, aber auch generell nicht der Komplexität weiblicher Charaktere in Game of Thrones gerecht wird. Dies eröffnet nicht zuletzt einen wichtigen Diskurs, nämlich, dass starke Frauen, nicht wie im Rape-Revenge-Genre erst zum Täter werden müssen um sich zu emanzipieren, sondern sich nach diesem Modell außerhalb eines Vergleichs zwischen Mann und Frau eigene Handlungsräume erschließen müssen.
Literatur:
Clarke Stuart, Sarah: Into the Looking Glass – Exploring the Worlds of Fringe, CDN 2011.
Clover, Carol J.: Men, Women, and Chain Saws – Gender in the Modern Horror Film, USA 1992.
Martin, George R.R.: A Clash of Kings, USA 2005.
Mulvey, Laura: visual and other pleasures, USA 2009.
Spector, Caroline: “Power and Feminism in Westeros”, in James Lowder (Hrsg.): Beyond the Wall – Exploring George R. R. Martins A Song of Ice and Fire, USA 2012, 169-188.
Reifenberger Julia: Girls with Guns – Rape & Revenge Movies: Radikalfeministische Ermächtigungsfantasien?, D 2013.
Kerstin Bass absolvierte 2012 ihren Bachelor an der Freien Universität Berlin. Dort belegte sie Filmwissenschaft im Kernfach und Publizistik und Kommunikationswissenschaften im Nebenfach. Im März 2013 begann Kerstin ihren Masterstudiengang im Fach Filmwissenschaft. Ihr primäres Forschungsinteresse liegt im digitalen Kino sowie dem Horrorfilm und dem asiatischen Kino. Besonders faszinierend an filmwissenschaftlichen Methoden findet sie die Identifikation von Blickkonstruktionen, Farbwirkung und die Filmrhetorik. In ihrer Freizeit findet man sie öfters vor diversen Spielekonsolen, im Kino, auf Konzerten oder mit einem guten Buch oder Manga in der Hand.
Das Neo Magazin Royale vom 31. März 2016 war ein paar Minuten kürzer als die anderen Folgen dieser Unterhaltungssendung. Was ist der Grund für diese Unregelmäßigkeit in dem ansonsten so professionell durchgeplanten Produkt? Die Beschwerde des türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, der offenbar mit seinen politischen Aufgaben nicht ausgelastet ist und noch Zeit hat, nachts durchs globale TV-Programm zu zappen.
„Der Boss vom Bosporus“
Recep Tayyip Erdoğan schaut zwar viel fern, aber er lacht nicht gern. Schon gar nicht über sich selbst. Der mächtigste Mann in ganz Eurasien kontrolliert den sogenannten Flüchtlingsstrom, der flussabwärts Richtung Mitteleuropa fließt und er ist seit Neusten auch der stellvertretende Programmchef der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Deutschland. Zum ersten Mal machte er von seiner Macht Gebrauch, nachdem am 17. März 2016 das NDR-Satiremagazin extra 3 einen Song mit dem Titel „Erdowie, Erdowo, Erdogan“ ausstrahlte. Erdoğan ließ daraufhin den deutschen Botschafter in das türkische Außenministerium bestellen und verlangte von diesem, dass die Bundesregierung die weitere Verbreitung des Satire-Songs verhindert. Es handelt sich um dieses Video hier:
Quelle: YouTube
Erdoğan bestätigte dadurch den Inhalt des Liedes, in dem behauptet wird, dass „der Boss vom Bosporus“ Presse- und Meinungsfreiheit missachte. In der deutschen Presse entbrannte eine hitzige Debatte darüber, was Satire darf (#witzefrei) und wie weitreichend die Befugnisse von Erdoğan sind. Diese Debatte und Erdoğans undemokratisches Verhalten waren dann der Anlass für Jan Böhmermanns Schmähkritik im besagten Neo Magazin Royale am 31. März. Auch hier wurde Erdoğan aktiv und verlangte von der Bundeskanzlerin höchstpersönlich, dass der entsprechende Teil dieser Sendung aus ‚dem Internet‘ entfernt werde. Erdoğan und Merkel gehören noch zu der Generation, die gelernt hat, unbequeme Dokumente einfach vom Aktenvernichter zerschreddern zu lassen. In der digitalen Welt ist das aber nicht mehr so einfach.
Die ungekürzte Version der Sendung hat sich glücklicherweise wieder angefunden, denn im Internet geht ja nichts verloren:
Quelle: Vimeo
„Was jetzt kommt, darf man nicht machen.“
… sagte Böhmermann in der Sendung und macht es dennoch: Er trägt ein Gedicht mit dem Titel „Schmähkritik“ vor. Darin sagt Böhmermann, dass Präsident Erdoğan Mädchen schlage, Sex mit Ziegen habe, einen kleinen Schwanz habe und vieles mehr. Böhmermann nutzt dieses Gedicht als Beispiel, um zu zeigen, was nicht durch Artikel 5 des Grundgesetzes gedeckt sei. Sein Sidekick weist ihn auch darauf hin, dass das Gedicht aus der Mediathek entfernt werden könne und, dass es juristische Konsequenzen haben könne. „Was jetzt kommt, darf man nicht machen.“ ist also kein einfacher Aussagesatz, sondern zusammen mit dem Gedicht und der Löschung des Videos ein performativer Akt.
Die Löschung des Videos war jedoch nicht genug – die türkische Regierung hat wegen Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhaupts am 10. April „ein förmliches Verlangen nach Strafverfolgung“ gegen Böhmermann eingereicht. Nun muss die Bundesregierung entscheiden, ob sie diesem Verlangen nachkommt. Hätte Böhmermann nur einen Tag gewartet, dann hätte er das Gedicht als Aprilscherz deklarieren können!
Inflation der Meinungen
Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber nicht alles, was jemand von sich gibt, ist überhaupt eine Meinung. Wenn ich sage „Ich glaube, dass es bald regnen wird.“ habe ich meine Meinung zum Wetter geäußert. Wenn der Nachrichtensprecher im Radio den Wetterbericht vorliest, hat er damit aber nicht seine Meinung geäußert. Der Geltungsanspruch der Sätze und die Rollen der Sprecher sind in beiden Fällen ganz verschieden. Die Wetterprognose kann an der Wirklichkeit scheitern und sich somit nachträglich als falsch herausstellen. Meine Meinung kann aber nicht im strengen Sinne falsch werden, denn als ich sie geäußert habe, habe ich ja wirklich geglaubt, dass es bald regnen werde.
Was ist nun der Unterschied zwischen Satz 1: „Ich bin der Meinung, dass Sex mit Ziegen verboten werden sollte.“ und Satz 2: „Ich bin der Meinung, dass Erdoğan Sex mit Ziegen hat.“? Satz 2 scheint ein ungewöhnlicher Sprachgebrauch von „Meinung“ zu sein. Das ist etwas, über das man gar keine Meinung haben kann. Es ist eine Behauptung, die sich je nach Beweislage als wahr oder falsch herausstellen kann. Satz 1 kann hingegen nicht wahr oder falsch sein, denn es ist ja nun einmal meine Meinung. Eine Meinung kann unbegründet, altmodisch oder unpassend sein, aber nicht wahr oder falsch. Die Meinungsfreiheit sollte für Sätze von Typ 1 gelten und nicht für Sätze von Typ 2 (das war jetzt eine Meinungsäußerung).
