Schlagwort: Feminismus

Wut, Sex, Tod, Erwartungen und Humor. Jovana Reisinger im Interview

Jovana Reisinger hat einen neuen Roman veröffentlicht. Und unter vielen Gesichtspunkten ist dieser ganz anders geworden als ihr Debüt „Still halten“ von 2017. Dennoch haben beide Texte eine gemeinsame Wucht und prügeln auf Rollenbilder und ihre Protagonist٭innen ein. Erneut ist ihr ein intensiver Roman gelungen, der gleichzeitig erdrückt, dabei aber nicht vergisst, kurzweilig zu sein und zu unterhalten. Warum aber hat sie ihn „Spitzenreiterinnen“ genannt? Und wieso heißen die Frauen darin wie Zeitschriften? Welche Rolle spielen Männer? Worum geht es überhaupt? Gute Fragen, noch bessere Antworten.

Spoiler-Hinweis: am besten erst den Roman lesen, dann das Interview.

Worum geht es in „Spitzenreiterinnen“?

Es geht um Frauen, die nach Frauenzeitschriften benannt sind. Und um Rollenzuschreibungen, Klischees und Stereotype. Auch behandelt er Gewalt – in jeglicher Hinsicht –, Diskriminierungserfahrungen, Sexismus und neoliberale Leistungsversprechen. Jetzt hab ich viele Schlagwörter rausgeballert.

Wie bist du darauf gekommen, die Protagonistinnen nach Frauenzeitschriften zu benennen?

So genau weiß ich das nicht mehr. Aber ich finde das Medium Frauenzeitschrift sehr spannend, weil es einen großen Raum einnimmt. Nicht unbedingt in meinem Leben, aber generell verfügen sie über Reichweite, Macht und Geschichte.

Für Männer gibt es weniger Magazine, an denen man sich als Teenager orientieren kann. Widersprich mir gern, aber ich glaube nicht, dass man in der gleichen Form in Magazinen Hilfe suchte. Ich kann mich zum Beispiel noch gut daran erinnern, was in meiner Jugend zum Thema Sex in diesen Magazinen stand: Hier sind die fünf Supertipps, mit den Stellungen wird er wahnsinnig nach dir, so wirst du zur Blowjob-Queen. Es ging darum, den Mann zu befriedigen und überhaupt nicht darum, für sich ein Frausein zu erkennen und zu entwickeln. Es ging immer um die Frage: Was muss ich machen, damit man mich akzeptiert und anerkennt?

Ich fand spannend, mich Jahre später wieder mit diesen Zeitschriften auseinanderzusetzen und da entstand die Idee, einen Ensemble-Roman zu schreiben – mit gleichberechtigten Charakteren und Protagonistinnen. Der nächste Schritt war dann einfach, diese nach den Magazinen zu benennen, und sich gleichzeitig auf die Themen zu stürzen, die darin behandelt werden. Beauty, Fashion, Sex. Laura und Lisa haben ja zum Beispiel immer ganz viele Tipps und Tricks in ihren Kapiteln.

„Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind.“

Jovana Reisinger

Es ging also darum, die Rollenmodelle der Zeitschriften zu hinterfragen?

Nicht nur die der Zeitschriften. Der Gesellschaft. Aber ich habe mich gefragt, was passiert, wenn ich sie mit diesen Namen besetze. In meinem ersten Roman, du hast ihn ja gelesen, hat die Protagonistin keine charakterisierenden Beschreibungen. Man weiß nicht wirklich, wie alt sie ist usw. Das ist hier wieder so: Ganz selten kommt ein Alter vor, stattdessen Beschreibungen wie: „Sie ist Rentnerin und Witwe.“ Das verankert sie natürlich irgendwo, aber es wird nie beschrieben, wie sie aussehen, sondern sie sind alle irgendwie da.

Nirgends steht, was für Haarfarben, Haarstrukturen, Hautfarben oder Körpergrößen sie haben. Ich glaube trotzdem, wenn man dann aber die Frauenzeitschriften vor Augen hat und an die Frauen denkt, die einen von den Covern aus anlächeln, hat man eine Vorstellung davon, wie sie aussehen könnten. Ich hab mich gefragt, was das mit den Leser٭innen macht? Stellt man sie sich jetzt alle weiß, blond und blauäugig vor? Zu den Magazinen würde es passen. Aber vielleicht reflektiert man beim Lesen diesen Rückgriff und stellt sie sich dann ganz anders vor.

Für einen Capriccio-Beitrag hatte die Redakteurin alle Frauenzeitschriften gekauft, die im Buch vorkommen, und auf jedem Cover war eine weiße, dürre, blonde Frau mit blauen Augen. Die einzige Woman of Color war auf der Vogue.

Besonders kritisch stehen die Hauptfiguren ihren Rollen ja gar nicht gegenüber, oder?

Nein, die haben ja auch gar keine Zeit. Sie ackern und versuchen, ihr Leben hinzukriegen.

Kann es sein, dass sie alle vorgezeichnete Wege ausprobieren, dabei aber Schwierigkeiten haben, glücklich zu werden?

Ja, auch. Besonders die zwei Freundinnen Verena und Laura glauben, dass es einen vorgezeichneten Weg gibt, ein Frauen-Game, in dem man bestimmte Etappen gewinnen muss: guter Job, Macker, Ehe, Vermögen. Mit denen konnte ich natürlich gut den Konkurrenzkampf aufzeigen, der manchmal zwischen Frauen herrscht. 

Laura lädt ein Foto von ihrem Ringfinger bei Instagram hoch. Die Likes prasseln darauf wie ein Unwetter. Verena aktualisiert ihr Tinder-Profil.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Was würdest du sagen, wer von beiden den Wettkampf entscheidet?

Das kommt auf die Perspektive an. Ich hätte lieber die Villa, die Verena erbt, als Lauras Typen.

Es ist schon generell in dem Roman so, dass Figuren von Todesfällen eher profitieren als daran zu zerbrechen, oder?

Findest du? Ja, vielleicht hast du recht, es sterben einige. Und ich meine, für Barbara ist es auch super, dass ihr Mann stirbt und auch, dass weitere Personen sterben. So kommt sie ja auch an ihren Hund.

 

Findest du eigentlich selbst manchmal, dass deine Texte ein bisschen zynisch sind?

Zynisch find ich besser als ironisch. Das möchte ich nämlich auf gar keinen Fall sein. Ironie in der Kunst ist ein billiges Mittel.  Aber wenn man ein Kunstwerk herausgibt, hat man ja schon selbst gar keine Macht mehr über die Rezeption. Das Buch ist draußen, wenn jemand sagt, es ist ironisch, dann ist es für diese Person so. Für mich ist es am Ende aber wirklich eher zynisch. Und es ist auf jeden Fall gemein und boshaft. Aber so ist es halt auch.

 

Du meinst, das Leben ist auch so?

Ja. Als der Text noch im Entstehen war, ist mich eine Förderreferentin harsch angegangen. Sie hat gesagt, so einen Text braucht man nicht, der sei zu rough, das sei nicht der Feminismus, den wir jetzt benötigen. Was wir bräuchten, sei ein Happy End. Ich hab ihr gesagt, es gibt für uns jetzt auch kein Happy End. Ich geh hier ja jetzt nicht raus und bekomm ein Happy End serviert. 

Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus.“

Jovana Reisinger

Trotzdem suchen deine Protagonistinnen ja nach Happy Ends. In der Einleitung zum Beispiel steht der Satz: „Laura fiebert ihrer Hochzeit entgegen, dem Höhepunkt jedes weiblichen Lebens.“ – Warum schreibst du sowas?

Für Laura, genauso für Verena, ist der Höhepunkt ihres Lebens, sich einen guten Macker zu angeln. Wie eben im klassischen Rollenverständnis. Die sichere Ehe als ein Ideal. Aber dass die Ehe auch in jeglicher Form total unsicher sein kann, ob Gewalt, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Scheidung, spielt in der klassischen Theorie überhaupt keine Rolle. Als wäre Ehefrau und Mutter die einzige Bestimmung.

Am Samstag vor zwei Wochen gab es in München eine Demo mit Abtreibungsgegner٭innen, die zum Teil Schilder mit Slogans wie: „Mutter werden, mehr Frau sein geht nicht“ trugen. Klare Rollenbilder. Ich bin in einer Bubble, in der man glaubt, sowas findet nicht mehr statt und hat keine Realität mehr. Aber da standen 900 Leute, die das Gegenteil behauptet haben. 

In deinem Buch kommt ja auch eine Demo vor.

Ja, die klassische 8.-März-Demo. Mit wütenden Männern, die etwas sagen wie „Frauen sind doch schon überall an der Macht. Jetzt wollen sie auch noch Gratis-Tampons – wie unfair.“

Was glaubst du, warum auch in der Realität viele Menschen unterschreiben würden, dass eine Hochzeit der Höhepunkt weiblichen Lebens ist?

Das kann ich nicht sagen, ich bin ja keine Soziologin. Aber wenn das für die so ist, ist das ja auch toll. Im Feminismus muss es wichtig sein, dass dies freie Entscheidungen sind. Genauso wie zum Beispiel sexuelle Identitätspolitik. Dazu gehören auch Schwangerschaftsabbrüche. Wenn ich heirate, ist es auch meine Entscheidung. Auch, ob ich den Namen annehme. Trotzdem muss man meiner Meinung nach diese Rollen und was mit ihnen einhergeht, zumindest einmal durchdenken. Warum macht man es, warum kommt es so selbstverständlich daher? Warum wird es nicht hinterfragt – auch persönlich? Warum denkt man, etwas ist das Ziel? Und das Ziel von was überhaupt? Genauso ist es für mich beim Thema Schönheit: Ist doch egal, ob eine Frau sich die Brüste machen lässt oder nicht. Wenn sie’s machen will, ist alles gut.

Stimmt. In dem Roman gibt es immer wieder losgelöste Absätze Themen wie „Solidarität unter Frauen“, „weibliche Lust“, „Karrierefrauen“, „Haare“. Was hat es damit auf sich?

Das sind Sonderkapitel. Eine Figur, die es jetzt am Ende im Buch nicht mehr gibt, trug immer Powersuits. Es gab bei ihr einen längeren Abschnitt, in dem ich mich mit Hosenanzügen und dem Styling fürs Büro beschäftigt habe. Ich hab dann nach längerer Zeit festgestellt, dass die Figur für den Roman keinen Sinn macht, aber ich hing so an diesem Abschnitt. So entstand die Idee für diese Sonderkapitel, die auf jeden Fall inspiriert von diesen Frauen-Zeitschriften sind. 

Einiges, Haare und Haut, kommt ja direkt aus dem Beauty-Bereich, genau wie die Karrierefrau mit ihren Modetipps. Ich hatte hier das Gefühl, ich kann nochmal eine andere Sprache anwenden – fast wie für ein neutrales Medium, ein Nachschlagewerk. Aber es bietet natürlich auch die Möglichkeit, auf Gemeinheiten hinzuweisen wie den realen Fall, dass eine Frau entlassen wurde, weil sie zu sexy war. Dass das Gericht ihrem Chef recht gegeben und geurteilt hat, das sei gefährlich für seine Ehe und dass er diese Frau entlassen dürfe, ist doch spektakulär. Ich mochte, dass die Sonderkapitel so überraschend daherkommen, weil sie nicht im Inhaltsverzeichnis stehen.

Im ersten Sonderkapitel schreibst du, warum Frauen sich nicht als „Mädels” bezeichnen sollten. Dazu gab es bei postmondän auch schonmal einen Text. Warum sollten sie das aus deiner Sicht nicht tun?