Jan Böhmermanns Äußerung „Erdoğan hat Sex mit Ziegen.“ ist gar kein Fall, in dem die Meinungsfreiheit greifen kann. Es ist aber auch nicht die Behauptung eines Nachrichtensprechers und sicherlich auch nicht die Äußerung eines Wissenschaftlers. Es ist der Satz, den ein Künstler in einem fiktionalen, distanzierten Kontext äußert. Die ganze Inszenierung macht das schon deutlich. Böhmermann trägt die Sätze in Reimform vor und wird von Musik begleitet – und zwar in einer Unterhaltungssendung. Er äußert weder seine persönliche, subjektive Meinung noch ist es eine Behauptung, mit der ein objektiver Geltungsanspruch verbunden ist. Böhmermann agiert hier wie ein Schauspieler, der in einer Rolle seinen Text spricht.
Die distanzierenden Anführungszeichen müssen bei der Rede eines Schauspielers implizit mitgehört werden. Es handelt sich um uneigentliche Rede. Das, was der Schauspieler sagt und das, was er denkt, müssen in gar keiner Beziehung zueinander stehen. Nicht die Meinung der Schauspieler steht im Drehbuch, sondern – wenn überhaupt – die Meinung einer fiktiven Figur. In diesem Fall ist es nur schwieriger zu erkennen, weil der Schauspieler Böhmermann den Fernsehmoderator Böhmermann spielt. Also geht es in der Causa Böhmermann gar nicht um Meinungs-, sondern um Kunstfreiheit. Wird es dadurch einfacher?
„Eine Zensur findet nicht statt.“
… heißt es in Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Dieser Artikel wird in der Debatte um Zensur und Verbote immer wieder angeführt. Er ist ein mächtiger, aber auch ein verschieden interpretierbarer Artikel. Das Problem liegt in seiner Struktur, die aus drei Absätzen besteht: Im ersten Absatz werden Meinungs- und Pressefreiheit garantiert, im dritten Absatz die Freiheit von Kunst und Wissenschaft. Kann also jeder – auch Böhmermann – sagen, was er will? Ganz so einfach ist es nicht, denn diese Rechte gelten nicht schrankenlos. Im zweiten Absatz werden die Rechte eingeschränkt: „Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“ Aber auf welche Rechte bezieht sich „Diese“? Sind nur die Rechte des vorherigen Absatzes gemeint? Oder sind neben diesen Rechten auch jene gemeint, die erst im folgenden Absatz genannt werden? Sind nur die Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt oder auch die Freiheit von Kunst und Wissenschaft? Mir als juristischen Laien erschließt sich das nicht aus der Lektüre des Artikels. Das ist ärgerlich, denn ich bin nicht nur ein Staatsbürger mit einer Meinung und als Autor bei postmondän tätig, sondern auch Künstler und Wissenschaftler. Ich bin also gleich vierfach von Artikel 5 betroffen und würde mir daher mehr Klarheit darüber wünschen, in welcher Rolle ich was sagen und tun darf und was nicht.
Der eigentliche Skandal, der sich im Neo Magazin Royale abspielte, wurde durch die Diskussion um Meinungs- und Kunstfreiheit natürlich ganz überschattet: Der eingeladene Studiogast, Ronja Rönne, hat in der Sendung eine Zigarette geraucht! Das ist sicherlich nicht durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Eigentlich hätte sie dazu vor die Tür gehen müssen. #rauchfrei
*Der Titel dieses Artikels ist keine Beleidigung, denn er steht zwischen Anführungszeichen.
Die ARD hat den ersten Teil der lang angekündigte Trilogie über den NSU ausgestrahlt. Die Täter – Heute ist nicht alle Tage will die Perspektive der Täter beleuchten, kratzt dabei aber nur vorsichtig an der Oberfläche.
Beate (Anna-Maria Mühe) klaut. Mal eine Dose Deo und mal zwei Flaschen Apfelkorn, nachdem sie mit ihrer Freundin Sandra (Nina Gummich) an dem Waschmittel aus dem Westen im Supermarkt gerochen hat. Das Deo wird auf dem ganzen Körper verteilt und der Schnaps getrunken – auf den Partys mit den Punks der Stadt. Beate hört Popmusik auf dem Walkman, den sie von irgendwelchen amerikanischen Scientology-Menschen auf der Straße geschenkt bekommen hat, und sie lacht, als ihre Freundin sich mit dem Lehrer anlegt, dem nachgesagt wird, bei der Stasi gewesen zu sein.
Beate Zschäpe – Filmstar?
Beate ist die Beate Zschäpe, deren Rolle im NSU noch nicht geklärt ist und die sich vor Gericht für zehn rassistisch motivierte Morde und zwei Bombenanschläge verantworten muss. Die jüngste Entwicklung des Prozesses weist ein 53-seitige Erklärungsschreiben von Zschäpe auf, in dem sie die Mitgliedschaft in dem NSU bestreitet. Auch habe sie nichts mit den Morden sowie den Sprengstoffanschlägen zu tun. Jedoch gestand sie den Brandanschlag auf eine Fluchtwohnung in Zwickau. Das Urteil ist noch nicht gesprochen, die Fakten sind noch nicht geklärt. Trotzdem arbeitet die ARD das Thema in drei Filmen auf. Im Kommentar Beate Zschäpe – Filmstar? stellt sich die Frage, ob es für eine Verfilmung zu früh ist. Nach dem ersten ausgestrahlten Film der Trilogie Die Täter – Heute ist nicht alle Tage von Regisseur Christian Schwochow (Bornholmer Straße und Der Turm), der die Sicht der Täter٭innen Böhnhardt, Mundlos, Zschäpe beleuchtet und die jugendliche Beate in den Fokus stellt, lässt sich die Frage leichter beantworten.
Punkpartys, Nazimärsche und die große Liebe
Nachdem Beate Uwe M. (Albrecht Schuch) kennengelernt und sich in diesen verliebt hat, sind für sie Punkpartys kein Thema mehr. Stattdessen schließt sie sich der Naziszene an. Der Sprung von „Wir ärgern Faschos“ bis hin zu „Wir malen Deutschland von 1937“ geht so schnell, dass der Zuschauer keine Chance hat, die Entwicklung und Motivation Beates zu erfassen. Plötzlich wandern die Nazis mit Fahnen und Parolen durch die Straße, an der zufällig Beate steht. Ihr wird ein Flyer in die Hand gedrückt, sie sieht Uwe M. zwischen den Marschierenden und schließt sich an. Das ist das Bild, das von Beate Zschäpe in dem Film gezeichnet wird: eine junge Frau, die sich der Männer wegen irgendeiner Bewegung anschließt – egal, welcher. Aber bei den Nazis scheint es ihr zu gefallen und schon bald steht sie vor einer Meute Skinheads auf einer Bühne und schreit „Heil Hitler“ in ein Mikrofon.