Ich persönlich hasse es einfach, als „Mädels“ bezeichnet zu werden. Wenn ich mit einer Gruppe Frauen zusammen bin und wir sind die „Mädels“, die einen Mädelsabend machen, ist mir das viel zu niedlich, zu lieblich und harmlos. Was soll das? Und Jungs treffen sich dann zum Jungsabend? Sind wir jetzt alle wieder Kids? Es gab eine Zeit, in der ganz viele Produkte im Supermarkt so gebrandet wurden. Auf Prosecco-Flaschen stand dann in Rosa „Für den Mädelsabend“.

Und wieso heißt der Roman eigentlich „Spitzenreiterinnen“?

Die Idee hatte ich auch beim Konzipieren, was eine zweijährige Phase war: Ich glaube, ich habe eine Werbung gehört mit einem Solgan wie „Die Spitzenreiter der Charts“  oder „Spitzenreiter im Sport“. Mir ist dabei aufgefallen, erstens, was für ein tolles, klanghaftes Wort das ist, und zweitens, dass es aber weder „Spitzenreiter٭innen“ noch „Spitzenreiterinnen“ gibt. 

Ich hab mich erinnert, dass ich als Kind, wenn nachts Dauerwerbesendungen zur Schlager-Compilations im Fernsehen liefen, immer schon faszinierend fand, dass es diesen rein männlichen Begriff gibt. Das ist ja ein toller Superlativ, aber man benutzt ihn eigentlich auch nie, außer eben im Sport.

Neulich erzählte mir eine Buchhändlerin, dass bei ihr mein Buch jeden Tag gekauft wird, immer von Männern, und sie sich das Buch ganz lang nicht genauer angeschaut hat, weil sie dachte, das wär ein Buch über Sport oder antifeministischer Scheiß. Sie hat es sich dann irgendwann mal durchgelesen, und mich dann auch gleich zum Signieren eingeladen. Eine wahnsinnig lustige Frau. Spitzenreiterinnen – ein Sport-Roman.

Wäre eigentlich auch ein guter Name für Frauenzeitschriften, oder?

Ja, er klingt dann aber gleich wieder so nach Executive Chick, nach Managerinnen …

Ja stimmt, nach „Powerfrauen“. Das ist ja auch so eine ähnliche Kategorie wie der Begriff „Mädels“, oder?

Richtig schwierig. „Starke Frauen“ ist genau so eine Hass-Kategorie von mir wie „Mädels“.

„Power, also Macht, wird durch Powersuits, Powerfarben und Powerhandtaschen demonstriert. Mode als Power-Tool.“

Jovana Reisinger – Spitzenreiterinnen

Anderes Thema: Dein Debütroman „Still halten“ hat sich ja stark mit der Innenperspektive einer Figur beschäftigt, die an ihrer Umwelt zerbricht. „Spitzenreiterinnen“ konzentriert sich eher auf Außenperspektiven, auf Frauen in ihren Umfeldern. Was ist dir beim Schreiben leichter gefallen?

Der Schreibstil bei „Still halten“ war auch deswegen anders, weil ich versucht habe, über Form und Sprache dem Inhalt eine andere Ebene zu geben, und die Leser٭innen genau so verrückt zu machen wie die Protagonistin, sie in den Wahnsinn zu treiben. Das hat die Erzählerin zu einer unzuverlässigen Begleiterin gemacht. Bei Spitzenreiterinnen ist es leser٭innenfreundlicher. Es gibt ja immer diese kurzen Episoden, alles ist sehr beschreibend, immer mit einer Draufsicht. Auch dadurch, dass es hin und wieder diese kommentierende Erzählerin gibt, hat es eine ganz andere Perspektive. 

Ich würde aber sagen, dass sich rein sprachlich nicht so viel verändert hat, weil beide Sprachen relativ hart sind – das ist zumindest mein Anspruch –, gnadenlos und schonungslos. Was leichter zu schreiben ist, kann ich nicht beantworten, denn in beiden Büchern steckt viel Vorbereitung und eine lange Schreibzeit. In „Still halten“ nochmal wesentlich mehr, zwei Jahre länger, aber die Form, die „Spitzenreiterinnen“ jetzt angenommen hat, entspricht der Sprache, die ich jetzt gerade schreiben möchte.

Bei „Still halten“ gab es ja auch interessante Figuren, zum Beispiel den Förster: ein konservativer Gegenpart zur Protagonistin. Ich hatte das Gefühl, dass du ihm im Roman, trotz seines verschrobenen Verhaltens und Denkens, immer noch viel Liebe entgegenbringst. Kann es sein, dass dir diese Liebe in den Beschreibungen von Männern bei „Spitzenreiterinnen“ abhanden gekommen ist?

Das würde ich jetzt nicht sagen. Lisa hat ja am Ende einen Super Date mit einem Supertypen. Es kommen auch coole, nette, anständige, aufgeklärte Männer vor, die haben aber nicht so viel Platz. Deswegen werden sie auch ein bisschen überlesen.

Männer haben im Roman aber keine Namen, sondern nur Anfangsbuchstaben.

Genau. Die Männer sind durch ihre Taten sowieso präsent genug. Dadurch, dass ich mich auf die Gemeinheiten im Leben von Frauen gestürzt habe, Sexismus, häusliche Gewalt, brauchten diese Männer dann auch gewisse antagonistische Kräfte, und nicht noch mehr Identifikationsmöglichkeit.

Dementsprechend haben die keine richtigen Namen. Wonach hätte ich sie denn auch benennen sollen. Wenn ich meiner dramaturgischen Entscheidung treu bleibe, wonach alle Frauen nach Frauenzeitschriften benannt sind, wie soll ich denn die Männer benennen? Ich kann sie ja nicht „Beef“, „GQ“ und „11 Freunde“  nennen.

Komisch eigentlich, dass Männer-Lifestyle-Magazine nicht auch wie Männernamen heißen, oder?