Das Immergleiche im Nazitrott
Immer wieder werden Zeitsprünge durch die Einblendung einer Jahreszahl signalisiert. Aber diese haben keinerlei Auswirkungen auf die Handlung. Ja, fast könnte man behaupten, die Handlung treibe kaum voran und die Figuren weisen keine Entwicklung auf: Beate mit dem immergleichen verachtenden Gesichtsausdruck, Uwe M. mit den immergleichen rassistischen Parolen und Reden und Uwe B. (Sebastian Urzendowsky) mit dem immergleichen Drang alle zu verprügeln, die ihm aus irgendwelchen Gründen nicht passen. Beate fängt eine Affäre mit Uwe B. an. Gemeinsam belästigen sie Passanten auf der Straße, treten und schlagen willkürlich auf Menschen ein. Und immer wieder Sequenzen, wie die drei mit ihren anderen Nazifreund٭innen „Pogromly“, ein Monopoly für Neonazis, spielen. Warum? Weil bewiesen ist, dass Beate ein solches Spiel besessen hat – es wurde neben Macheten und einem Gewehr in ihrer Wohnung gefunden.
Das Mosaik der Beate Zschäpe
Ja, die Verfilmung ist zu früh. Das zeigen die „Pogromly“-Spielsequenzen. Sie beweisen, dass sich die Filmemacher٭innen an jede Einzelheit klammern, die geklärt ist. Dass der Film größtenteils auf Berichten von Augenzeugen beruht, ist für die Zuschauer٭innen ebenfalls ersichtlich: einzelne Szenen, die in keinem Zusammenhang miteinander stehen. Die Zeitsprünge kommen so plötzlich, dass es wirkt, als wüsste man nicht, wie es an der Stelle weitergehen soll. Als hätte man Angst, etwas Falsches zu erzählen. Ein Besuch bei der Beates Oma auf Kaffee und Kuchen, das Treffen mit der alten Freundin Sandra, die nun verheiratet ist und Kinder hat, zeigen, dass Beate ein bürgerliches Leben führen könnte, wirken aber willkürlich eingestreut. Der Film ist eine Collage, ein Mosaik aus kleinen Einzelteilen, keine zusammenhängende Geschichte über Beate Zschäpes Leben vor den Morden, Bombenanschlägen und Banküberfällen. Denn damit endet der Film – mit dem ersten Mord, bei dem nicht zu erkennen ist, ob Zschäpe dabei ist. Mehr kann (noch) nicht erzählt werden.
Kein Verständnis für das Handeln
In einem Spielfilm zu zeigen, was für einen Sog eine Menschengruppe hat, die im Gleichschritt läuft, sich zusammen unbesiegbar fühlt und im Chor Parolen schreit, ist wichtig – gar keine Frage. Gerade jetzt. Die Massenszenen sind gut gemacht, die schauspielerische Leistung durch die Bank weg hervorragend. Wenn Anna Maria Mühe die vierte Wand durchbricht und die Zuschauer٭innen als Beate Zschäpe direkt ansieht, mit ins Geschehen zieht, schüttelt es einen. Auch die Befürchtung der Film könnte Empathie, ja vielleicht Sympathie für Beate Zschäpe fordern, war unberechtigt. Es wird kein Verständnis für ihr Handeln verlangt. Trotzdem bleibt die Frage: Musste das Thema mit einer Verfilmung der Jugend Beate Zschäpes aufgearbeitet werden?
Vielleicht. Die Geschichte der Beate Zschäpe ist „massentauglich“. Jede٭r hat von dem Prozess gehört und sucht womöglich in einem solchen Film nach Antworten auf die Frage, warum solche schrecklichen Morde und Anschläge begangen werden. Aber die Antworten können Spielfilme liefern, die sich dem Thema rein fiktional nähern (s. David Wnendts Kriegerin). Da sie keine Rücksicht auf laufende Prozesse nehmen müssen, können sie einen tieferen Einblick in die Naziszene geben.
Abbilden von Fakten und Fiktion
Dem Film Die Täter – Heute ist nicht alle Tage ist nicht abzusprechen, dass er an vielen Stellen gut gelungen ist (s. Massenszenen). Aber er ist vorsichtig, stellenweise unentschlossen, und bleibt an der Oberfläche. Kann man den Filmemachern das vorhalten? Wohl nicht. Schließlich fehlen Informationen, es soll keine Identifikation mit den Protagonisten stattfinden und man will sich ja vor dem richterlichen Urteil kein filmisches erlauben. Der Film ist und bleibt eine einfache Abbildung. Von was? Von Fakten, die bewiesen sind und ein paar fiktionalen Elementen, wie der Nachtext aufzeigt:
„Dieser Spielfilm beruht auf einem Drehbuch, das auch rein fiktionale Elemente enthält und historische Abläufe eigenständig bewertet. Er erhebt insofern keinen Anspruch, die Geschehnisse authentisch wiederzugeben. […] Zum Zeitpunkt der Filmherstellung sind Beate Zschäpe weitere Tatbestände in diesem Zusammenhang nicht nachgewiesen und werden von ihr bestritten, so dass die Darstellung von Tatbeständen Beate Zschäpes im Zusammenhang mit der Vorbereitung von Sprengstoffanschlägen reine Fiktion des Autors ist […].“
Der Text klingt fast wie ein Eingeständnis. Und nach dem Film bleibt bei dem٭der einen oder anderen Zuschauer٭in dann doch die Frage: Ist es wichtig für mich, zu wissen, dass Beate Zschäpe vor unzähligen, grausamen Taten, Deo und Schnaps im Supermarkt geklaut hat?
In Zeiten, wo die Frage nach dem „Durchschnittsdeutschen“ tendenziell eher besorgte Blicke auf immer noch gut besuchte PEGIDA-Demonstrationen und jüngste AFD-Wahlergebnisse provoziert, zeigt uns Bjarne Mädel in der NDR-Serie „Der Tatortreiniger“ als Heiko „Schotty“ Schotte, dass es auch anders geht und bringt uns dabei vielleicht sogar etwas über das Glücklichsein bei.
„Der Tatortreiniger“ – eine deutsche Kultserie
Im Dezember 2011 strahlte der NDR im Nachtprogramm unangekündigt vier Folgen einer neuen Produktion namens „Der Tatortreiniger“ aus und erhielt keine besondere Zuschauerresonanz. Dass die Serie, über vier Jahre und 20 Folgen später, mehrere renommierte Medienpreise abgeräumt hat und sowohl von der Kritik als auch von vielen Fans immer noch hoch gelobt wird, dürfte trotzdem niemand wirklich überraschen. Das Duo Arne Feldhusen und Bjarne Mädel hatte schon mit „Stromberg“ erfolgreich einen tragisch-komischen Blick auf die zwischenmenschlichen Dissonanzen alltäglicher Personen kultiviert, der in „Der Tatortreiniger“ allerdings aus einer anderen und originären Perspektive erfolgt. Der von Mädel verkörperte Tatortreiniger Heiko Schotte ist weit entfernt vom stotternd-trottligen Ernie in Stromberg.
Schotty – ein echter Durchschnittsdeutscher?
Heiko „Schotty“ Schotte ist Tatortreiniger. De Facto heißt das, dass es sein Job ist, die Überreste von toten Menschen zu beseitigen. Kein schöner Job, aber einer, den ja auch irgendjemand machen muss. Heiko Schotte stellt auf den ersten Blick so etwas wie die Blaupause eines deutschen Arbeitnehmers aus der unteren Mittelschicht dar: Der Job ist unangenehm aber notwendig, wenn das Handy klingelt ertönt die Tatortmelodie und abends gibt’s das Feierabendbier zum HSV-Spiel. Schotty hat alltägliche Träume – große Liebe, Kinder kriegen, Maserati fahren. Trotzdem ist sein Charakter alles andere als flach oder ordinär und das zeigt sich schon an der besonderen Beziehung zu seinem Beruf.
Schotty betont immer wieder den mental belastenden Job des Tatortreinigers nicht an sich ran zu lassen. Stolz posaunt er sein Mantra “Mein Job fängt da an, wo andere Leute anfangen sich zu übergeben” heraus. Schotty hat eigene Probleme und kann es sich nach eigener Aussage gar nicht leisten den kleinen Dramen, die so um ihn herum passieren, viel Aufmerksamkeit zu schenken. Doch gerade das ist die Quintessenz der TV-Serie – die kammerspielartige Beziehungssituation zwischen Tatortreiniger Schotty und den Menschen, denen er bei der Ausübung seines Berufes begegnet. Empathischer Beziehungspunkt ist allerdings so gut wie nie das Schicksal des Toten, an das oftmals nur noch vereinzelt verstreute Körperbestandteile erinnern, sondern die Auseinandersetzung mit den Lebenden.
Ist Schotty ein glücklicher Mensch? Die Kunst der Verdrängung
Bjarne Mädel hat in einem Interview auf die Frage, ob man angesichts des Unglücks in der Welt überhaupt glücklich sein kann, geantwortet:
„Wenn ich in der Familie einen Todesfall habe, ist das sehr belastend, und ich denke sehr viel mehr über das Ende nach, auch über mein eigenes, als wenn ich nicht so direkt betroffen bin. Wenn ich den Verstorbenen nur flüchtig kannte, kann ich eher sagen: Ey, ich schaue gerade HSV gegen Dortmund und habe Spaß dabei. Aber nur mit unserer Fähigkeit zu verdrängen, kann man das Leben ertragen.“ (Interview bei bento.de)
Diese Fähigkeit zur Verdrängung oder Distanzierung scheint gerade beim Beruf des Tatortreinigers essentiell wichtig zu sein. Heiko Schotte ist jeden Tag direkt mit großem Unglück konfrontiert und schafft es trotzdem noch irgendwie in der Pause mit Genuss in sein Wurstbrot zu beißen. Die Distanz die er dabei zwischen sich und den Toten schafft, wird allerdings durch seine Beziehung zu den Beistehenden, die im Laufe einer Folge oftmals von Fremden zu Diskussionspartnern über private und existenzielle Themen werden, gebrochen. Schotty geht auf diese Menschen offen und neugierig zu und lässt sich auf sie ein. Der Verdrängungsmechanismus kehrt sich ins Gegenteil um: Schotty ist zwar vom (teilweise gewaltsamen) Ableben der Toten an seiner Arbeitsstelle oberflächlich wenig tangiert, verstrickt sich aber umso mehr in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Mitmenschen, die sich in feinen Dialogen offenbaren.
Heiko „Schotty“ Schotte – Kommunikationstalent
Das Grundgerüst eigentlich jeder Folge von „Der Tatortreiniger“ besteht aus einem dynamischen Dialog zwischen Schotty und seinen neuen Bekanntschaften. Die besondere Gabe des Heiko Schotte liegt in der Kommunikationsfähigkeit. Schotty tritt voller Neugier und ohne Vorurteile auf seine Gesprächspartner zu und ist ernsthaft interessiert an ihren Ansichten. Er hat kein Problem sich andere Perspektiven anzuhören, vertritt allerdings immer authentisch und offen seinen Standpunkt – was kurzfristig schon mal zur Eskalation des Gespräches führen kann. Gerade dann, wenn ganz große Moralkeulen geschwungen werden, schreit er der militanten Veganerin auch mal zu: „Von dir lass ich mir doch nicht meinen Schweinebraten madig machen!“ oder er antwortet auf die Kritik an Asylgesetzen trocken: „Na ich hab die Gesetze ja nicht gemacht.“. Doch diese kurzfristigen emotionalen Ausbrüche beenden die Kommunikation nicht, sondern sie regen vielmehr die argumentative Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven an. Schotty ist dabei im Laufe des Gesprächs nie vollkommen ignorant und hinterfragt sich sogar kritisch selbst, wenn ihn die Argumente der Gegenseite zum Nachdenken anregen. Moralisch wertend wird er immer erst dann, wenn ihm die Argumente des Gegenübers zu abstrus erscheinen.
Heiko „Schotty“ Schotte – Integrationsvorbild
In der Folge „Schotty´s Kampf“ wird diese Kommunikationsstruktur auf die Spitze getrieben. Schotty sieht sich an seinem Einsatzort unversehens mit dem schleimigen Vorsitzenden eines Nazi-Vereins konfrontiert, mit dem er erst minutenlang argumentiert um das Gespräch schließlich mit einem schlichten: „Ich finde das falsch, was sie sagen. Und zwar alles“ zu beenden. Anschließend schreitet Schotty persönlich zur Tat und lässt einen Raum voller Nazi-Memorabilia von seinen Sperrmüllkumpels mit Migrationshintergrund ausräumen.
Das Team von „Der Tatortreiniger“ wurde für die Folge „Schotty´s Kampf“ mit dem Grimmepreis und dem CIVIS-Fernsehpreis ausgezeichnet, der Beiträge ehrt, “die das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher nationaler, ethischer, religiöser oder kultureller Herkunft fördern”. Wenn man Schotty´s Charakter ganzheitlich betrachtet, so kann man „Der Tatortreiniger“ auch als Bekenntnis zu einer offenen und integrativen Kommunikation sehen, die jeder toleranten Perspektive Raum und Geltung zuspricht.
Schotty oder Dittsche – Wer ist denn nun der Durchschnittsdeutsche?
Um nun auf die Frage nach dem Durchschnittsdeutschen zurückzukommen, lohnt sich der Vergleich von Schotty und einer anderen Ikone des deutschen Abendprogramms: Dittsche.
Dittsche steht in Bademantel in einem Imbiss und redet voller Inbrunst von aufgeschnappten Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien, ohne dass ihn das alles wirklich zu berühren scheint. Er hat zu allem eine Meinung und von nix so richtig Ahnung. Dittsche ist damit das Epitom des skurrilen aber harmlosen Stammtischdeutschen, der auf seine eigene Art in seinem Mikrokosmos auch wieder ganz knuffig ist. Schotty hingegen vertritt authentisch seine Meinungen, lässt sich aber auch auf wirkliche Diskussionen mit denen ein, die anderer Meinung sind – sofern das Gespräch interessant ist. Dabei kommt oft eine echte Betroffenheit zum Ausdruck – im Gegensatz zu Dittsche hat Schotty noch nicht aufgegeben und sich mit dem Status Quo abgefunden.
Die Verbindungslinien zwischen Schotty und Dittsche werden auch von den Serienmachern gezogen. So hat Dittsche einen Cameoauftritt in „Der Tatortreiniger“, bei dem die unterschiedlichen Mentalitäten recht deutlich illustriert werden. Als Schotty nach dem Ziehen einer Wartenummer, ob der ineffektiven bürokratischen Vertracktheit, frustriert gegen einer Mülleimer tritt kommentiert Dittsche nur trocken: “Davon geht das auch nicht schneller. Eher langsamer.” Auch beim Auftritt von Schotty im Imbiss von Dittsche begegnen sich die Charaktere eher mit Skepsis – das einzig wirklich verbindende Element ist das Feierabendbier.