Genau, die sind eher so nach Dingen benannt. „Beef“ sagt ganz klar, dass „Männer“ anders essen. Ich weiß nicht, was das soll. Und der Planet geht mit dem Fleischkonsum zugrunde. Aber egal. Hier ist dein Steak. In einer Rezension wurde mir vorgeworfen, ich hätte mich als Männerhasserin geoutet – der schlimmsten Form des Feminismus. Ich möchte hiermit sagen, ich bin keine Männerhasserin. Ich versteh auch nicht, wie man das herauslesen kann, aber es ist schon in Ordnung. Ich hab das Gefühl, es geht halt einfach eher um die Frauen. Und es darf auch einfach mal nur um die Frauen gehen. Und die Männer sind einfach Nebendarsteller. Ist doch auch okay.

In vielen Büchern ist es ja andersherum.

Eben, ist doch die ganze Zeit andersherum.

Männer können sich in deinem Roman relativ viel erlauben, kommen bspw. mit häuslicher Gewalt ungestraft davon. Die Frauen haben aber bei kleinsten Abweichungen mit starkem Widerstand zu kämpfen. Wie viel Wut steckt in diesen Beschreibungen?

Wut ist definitiv ein Motor für mich ist. Nicht der einzige, aber ein sehr starker. Ganz viele Szenen im Roman basieren auf realen Ereignissen, teilweise aus meinem familiären Umfeld oder Freundeskreis, teilweise aus Medien, Nachrichten, Erzählungen, die mir zugetragen worden sind. Ich denke dann jeweils weiter, was passen würde. Bei häuslicher Gewalt zum Beispiel: Es ist extrem kompliziert, aus so einer Beziehung wieder herauszukommen. Und es ist unfassbar anstrengend, vor allem wenn Kinder oder wirtschaftliche Abhängigkeiten im Spiel sind. 

Wie mit Tina umgegangen wird, ist für viele Frauen Realität. Dementsprechend war es mir auch so wichtig, ihr Hadern zu erzählen. Ganz oft sind Erzählungen so: „Er hat mich einmal geschlagen und dann bin ich gegangen. Ich geh als starke Frau heraus und mir kann sowas nie passieren.“  Klar, so etwas gibt es auch und es ist super, wenn das klappt. Aber wenn Abhängigkeiten geschaffen und festgezurrt sind, ist es viel schwieriger, wieder herauszukommen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, diesen Mann zu verlassen und zu verraten. In ihren Augen ist sie ja auch so schon schuldig. Sie sagt, eigentlich müsste sie sterben, weil sie so eine schlechte Mama ist. Weder hat sie geschafft, ihre Kinder zu retten, noch ihre Ehe. Es ist wahnsinnig kompliziert, aus solchen Beziehungen herauszukommen. 

Ich wollte ihr Handeln weder bewerten oder verurteilen, sondern den einzelnen Storys Raum bieten, um nachvollziehbar zu machen, wie kompliziert und anstrengend das ist – alleine, zu so einer Beratungsstelle zu gehen und immer wieder diese Geschichte zu erzählen. Man wird immer wieder fotografiert, wenn man nach solchen Übergriffen zum Arzt geht. Die Fotos landen dann in einer Akte. Selbst wenn man schon mehrfach der Polizei gesagt hat, dass der Ex-Freund oder Ex-Mann oder wer auch immer einen attackiert, und ihm ein Annäherungsverbot ausgesprochen wurde, kann er ja trotzdem lauern und dich attackieren. 

Alles ist wahnsinnig anstrengend und kompliziert. Gleichzeitig ist es intensiv für weibliche Opfer häuslicher Gewalt – natürlich auch männliche, auch wenn das ein viel kleinerer Teil ist. Beratungsstellen sind unterbesetzt, man wird ins Frauenhaus gebracht. Warum überhaupt? Wieso wird das Opfer irgendwo hingebracht und nicht der Täter mitgenommen?

Du versuchst also eigentlich schon, etwas einfach so abzubilden, wie es ist?

Ich versuche die Wut in etwas anderes zu transportieren. Das versuche ich in meinen filmischen Arbeiten genauso. Eigentlich ist meine Herangehensweise Humor und Überstilisierung, also Übertreibung. Bei der Szene mit Lisa, in der im Restaurant Austern herumfliegen, wäre ich gern dabei gewesen. Ich find’s auch super, Barbara zu sehen, die auf ihrer Terrasse sitzt und sich so gerne fürchten möchte, weil nichts passiert und ihr so langweilig ist. 

Ihr Mann ist tot, sie ist Rentnerin, sie weiß nicht, was sie machen soll. Als Katalysator sucht sie sich die Angst aus und plötzlich kommt ein Hund dahergelaufen. Und zur Wut: Übergriffe passieren mir, meinen Freundinnen und Freunden gefühlt auf einer daily basis. Sie landen dann in meinen Büchern oder Filmen und kommen so auch wieder heraus. Jetzt zum Beispiel bin ich total friedlich. Ich bin gar nicht mehr wütend.

Was würdest du sagen, welche deiner Protagonistinnen am glücklichsten ist?

Das weiß ich nicht. Ich hoffe, am Ende sind sie alle glücklich. Nach welchen Parametern soll man Glück auch bemessen? Ich versuche sie ja eben nicht zu bewerten. Manche Lebensentscheidungen treffen eher auf meine Identität zu, aber ich find’s auch völlig okay, wenn sie andere Entscheidungen treffen.

Du hast dich beim Schreiben aber ja in alle hineinversetzt.

Ja, und ich liebe sie. Es hat Spaß gemacht, Zeit mit ihnen zu verbringen. Aber ich würde sagen, am Ende sind alle glücklich. Nur bei Tina ist es in bisschen gemein, mit dem offenen Ende. Aber Petra und Brigitte sind madly in love. Das ist doch mega schön. Jolie hat sich für ein Kind entschieden, das sie allein großziehen will. Verena hat eine geile Hütte. Barbara ist im Urlaub, bekommt ihren toten Mann endlich aus ihrem Kopf heraus. Er spricht nicht mehr mit ihr, was ja bestimmt auch ein bisschen anstrengend war. Lisa hat einen neuen Lover und einen geilen Job. Und sie lernt ihre neue Mitarbeiterin kennen, die auch irgendwie cool ist. Laura ist aufgeräumt, hat genau bekommen, was sie wollte. Ich würde unterm Strich sagen, Happy End für alle.

Letzte Frage: Mit wem von ihnen würdest du gerne tauschen?

Ich glaub, ich könnte mir vorstellen, mal in jede hineinzuschlüpfen. Selbst in Tina, die auch einfach eine absurde Stärke hat. Aber ganz tauschen, weiß ich nicht. Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit meinem eigenen Leben. Guck mal, ich bin in einer totalen Luxusposition, sitze zu Hause und bekomme Interviewfragen gestellt. Ich liebe es.

Das ist ja auch was. Vielen Dank für das Interview.


„Spitzenreiterinnen“ von Jovana Reisinger erschien im Verbrecher Verlag, dem wir an dieser Stelle herzlich zum 25. Geburtstag gratulieren. Der Roman hat 264 Seiten.

Wider der klassischen Ausstellungspraxis. Anni Albers im K20

In Düsseldorf läuft seit ein paar Tagen eine Ausstellung zum Werk Anni Albers‘. Die Ausstellung gibt einen umfassenden Eindruck in das Gesamtwerk der Bauhaus-Ikone. Sie offenbart aber auch einige Probleme, mit denen die Künstlerin ihr gesamtes Schaffen lang zu kämpfen hatte.

von Fabian Korner

Anni Albers (1899-1994) kann sicherlich als die ambitionierteste Bauhauslehrerin bezeichnet werden. In der Malerklasse nicht zugelassen, in die Textilklasse verbannt, wollte sie sich zunächst nicht so recht auf das Material (Stoff) einlassen, später sollte es ihr Schaffen bestimmen. Die Ausstellung im K20 zeigt mehr als 200 Werke, Originale sowie Archivaufnahmen, die Leihgaben von verschiedensten Museen und Archivorten sind. In Anni Albers verbinden sich zwei Elemente, die eine klare Kanonkritik darstellen: Zunächst ist sie eine Frau – und mit Frauen in der Kunst tut man(n) sich gerne einmal schwer.

Des Weiteren hat sie mit Textilien, mit Stoffen gearbeitet; einem Material, das bis heute keinen festen Platz in den Kunstakademien hat. Zu sehr ist Stoff – sei es in Form von Klamotten, Bettwäsche oder Teppichen – ­Teil unseres Alltags. Was Teil unseres Alltags ist, wird seltener als Kunstgegenstand wahrgenommen, da Gebrauch künstlerische Qualitäten schmälert. Genau diesem klassischen Verständnis wird sich, so scheint es nach der Ausstellungsbetrachtung, hier widersetzt. Dies geschieht nicht nur durch das Material, sondern auch durch den Umgang mit Formen und Farben. In ihrem frühen Werken ist Geometrie sehr präsent, spätere Überlegungen führen zu mehr Dynamik. Weder die Geometrie, noch die Dynamik in Form und der Art und Weise des Spinnens, können als Selbstzweck verstanden werden. Albers bricht die geometrischen Formen auf konstruktivistische Weise und versucht ein Moment von Bedeutung zu erschaffen.

Der gefühlte Widerstand

Spätestens an dieser Stelle angekommen, fragt man sich, ob das Ausstellungskonzept das Werk überhaupt adäquat wiedergibt oder ob hier Zugriffsarten verstellt werden. Wer schon in Ausstellungen konstruktivistischer Künstler oder Werke (Malewitsch, Kandinsky, Klee) war, der mag sich an das Gefühl erinnern, dass „irgendwas nicht so ganz passt“. Woher kommt dieser Eindruck?

Ausstellung „Anni Albers“ im K20, hier fotografiert von Achim Kukulies, © Kunstsammlung NRW.

Die Ausstellung im Düsseldorfer K20 ist einem klassischen Ausstellungskonzept nachempfunden. Es werden uns die Werke Anni Albers auf geniale Weise pompös vorgestellt – bzw. im ganz buchstäblichen Sinne: vor die Nase gestellt. Kleine Veränderungen, wie das Ablösen vom rein Bildnerischen, dahin, dass ein Gegenstand liegt, um sein räumliches Element zu illustrieren, sind nur kosmetische Gesten und verstellen den eigentlichen Widerspruch. An dieser Stelle sei, bei all der Kritik, gesagt, dass die Ausstellung wirklich gut komponiert ist. Es wurde uns eine Künstlerin präsentiert, die gerne hinter all den Männern versinkt und dazu ein Material, welches selten so begutachtet wird. Im Versuch, dies wie eine Ausstellung eines Otto Dicks, Rennbrand oder Kandinsky aussehen zu lassen, wird versucht, Hegemonie aufzubauen. Es ist eine Form, in der Hegemonie des Kunstbetriebes Frau und Textilien ebenfalls Raum zu geben. Der Versuch muss aber kläglich scheitern. Nicht weil – wie schon betont – das Anliegen oder die Ausstellungskomposition schlecht wäre, sondern weil das Werk nach einem anderen Zugriff verlangt.

Konstruktivismus als Ausgangspunkt

Der Grundgedanke einer konstruktivistischen Kunst ist nicht im Altbewerten neue Foki zu erschaffen, sondern das bisher gedachte grundsätzlich hinter sich zu lassen. Es ist kein Einbruch in Bisheriges, sondern ein Aufbruch mit Neuem. Der Begriff des „neuen“ führt bei Malewitsch zur „gegenstandlosen Kunst“, die nicht zu verwechseln ist mit „abstrakter Kunst“ und letztlich zum schwarzem Quadrat, welches nur wirkt, wenn man versteht welchen Bedeutungshorizont es versucht zu eröffnen. El Lissitzkys Plakat „Roter Keil“ – ein Propagandaplakat der Roten Armee – zeigt auf offensichtlicher Weise wie die, von Malevich geforderte Gegenstandslosigkeit, eben keine Abstraktion, sondern eine vollkommene Neubelebung von Symbolen bedeutet: Ihre alte Bedeutung gilt nicht, ihnen wird neue verliehen.