Wieso wir alle in Zukunft ein bisschen mehr wie Schotty sein sollten
Schotty verkörpert auf viele Arten einen „Durchschnittsdeutschen“, den ich mir wünschen würde. Mit „Durchschnittsdeutscher“ meine ich damit natürlich nicht einen nationalstaatlichen Stereotyp, sondern vielmehr jemand, der mit einer bestimmten Mentalität (die sicher stereotypisch nicht klassisch deutsch ist) an die lebensweltlichen Herausforderungen herangeht, vor die wir uns hier in Deutschland gestellt sehen.
Wenn das Geheimnis eines glücklichen und schönen Lebens in der erfolgreichen Verdrängung von all dem bestände, was in der Welt falsch läuft, dann hätte weder Schotty noch der „Durchschnittsdeutsche“ eine wirkliche Chance glücklich zu werden. Flüchtlingskrise und Terrorismus konfrontieren uns in unserer behaglich behüteten Verdrängungswelt aktuell mit einer distanzlosen Realität, die vielen Menschen Angst macht und Nährboden für Bewegungen wie PEGIDA oder die AFD ist.
Auch Schotty hat auf gewisse Art und Weise seine selbstauferlegte Distanz zu den Schicksalen seiner Mitmenschen verloren. Doch er schafft es mit viel Herz, Offenheit und Authentizität damit umzugehen, kommunikativ auf sie zuzugehen und ist zumindest dem Eindruck nach ein recht glücklicher Mensch. Sicher hat auch Schotty seine eigenen Probleme und emotionalen Tiefs, doch am Ende des Tages stellt er sich eben nicht im Bademantel in die Imbissbude und lamentiert vor sich hin, sondern holt sich nur Leberkäse und Bier, um am nächsten Morgen wieder mit einem gutgelaunten „Moin“ sein nächstes dialogisches Abenteuer zu beginnen.
Beitragsbild: Bjarne Mädel als Schotty in Der Tatortreiniger by Sandra Hoever (Provided by Bjarne Mädel) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons ; Der Tatortreiniger auf NDR
Mord und Totschlag vor dem verhassten Montagmorgen, wüste Beschimpfungen und standardisierte Streitgespräche in den sozialen Netzwerke am Sonntagabend. Das ist der Tatort. Der Versuch eines Porträts.
Wenn die Medien heute über den Tatort berichten, sind die Begriffe „Social TV“ und „Live-Event“ nicht weit entfernt. Ein Phänomen, das heute nicht mehr häufig zu sehen ist, hat doch das asynchrone Seriengucken Einzug in die Wohnzimmer gehalten. Trotzdem gehören Rudelgucken in Kneipen und hitzige Diskussionen bei laufendem Fernseher auf Facebook und Twitter zum sonntäglichen Krimi-Alltag.
Totschlagargumente, Streitereien und sonntägliches Gemecker
Das lässt sich die ARD einiges kosten: Plakate für die Tatort-Kneipen und Twitter-Chats mit Tatort-Regisseur٭innen. Damit für jede٭n Zuschauer٭in etwas dabei ist und die Fangemeinde wächst, gibt es regelmäßige neue Tatort-Teams. Oder es werden Schauspieler٭innen unter Vertrag genommen, die ihre Fangemeinde gleich mitbringen, wie etwa Til Schweiger. Aber da, wo für alle etwas dabei ist, gibt es auch viel, das nicht jeder٭jedem gefällt: Während die einen in den sozialen Netzwerken eine Lobeshymne auf das Dortmunder Ermittler٭innenteam singen, schreien die anderen, die Ermittler٭innen seien doch alle Psychos. Und was macht Til Schweiger? Til Schweiger spaltet nuschelnd die gesamte Tatort-Gemeinde in Til-Hasser٭innen und Til-Verehrer٭innen. Was wäre also der Tatort ohne das Gemetzel in ihm und um ihn herum?
Gemetzel zerfetzen
Ob die Diskussionen in den sozialen Medien selbst von den Tatort-Macher٭innen beabsichtigt, ja gar inszeniert, ist, sei dahingestellt. Für die Zeitungen und Magazine ist jeder Tweet der 165 000 Tatort-Follower٭innen und jeder Facebook-Kommentar der 868 438 Tatort-Gefaller٭innen zu einer neuen Folge ein gefundenes Fressen. Wer schreibt analytische Rezensionen in der wenigen verfügbaren Zeit, wenn es in den sozialen Netzwerken kostenlose Kritikfetzen regnet? Und der Einbettungslink für die Artikelseiten wird gleich mitgeliefert. So stellt es sich als praktisch heraus, die schnell heruntergeschriebenen Meinungsbilder im Internet einfach umzuschreiben, mit einer Überschrift wie „Zittern statt Twittern“ zu versehen und schon ist sie fertig, die Twitter-Kritik oder auch „Die Twittritik“. Sie kommt daher, wie eine „normale“ Rezension, liefert aber den Tenor der twitternden Zuschauer٭innen und anschließenden Kritikenleser٭innen gleich mit, ohne dass eine tiefere Analyse und Interpretation des Gesehenen nötig wäre.
Eine Hand wäscht die andere
Das kann positiv wie auch negativ gewertet werden: Jede٭r Twitter٭in kann die Online-Rezension einer Wochen- und Tageszeitung aktiv mitgestalten. Und nicht zuletzt scheint das auch die Motivation auszumachen, fröhlich mitzudiskutieren. So schreibt ein Twitterer am 24. November 2014: „Ich bin in der #twittritik von @zeitonline zum Stuttgarter #Tatort gelandet. Oha.“ Einige eher tatortferne Seiten machen sich diese Streitkultur zu Nutze, indem sie kommentarlos ein Zitat aus der Folge posten, um die Kommentator٭innen auf ihre Seite zu locken. Eine sogenannte Win-win-Situation für alle Beteiligten. Das macht die Betrachtung der Online-Kommunikation während einer Tatort-Folge nicht weniger spannend. Denn anhand der Diskussionen zu einer laufenden Tatort-Folge lässt sich einiges zu der Streitkultur im Netz ableiten.
Täterprofile und altbekannte Muster
Die Schnelllebigkeit und vermeintliche Anonymität des Internets macht es möglich, sich nicht länger mit einer Materie zu befassen, sondern dem ersten Impuls zu folgen und schnell die eigene Meinung herunterzuschreiben. Und was ist das Besondere an der Tatort-Diskussion? Ohne spezielles Hintergrundwissen kann hier jede٭r die schnell konsumierbaren Inhalte und das gerade Gesehene für sich interpretieren und die Meinung zeitgleich äußern. Da in 90 Minuten viel passieren kann, gibt es immer wieder neuen Gesprächsbedarf. Bei genauerer Betrachtung dieser Auseinandersetzungen zu einer Tatort-Folge (aber auch zu anderen Inhalten) im Netz lassen sich immer gleichen Verhaltensmuster erkennen.