Auch El Lissitzkys „Roter Keil“ findet Platz in Ausstellungen, hier in Berlin:

© postmondän bei Instagram

Allein dass der Konstruktivismus einen neuen Zugriff benötigt als er durch klassische Ausstellungen gegeben werden kann, ist schon ein erstes Indiz für die Problematik der Aufbereitung ihres Werkes im K20.

Wenn schon ihr eigenes Denken anders funktioniert?

Albers selber war als Lehrerin im Black Mountain College (North Carolina) überaus beliebt und bekannt. Ihre pädagogischen Methoden legen dabei zu gleich ein Zeugnis davon ab, wie sehr ihre Kunst auch außerhalb klassischer Verständnisse zu verstehen ist – ihr eigenes Herangehen möchte ich hier also als Argument anführen. So war es nicht unüblich, dass sie ihre Studierende an einen Strand setzte und diese sollten, lediglich aus den Materialien, welche sie umgaben, nun Gegenstände errichten. Diese Gegenstände waren nicht nur funktional (sie schützten vor Sonne), sondern können durchaus als sehr ästhetisch verstanden werden; ihre Form und Aussehen war häufig sehr unüblich. Weiterhin hat sie Schmuck geschaffen, aus Gegenständen, die sie „einfach zur Hand“ hatte: Haarnadeln, Siebe, Kronkorken. Hier deutet sich das ursprüngliche Element eines konstruktivistischen Denkens an: Baue die Welt neu, mit den Dingen, die du hast.

Anni Albers Anfang der 1930er Jahre, fotografiert von Josef Albers, © The Josef and Anni Albers Foundation / Kunstsammlung NRW.

Bauhaus neu denken

An dieser Stelle verschmelzen Bauhaus und Konstruktivismus zu einer Einheit und enthüllen einen Geist, der nur als modern beschrieben werden kann: Ablösung von bekannten Traditionen und Erschaffen neuer Bedeutungs- und Funktionselementen, durch die Fähigkeiten jedes einzelnen und erlernbar für jeden einzelnen.

Möchte man Anni Albers also ausstellen, sodass ein Zugriff erlangt werden kann, der ihrem Ausdruck gerecht wird, darf nicht in den Formen standardisierter Ausstellungsformate gedacht werden. Eine Kunst wie die von Anni Albers, hat doppeltes Ausbruchspotential: Sie schafft eine neue Sphäre der Hegemonie, in dem sie sich, schon durch ihre Ausdrucksweise, klassischer Ausstellungspraxis entzieht, ebenso durchbricht sie tradiertes Kunstdenken. Ganz im Sinne des Bauhauses, so führt Anni Albers uns vor, ist unsere Welt, jetzt genau, die uns umgibt, Objekt unseres eigenen, künstlerischen Ausdrucks und wir können sie gestalten, neu erfinden und stets umbilden.

Die Ausstellung „Anni Albers“ läuft vom 09.06. bis 09.09.18 im Düsseldorfer K20.


Fabian Korner studiert seit 2014 Philosophie und Germanistik an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Im Rahmen seines Studiums beschäftigt er sich mit den politischen Momenten von Kunst und Kultur. Dabei geht es ihm stets darum, Ausstellungen, Theater, Literatur oder alternative Formate nach ihrer Aktualität zu befragen. In diesem Zusammenhang erfolgt eine Auseinandersetzung mit Kultur, die stets die Frage stellt: „Und was soll ich jetzt damit machen?“

Beitragsbild: © Achim Kukulies / Kunstsammlung NRW

Von Goethe bis Heidi Klum – die dunkle Geschichte der „Mädels“

Das Wort „Mädel“ ist im Sprachgebrauch (wieder) fest verankert. Und das, obwohl bereits aus guten Gründen versucht wurde, es aus dem deutschen Wortschatz zu streichen.


Heidi Klum spricht in den höchsten Tönen von ihren „Mädels“. Jüngst präsentierte der Focus „die besten Filme für den perfekten Mädelsabend“. Und ein Buchholzer Kaufhaus findet, dass sein Shoppingevent mit dem Titel „Mädelsabend“ ein „großer Erfolg“ war. Das Wort „Mädel“ ist gänzlich im alltäglichen Sprachgebrauch etabliert. Aber wer sind diese „Mädels“?

Freigegeben ist Platz sechs der besten „Mädelsabendfilme“, Fifty Shades of Grey, ab 16 Jahren. Heidi Klums Model-Anwärterinnen müssen ebenfalls das 16. Lebensjahr vollendet haben. Und Minderjährige sind nur bedingt geschäftsfähig, sodass sie bei großen Shoppingevents wohl kaum Zielgruppe Nummer eins sind. Nein, mit „Mädels“ sind hier ganz offensichtlich keine Mädchen zwischen sechs und zehn Jahren gemeint. Angesprochen werden Frauen – mehr oder weniger volljährig, aber doch Frauen.

Wann und warum der Trend aufgekommen ist, als erwachsene Frau „etwas mit seinen Mädels zu machen“, ist schwer nachzuvollziehen. Umso wichtig ist es, ihn zu hinterfragen.

„Meine Mädel verstehn’s Handwerk, wie man zu Männern kommt.“ – F. Müller

Man stelle sich vor, Heidi Klum würde statt von ihren „Mädels“ von ihren „Schlampen“ sprechen. Dann wäre das Geschrei aber groß. Auch das Buchholzer Shoppingevent wäre wohl kein großer Erfolg gewesen, wenn dieser Begriff vorherrschen würde. Zugegebenermaßen, diese Bedeutung des Wortes „Mädel“ ist weit hergeholt – nämlich aus der deutschen Sprachgeschichte.