Seher٭innen, Brandstifter٭innen und Aussteiger٭innen
Um die Verhaltensmuster aufzuzeigen, kommt man nicht umhin einen typischen Dialog bestehend aus Originalzitaten (absichtlich ohne Namensangabe) des Kommentarbereichs auf der Tatort-Facebookseite wiederzugeben, wie es eben auch die großen Magazine und Zeitungen in ihren Rezensionen tun:
Eine typische Auseinandersetzung mit einem Facebook-Kommentar des٭der Seher٭in:
„Ich bin gespannt was jetzt wieder kommt – der Schauspieler zu gut aussehend, die Schauspielerin mit zu grellem Lippenstift… ٭seufz٭.“
Und schon wird die Munition für eine endlose Diskussion von der٭dem Brandstifter٭in geliefert:
„Schnoddrige, prollende, rotznäsige Ermittlerinnen, die vor Jugendarroganz triefen. West-Ost-Klischees vom Feinsten. Endloses Rumgeschreie in VorabendRTLqualität. Schlimmer geht’s nimmer. Das ist eine Zumutung, mit zwangseingetriebenen Gebühren finanziert.“
Es folgen „Gegenargumente“ der Friedliebenden:
„Ich finds erfrischend. Aber bei den ganzen Nörglern hier ist es doch eh wurscht, was gedreht wird. Euch passt doch immer irgendwas nicht: ,zu brutal, zu ernst, zu lustig, der Ton geht gar nicht, blablabla …’ Dann schaltet doch einfach um und hört auf zu motzen, es nervt!“
Dann melden sich die Aussteiger٭innen zu Wort, die, obwohl so schon umgeschaltet haben, dem digitalen Tatort-Gemetzel weiter beiwohnen:
„Nach vier Minuten umgeschaltet. Sorry, geht gar nicht. Denke nicht, das die Story nach dem gejaulten Anfang noch zu retten ist“
oder
„Ich will den Leipziger Tatort zurück, die zwei arroganten obercoolen Puten kannste in die Tonne treten, das reißt auch der sonst geniale Martin Brambach nicht mehr raus. Auf Fußball umgeschaltet.“
Dann gibt es noch diejenigen, die sich jeden Sonntag einen Tatort à la Boerne und Thiel wünschen:
„Der erste war der reinste Schrott, das sollten die mal lassen. Kriegt man ja Zustände. Am Sonntag das war auch Schrott, hab nach der halben Stunde umgeschaltet. Werde wohl bald nur noch die bekannten Tatorte anschauen, da wo man weiß, dass es auch spannend ist, z. B. Köln oder Münster.“
Und die, die dem Spruch „Schlafende Hunde soll man nicht wecken“ alle Ehre machen:
„Bla bla bla. Viel schlimmer. Ich hab die letzte halbe Stunde verpasst. Eingeschlafen. Wer war der MÖRDER?“
Wer sich durch den Kommentarbereich scrollt, kann feststellen, dass diese Aufzählung endlos weitergehen könnte. Für manch eine٭n wahrscheinlich unterhaltsamer als der Tatort selber.
Der letzte Zeuge
Der Gesprächsverlauf ist so voraussehbar wie so manche Handlung eines Tatorts. Das Gemetzel im, am und um den Tatort ist standardisiert: Jeden Sonntag um 20.15 Uhr schauen sich die Tatort-Zuschauer٭innen Mord und Totschlag an und geben vor dem Montagmorgen ihren Aggressionen in den sozialen Netzwerken ein Ventil. Die Wortgefechte auf Facebook und Twitter sind zu einem festen Bestandteil der Medienlandschaft geworden. Alle wollen von der großen Fangemeinde des Tatorts profitieren. Aber auch das Rudelgucken in Szene-Kneipen spiegelt eine Fernsehkultur wider, die heute kaum noch zu finden ist. Ist der sonntägliche Tatort also der letzte Straßenfeger, neben der Tagesschau die letzte Konstante in der Fernsehlandschaft?
Nein, das auf dem Foto ist nicht Beate Zschäpe, sondern Schauspielerin Anna Maria Mühe. Sie spielt die Terroristin in dem angekündigten ARD-Mehrteiler über den NSU. Ähnliche Filmprojekte folgen. Das darf nicht passieren.
Ein Kommentar von Katharina van Dülmen
„Anna Maria Mühe mimt Beate Zschäpe“, so kündigt das Berliner Fenster den ARD-Mehrteiler über den NSU an, der seit Anfang 2014 geplant, seit 2015 abgedreht ist, aber noch nicht ausgestrahlt wurde. „Schwierig“ ist das erste Wort, das mir in den Kopf kommt. Der NSU-Prozess ist nach über zwei Jahren noch nicht abgeschlossen und Beate Zschäpe nach jahrelangem Schweigen immer noch nicht vollkommen aussagebereit. Wie soll der Plot des Films also aussehen?
Trilogie mit Perspektivwechsel
Laut FAZ handelt es sich bei dem für 2016 geplanten und von Welt-Herausgeber Stefan Aust und Fernsehproduzentin Gabriele Sperl produzierten „TV-Highlight“ um eine Trilogie, die verschiedene Perspektiven einnimmt. Der erste Teil soll sich mit dem Milieu der Täter٭innen, „in den neuen Bundesländern radikalisierenden Jugendlichen, mit den Neonazis“, beschäftigen. Die Perspektive der Ermordeten und ihrer Angehörigen, „die durch die jahrelang fehlgeleiteten Ermittlungen der Polizei selbst zu Verdächtigen […] wurden“, soll im zweiten Teil dargestellt werden. Im dritten Teil spielen die Ermittler٭innen, die lange „im Dunkeln tappten“, die Hauptrollen. Und dann ist noch eine abschließende Dokumentation angekündigt. Bis auf die das Projekt beschreibenden Ankündigungen und ein paar „Das klingt gewagt“-Zitate finde ich keinen Kommentar, keine kritischen Auseinandersetzungen. Nur einzelne Stimmen einiger Leser٭innen unter den Ankündigungen im Netz bestätigen mich in meiner Ansicht: Eine filmische Auseinandersetzung mit der Person Beate Zschäpe und ihrer Rolle im NSU ist zu früh – viel zu früh – und gefährlich.
Spielfilme lenken Gefühle
„Mit diesem auf den ersten Blick kaum zu überschauenden Projekt möchte ich die Menschen emotional so erreichen, dass sie beginnen, die Bedeutung dieses Geschehens wahrzunehmen und zu erkennen, dass unsere Gesellschaft einen dunklen, braunen Fleck hat, den viele, nicht nur die Politik, lieber verdecken möchten. Das muss sich ändern“, so die Produzentin Gabriela Sperl laut FAZ. Ist die Gesellschaft wirklich schon so abgestumpft, dass sie nicht allein durch die Nachrichten von zehn rassistisch motivierten Morden, 15 Banküberfällen und mindestens zwei Bombenanschlägen emotional berührt wird? Braucht sie wirklich noch einen (leicht verdaulichen, verständlichen und mit passender Musik unterlegten) Spielfilm, der ihnen die zu spürenden Emotionen vorkaut und ihr sagt, bei welcher Tat des NSU sie was zu fühlen hat? Denn das ist es, was Spielfilme tun:
„Der Wunsch zu fühlen bildet eine Hauptmotivation dafür, sich Filme anzusehen. Als dramaturgische Gebilde lenken Filme Zuschauergefühle. Sie bauen ein affektives Feld auf, besitzen eine spezifische Affektstruktur. Zu unterscheiden ist u.a. zwischen Fiktionsaffekten, die auf die erzählte Welt bezogen sind, und Artefaktaffekten, die auf die ästhetische Gestaltung bezogen sind.“
Ein Spielfilm ist Fiktion, egal, ob er auf einer wahren Begebenheit beruht oder nicht. Damit ein Film spannend und emotional berührend bleibt, hat er einen bis ins Kleinste kalkulierten Spannungsbogen. Überspitzt gesagt: Alles wird dieser Affekthascherei untergeordnet – auch das zu Erzählende. Gleichzeitig wird den Zuschauer٭innen bei einem Plot, der auf einer wahren Begebenheit basiert, vorgegaukelt, dass das, was dort erzählt wird, der Realität entspricht. Die Zuschauer٭innen sollen glauben, dass es genauso passiert ist. Genauso. Ich gebe Frau Sperl ja recht, in letzter Zeit wurde mehr als deutlich, dass es zurzeit sehr großen Aufklärungsbedarf beim Thema „dunkle, braune Flecken“ in der Gesellschaft gibt. Aber ist eine Trilogie mit Perspektivwechsel der richtige Ansatz?