„Mädel“ stammt wie „Mädchen“ von „Magd“ ab. Während im norddeutschen Sprachgebiet das Wort „Mädchen“ verwendet wurde, so war im süddeutschen Raum das Wort „Mädel“ geläufig. Doch ab dem 18. Jahrhundert tauchte „Mädel“ plötzlich auch in norddeutschen Texten auf. Und wie kommentiert das Wörterbuch der Brüder Grimm diese Wendung?

„[W]ährend mädchen der edeln sprache zufällt, bleibt mädel überall auf die trauliche und niedrige rede beschränkt.“ [Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1961]

„Mädel“ ist in dieser Zeit keineswegs positiv konnotiert, sondern beschreibt abfällig Frauen, die wüssten, „wie man zu Männern kommt“, [F. Müller: Adams Erwachen und erste selige Nacht] und „bei drei vier kerls liegen und sie eben der reihe herum lieb haben“ [J. W. v. Goethe: Götter, Helden und Wieland] könnten. Auch wenn der Dichter Johann W. L. Gleim das Wort „Mädel“ als Synonym für „junge Frau“ verwendete, er tat es, so urteilt das Grimm-Wörterbuch, „ohne dasz ihm der sprachgebrauch dazu irgend welches recht gegeben hätte“.

„Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?“ – Goethe

Die Vergangenheit des Wortes hinterlässt einen üblen Nachgeschmack. Aber abgesehen von der Bedeutung der „leicht zu habenden Frau“: Ist es nicht auch beunruhigend, dass „Mädel“ und „Mädchen“ von „Magd“ abstammen? Zwar werden beide Wörter heute nicht benutzt, um eine Leibeigene oder eine Bedienstete zu benennen oder gar sich selbst als eine solche zu bezeichnen. Aber schlägt sich hier nicht die (damalige) Ungleichstellung von Mann und Frau, ja, die traditionelle Rollenverteilung der Geschlechter in der Sprache nieder? Gewagte These, die sich nicht bestätigen lässt. Denn die Begriffsgeschichten der männlichen Pendants „Junge“ und „Knabe“ sehen ähnlich aus: So war der Junge ein „junger mensch in dienender oder in einem handwerk lernender stellung“ und der Knabe einst ein Knecht [s. Grimm: Deutsches Wörterbuch].

„Spinne, Mädlein, spinne! So wachsen dir die Sinne.“ – Volkslied

Trotzdem muss ein bedeutender Unterschied zwischen dem Gebrauch von „Mädel“ und dem von „Junge“ berücksichtigt werden. Zwar gibt es auch den Ausspruch: „Ich mache etwas mit den Jungs“. Jedoch ist „Mädel“ sowie auch „Mädchen“ im Gegensatz zu „Junge“ der Diminutiv, eine Verkleinerungs-, ja, Verniedlichungsform, wie auch „Fräulein“ oder „Mäuschen“. Im Gegensatz zum Wort „Fräulein“ – das laut Duden nicht als Anrede für eine erwachsene weibliche Person, […], benutzt werden sollte – werden „Mädchen“ und „Mädel“ im heutigen Sprachgebrauch nicht mehr als Verkleinerungsformen wahrgenommen. Zu sehr haben sich beide als eigenständige Wörter etabliert.

Aber macht sich eine Frau nicht trotzdem klein, wenn sie sich selbst als „Mädel“ bezeichnet? Wird sie nicht verniedlicht, ja, wenig ernst genommen, wenn sie von anderen so genannt wird? Denn obwohl „Mädel“ und „Mädchen“ den gleichen Ursprung und ähnliche Bedeutungen aufweisen, kaum eine Frau würde sich selbst als „Mädchen“ bezeichnen. Denn während der Duden darauf hinweist, dass „[i]m modernen Sprachgebrauch […] das Wort Mädchen nur noch in der Bedeutung Kind weiblichen Geschlechts verwendet werden“ sollte, da es in „den weiteren veraltenden oder veralteten Bedeutungen […] zunehmend als diskriminierend“ gilt, ist unter dem Wort „Mädel“ kein solcher Hinweis zu lesen. Dabei hat die Geschichte des Wortes „Mädel“ eine noch viel dunklere Vergangenheit.

„[E]rzieht mir die Mädel zu starken und tapferen Frauen!“ – Hitler

„Bei ,Mädel’ weiß […] kaum noch jemand, dass es von den Nazis okkupiert wurde“, so der Sprachforscher Thorsten Eitz im SZ-Interview. Aber was war ein „Mädel“ im Dritten Reich? Die Reichsrefererentin Trude Mohr formulierte 1935 die Zielsetzung des Bundes Deutscher Mädel so:

„Unser Ziel ist der ganze Mensch, das Mädel, das gesund und klar seine Fähigkeiten einsetzen kann für Volk und Staat. Deshalb liegt uns nichts an der Anhäufung irgendwelcher Wissenschaften […], deren Sinn wir nicht verstehen, sondern alles an der Heranbildung der Gemeinschaft und der Mädelhaltung.“ [Trude Mohr: „Mädel von heute – Frauen von morgen“. In: Wille und Macht, Heft 1, Jahrgang 3, 1935]

„Mädelhaltung“? War das Wort „Mädel“ ein Synonym für „im Sinne des Nationalsozialismus zu formendes weibliches junges Wesen“, das mit der „richtigen Haltung“ zu einer – wie Hitler es formulierte – „starken und tapferen Frau“ und zur „kommende[n] Mutter“ [aus: Mein Kampf] herangezogen wird?

Ja, Bedeutungen von Wörtern ändern sich. Nichtsdestotrotz gehörte dieses Wort unzweifelhaft dem „Wortschatz der Gewaltherrschaft“ an, wie es die Autoren des „Wörterbuch der Unmenschen“ von 1957 formulierten. In diesem Buch wird „Mädel“ neben 28 weiteren Wörtern aufgelistet, die nach Meinung der Sprachkritiker Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind aus dem Sprachschatz gestrichen werden sollten. Ihr Ziel war es, die deutsche Sprache von Ausdrücken, die im Dritten Reich für Propaganda verwendet wurden, zu reinigen und diese Wörter wieder fremd zu machen.