Figuren werden gezeichnet
Perspektivwechsel sind bei einem solchen Thema gefährlich, denn sie sind motiviert: So spielen sie den Zuschauer*innen einen objektiven Blick auf ein Geschehen vor. Sollen sich die Zuschauer٭innen der NSU-Trilogie etwa in jede der beteiligten Gruppen einfühlen und ihre Motivationen für ihr Verhalten nachvollziehen? Denn Emotionen werden in Spielfilmen auch über Sympathie und Empathie erreicht: Sympathie (Fühlen-für) und Empathie (Fühlen-mit) bilden unterschiedliche Formen der Anteilnahme an Filmfiguren“, so das Lexikon für Filmbegriffe.
In einem Interview mit der BZ erklärt Schauspielerin Anna Maria Mühe den Plot rund um die Figur Beate Zschäpe so: „Unser Film zeigt die Geschichte von Beate, wie sie 14 Jahre alt ist, bis sie 24 Jahre alt ist. Wie sie Uwe Mundlos kennenlernt, sich in ihn verliebt. Und wie sie Uwe Böhnhardt kennenlernt und sich in den verliebt.“ Können wir also eine Liebesgeschichte erwarten, die in vielen grässlichen Taten endet? Beginnt die Geschichte mit einer pubertierenden 14-Jährigen, die langsam der Liebe wegen in die Terrorzelle hineinrutscht? Gibt es in dem Film vielleicht sogar einen Punkt, an dem die Zuschauer٭innen Mitleid mit der Protagonistin haben? Betätigen sich die Filmemacher٭innen als Psycholog٭innen, die der Protagonistin durch den Film ein psychologisches Gutachten ausstellen? Ja, das sind alles Spekulationen. Fest steht jedoch, dass die Figur Beate Zschäpe gezeichnet, charakterisiert werden muss, dass sie von einer beliebten Schauspielerin gespielt wird, dass ihre Lebensgeschichte bis zum noch nicht abgeschlossenen Prozess dargestellt wird, dass das Drehbuch bereits fertiggestellt war, bevor die Fakten vollends geklärt sind, bevor der Gerichtsprozess entschieden ist. Mich würde sehr interessieren, wie die Hinterbliebenen der Ermordeten über das Projekt und ihrer eigenen Darstellung in der Verfilmung denken.
Kommerzielle Ausschlachtung?
Vielleicht tue ich den Filmemacher٭innen unrecht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass dieser ARD-Mehrteiler unter dem Kalkül produziert wurde, das Thema für ihre Zwecke zu nutzen, solange es noch „heiß“ ist. Denn ihre Presseleute haben ganz Arbeit geleistet: Über das Projekt war schon Anfang 2014 in den Medien zu lesen. Ein Blick nach Amerika zeigt, dass die Inanspruchnahme der Filmrechte aktueller Themen längst Mode geworden ist: Jüngst hat Hollywood-Star Leonardo DiCaprio bekannt gegeben, den VW-Skandal zu verfilmen. Filmstoffe scheinen rar und umkämpft zu sein.
Aber nicht nur die ARD hat sich des NSU-Themas angenommen, auch das ZDF hat (zufällig?) zeitgleich ein Doku-Drama (AT: „Letzte Ausfahrt Jena“) mit Lisa Wagner als Beate Zschäpe abgedreht. Achja, und dann soll die NSU-Geschichte auch noch ins Kino kommen. Basieren wird der von Constantin Film produzierte Film auf dem Buch „Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU“ von Journalist und Produzent des ARD-Mehrteilers Stefan Aust sowie Autor Dirk Laabs. „Die Autoren rekonstruierten darin die Jagd nach den Neonazis und geben Einblick in den Kampf des Bundesamts für Verfassungsschutz gegen den rechten Terror“, schreibt Die Welt.
Gruseln bei Popcorn und Bier
Auch wenn ich, bevor ich die Filme überhaupt gesehen habe, urteile: Das Projekt ist äußerst fragwürdig. Nicht jedes Thema muss in einem Spielfilm aufgearbeitet werden, nicht jedes Thema kann in einem Spielfilm aufgearbeitet werden, nicht jedes Thema darf in einem Spielfilm aufgearbeitet werden und nicht jede٭r sollte in Spielfilmen eine Plattform bekommen. Kommerzieller Erfolg durch emotionale Affekthascherei darf kein Grund für die Darstellung eines so sensiblen und noch nicht abgeschlossenen Themas sein. Was ist aus den informativen, auf Fakten basierenden Dokumentationen geworden, was aus dem vollends fiktiven Filmstoff?
Ein Zitat aus einem Kneipengespräch: „Naja, die ehemaligen Anwälte der Zschäpe, Heer, Sturm und Stahl müssen in der Verfilmung auf jeden Fall unbenannt werden – die Namen klingen nach einer schlechten SAT.1-FILMFILM-Produktion.“
Titelbild: Anna Maria Mühe beim Berliner Film Festival 2014, Foto von e Siebrands/Wikimedia Commons
Gefühlt täglich wird eine neue Serie auf den Markt bzw. ins Netz geworfen. Das Resultat: stundenlanges Streamen. Das bleibt nicht ohne Folgen.
Gleiche Zeit, gleicher Ort, Tag für Tag oder Woche für Woche – galten Fernsehserien einst als ein strukturierendes Moment im Alltagsgefüge eines (jeden) Menschen, so bekommen sie heute einen neuen Charakter, ein neues Gesicht. Der Begriff „binge-viewing“ in Anlehnung an „binge-eating“ hat Einzug in die Gesellschaft erhalten. Das Warten auf eine neue Folge der Lieblingsserie wurde durch stundenlanges Streamen abgelöst. Auch wenn sich die „modernen“ Serien oberflächlich nicht von den herkömmlichen Serien unterscheiden (strukturieren sie sich doch weiterhin in Folgen und Staffeln), so weisen sie im Erzählen, in der seriellen Narration, durch das neue Konsumverhalten der Serienzuschauer٭innen Veränderungen auf.
Das Phänomen, das Jason Mittell 2011 in seinem Essay Serial Boxes: The Cultural Values of Long-Form American Television beschreibt, feiert mit Game of Thrones, Orange is the new black und dem Einführen von Online-Streamingdiensten wie Netflix einen neuen Höhepunkt. Der Professor für Amerikastudien und Film- und Medienkultur ist der Meinung, dass sich durch das Einführen von DVD-Boxen eine komplexere narrative Konstruktion in Serien etablierte. Die Zuschauer٭innen hätten ja das „Seriengedächtnis“ im Regal und könnten dieses bei Bedarf auffrischen. Aber wie haben die Zuschauer٭innen vor den DVD-Boxen und Netflix ihr „Seriengedächtnis“ aufgefrischt? Und wie äußert sich eigentlich die Komplexität der Serieninhalte im Gegensatz zu den herkömmlichen Fernsehserien?
Tod der clotûre
Die Frage nach der inhaltlichen Komplexität der Serie ist schnell beantwortet: Wer schon einmal den Versuch gestartet hat, eine der neuesten Serien mitten in einer Staffel anzufangen, wird gnadenlos gescheitert sein. Setzten Serien wie How I met your mother oder The Big Bang Theory auf größtenteils geschlossene Handlungsstränge am Ende eine Folge (auch series genannt), so geht der Trend zur Fortsetzungsserien (serials). Serials gab es natürlich auch schon vor den DVD-Boxen oder Netflix (Soaps dürfen hier nicht unerwähnt bleiben), doch haben diese eine neue Qualität und besonders eine neue Quantität erreicht.
Schon der Vorspann von der Netflix-Eigenproduktion Orange is the new black lässt erahnen, wie viele verschiedene Charaktere der Serienwelt ein Gesicht geben.
Quelle: Youtube
Jeder Charakter bringt seine eigene Geschichte mit. Diese muss sich in das Netz von Handlungssträngen knüpfen. Selten hat der٭die Zuschauer٭in das Gefühl, dass ein Handlungsstrang vollends geschlossen, zur clotûre gebracht wird. Vielmehr verstricken sich die Figuren immer tiefer in das Netz der verschiedenen Handlungsstränge. Oder ein geschlossen geglaubter Handlungsstrang wird plötzlich wieder aufgenommen. Die Charaktere und das Leben im Gefängnis bieten immer wieder neuen Inhalt und die Serie könnte unendlich weitergehen – auch ohne die Protagonistin Piper. Und was tun die Zuschauer٭innen, um ihr „Seriengedächtnis“ immer wieder aufzufrischen? Sie geben sich regelmäßig der Serienwelt hin. Aber haben das nicht auch die Serienkonsument٭innen vor den DVD-Boxen und Netflix getan?
Eine Serie ist eine Serie ist eine Serie ist eine Serie
Ja, aber sie waren abhängig vom Fernsehprogramm. Und sie mussten darauf vertrauen, dass die einzelne Folge sie wieder da abholt, wo sie zurückgelassen wurden. Neben dem „Was bisher geschah“ waren es die Konstanten, die sie zurück in die Serienwelt zogen. Denn glaubt man der Seriendefinition von Medienwissenschaftler Hartmut Winkler, so operieren „Filmserien, Fernsehserien oder periodische Sendeformen […] mit einem Kalkül aus Konstanz und Variation“. Die immer gleichen Charaktere, der immer gleiche Ort, die immer gleiche Zeit, die immer gleichen Probleme, die immer gleiche Erzählstuktur, die immer gleichen Symbole, die immer gleichen Macken der Figuren usw. bilden in einer Serie die Konstanten. Vor der Folie des Konstanten, der Wiederholung passieren die Veränderungen, die Variationen. Sobald sich in einer Serienwelt etwas verändert, wird der Plot, die Geschichte vorangetrieben.
Kann es also sein, dass die Komplexität der „modernen“ Serie auch mit sinkenden Konstanten und wie schon erwähnt zunehmenden Variationen zusammenhängt? Betrachtet man die Serie Game of Thrones,so lässt sich die Frage eindeutig mit „ja“ beantworten. Schließlich schreckt die Serie (wie zuvor auch das Buch) nicht davor zurück, seine Protagonist٭innen wiederholt sterben zu lassen. Ein klarer Beweis dafür, dass die Charaktere in dieser Serie nicht zu den konstanten Elementen gehören, sondern zu Variablen werden. Und auch ein Beweis dafür, dass die Zuschauer٭innen der Serienwelt ständig verbunden sein müssen, um bei der Handlung nicht auszusteigen.
Fall der Cliffhanger?
Das ewige Dranbleiben der Zuschauer٭innen an einer Serie haben sich Netflix und Co. zu Nutze gemacht. Warum Filme produzieren, wenn man mit Serien die Abonnent٭innen auf ewig bindet? Die Serienmacher von Netflix haben dabei den Vorteil nicht von Werbeeinnahmen und auch nicht von Einschaltquoten abhängig zu sein. Ein sogenanntes Jumping-the-Shark (sinkendes Interesse) bei einer Serie kann Netflix nicht gefährlich werden, schließlich haben sie ja noch andere Produktionen und die Gelder fließen regelmäßig. Diese Unabhängigkeit macht es ihnen auch möglich, sämtliche Folgen ihrer Serien zeitgleich auf den Markt zu werfen. Es gibt also für die Zuschauer٭innen keine Pausen zwischen den Folgen – höchstens zwischen den Staffeln. Ein Klick und die nächste Folge beginnt. Hier stellt sich die Fragen, ob sich dadurch nicht auch ein wichtiges Element in Fortsetzungsserien verändert hat: der Cliffhanger. Sind Cliffhanger überhaupt noch nötig? Ist es in Zeiten von Netflix und Co. nicht viel wichtiger geworden, die Spannung gleichermaßen aufrecht zu halten? Die Serie House of Cards zeigt, dass Web-Serien auch gut ohne Cliffhanger am Ende einer jeden Folge auskommen können. In Zeiten von Netflix werden die großen Cliffhanger nur noch dezent an wichtigen Punkten gesetzt, z. B. dann, wenn für die Zuschauer٭innen doch eine Wartezeit anbricht wie am Ende einer Staffel.
„Genießen Sie Filme und Serien jederzeit und überall.“
Und hier schließt sich der Kreis: Die Unabhängigkeit von Einschaltquoten und Werbeeinnahmen gibt die Freiheit, Neues auszuprobieren und mit seriellen Konventionen zu brechen. Das ist der Grund, warum nun viele Kreative nicht mehr bei Spielfilmen, sondern bei den Serien mitwirken. Mit den neuen Möglichkeiten verändern sich die Sehgewohnheiten der Serienkonsument٭innen. Und mit den Sehgewohnheiten wiederum das serielle Erzählen. Durch die ständige Verfügbarkeit und das Lesen und Kommunizieren über eine Serie im Internet ist es also möglich geworden, komplexere Serienwelten aufzubauen: Viele Charaktere, mehr Handlungsstränge, weniger Konstanten, mehr Variablen. Das Seriengedächtnis kann jederzeit und überall aktiviert werden. Galten Fernsehserien einst als ein strukturierendes Moment im Alltagsgefüge eines (jeden) Menschen, so bestimmen die Konsument٭innen heute selber, wann und wie lange sie in eine Serienwelt tauchen wollen – und ein Werbespruch wird zum gelebten Motto: „Genießen Sie Filme und Serien jederzeit und überall“.
Quellen:
Jason Mittell: Serial Boxes: DVD-Editionen und der kulturelle Wert amerikanischer Fernsehserien. In: Robert Blanchet et al. (Hrsg.): Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu den aktuellen Quality-TV- und Online-Serien. Marburg: Schüren 2011, S. 133-152.
Hartmut Winkler: Technische Reproduktion und Serialität. In: Endlose Geschichten. Serialität in den Medien. Hrsg. von Günter Giesenfeld. Hildesheim: Georg Olms AG 1994. S. 38-45.