„[U]nser Mädelring sucht aufrichtige, stolze und deutsche Mädels und Frauen.“ – Mädelring Thüringen

Hat das funktioniert? Wohl eher nicht. Zwar herrscht die Wortbedeutung des Dritten Reiches nicht mehr vor, jedoch wird „Mädel“ besonders heute inflationär verwendet. Wenn also die Begriffsgeschichte passé, ja, vergessen ist, kann das Wort dann nicht bedenkenlos als Synonym für „junge Frau“ benutzt werden? Nein, denn dieser Frage gehen ganz andere Fragen voraus – nämlich: Ist es nicht bedenklich, dass die Begriffsgeschichte nicht mehr mitgedacht wird? Sollte man sich nicht bewusst von dieser distanzieren? Denn der Begriff „Mädel“ im Sinne des Nationalsozialismus ist alles andere als vergessen. Er wird in rechtsextremen Kreisen noch genauso verwendet. So heißt es auf der Internetseite des Mädelring Thüringen:

„Wir nationale Sozialistinnen aber sind keine Emanzen (!), sondern stolze und selbstbewusste Mädels & Frauen, denen ihre Heimat und ihr Volk noch etwas wert sind.“ [Internetseite des Mädelring Thüringen; zur Recherche kurz ertragen am 20.7.2017]

„Okay, Mädels, jetzt möchte ich aber mal was sehen hier!“ – Klum

Natürlich werden Wörter benutzt – dafür ist Sprache da. Natürlich gehen sie durch verschiedene Epochen und durchlaufen Bedeutungswandel. Natürlich kann nicht jedes Wort, das im Dritten Reich benutzt wurde und noch heute in der rechtsextremistischen Szene gebraucht wird, gestrichen werden. Wie sähe dann unser Wortschatz aus? Und zugegebenermaßen zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Heidi Klum liegt ein sehr, sehr langer Weg, ja, liegen ganze Welten.

Trotzdem ist es manchmal wichtig zu wissen, welche Bedeutungen in einem häufig benutzten Wort mitschwingt und wofür es einst missbraucht wurde – besonders wenn es zur Bezeichnung der eigenen Person dient. Um sich dann zu fragen: Möchte ich mich selbst so nennen oder vom Focus, einem Buchholzer Kaufhaus, von Kolleg٭innen oder Freund٭innen so genannt werden?

James Tiptree Jr. – Die Mauern der Welt hoch

Dass das Genre der Phantastik sich seinen Weg aus der Nischenliteratur heraus zur Weltliteratur erarbeitet, mit universellen Themen wie Demokratie, Patriarchalismus, aber auch Liebe, Tod und Versagen zeigt der neu-übersetzte Roman „Die Mauern der Welt hoch“ von James Tiptree Jr.


Unter den Fans von Science Fiction ist James Tiptree Jr. schon lange bekannt für ihre geniale und über die Jahre hinweg gereifte Kurzprosa, mit Topoi wie Liebe, Versagen, Völkermord oder Tod auf interplanetarischer Ebene, die von witziger Erotik bis zu tiefer Trauer reichen. In den 1970ern war es wie eine Explosion in der Nischenwelt des Genres, als publik wurde, dass sich hinter dem Pseudonym James Tiptree Jr., eine Figur, die doch angeblich immer so maskulin und hart schrieb – was auch immer das bedeuten soll –, eine weißhaarige Frau mit Namen Alice B. Sheldon steckte. Ihr erster von zwei Romanen, „Die Mauern der Welt hoch“ (1978 erstmals im amerikanischen Englisch erschienen) wurde 2016 vom Septime Verlag in der neuen kongenialen Übersetzung von Bella Wohl herausgegeben – im Rahmen der Gesamtausgabe ihres literarischen Werkes.

Der Handlungsstrang des Romans ist dreigeteilt, und ermöglicht es Tiptree so, Geschehen und Orte länger und intensiver darzulegen, aber auch das Tempo, das in ihren Erzählungen und Kurzgeschichten meist recht hoch, manchmal gar kafkaesk ist, zu drosseln. Die entscheidende Entität des Romans ist ein immaterielles Wesen, das sich selbst das Böse nennt und ganze Planeten zerstört. Doch es tituliert sich nicht wegen seiner destruktiven totalen Kraft, für die es geschaffen worden sei, böse, sondern weil es in einem Krieg dieser Wesen in die Einsamkeit desertiert und auf eigene Faust durch das Universum wandelt.

Der zweite Handlungsstrang handelt von dem faszinierenden Planeten Tyree, eine paradiesische Welt, auf der riesige, fliegende rochenartige Wesen leben. Diese Bewohner kommunizieren mit ihren biolumineszierenden Körpern, mit bunt leuchtenden Mustern, die Gefühle und Erlebnisse kommunizieren. Das soziale und politische System dieses Planeten ist wohl faszinierender als die Handlung selbst. Die Tyreaner wirken archaisch, aber sind direktdemokratisch in Versammlungen organisiert. Außerdem sind sie ein patriarchalisches System, das aber matriarchalisch geprägt ist, denn die Männchen erziehen die Kinder, da sie mehr Kraft haben, und sind aus dem Grund, dass sie die Zukunft des Planeten hüten die Anführer, während die Frauen Forscher und Kämpfer sind. Manchen Männern ist auch etwas möglich, das als „Lebensraub“ bezeichnet wird: die Fähigkeit das eigene Bewusstsein in den Körper eines anderen Wesens – auch auf anderen Planeten – zu transferieren und das Bewusstsein des Wirtes mit dem eigenen zu tauschen.

Obgleich Lebensraub als Verbrechen gilt, entscheiden die Tyreaner dies systematisch zu nutzen, als der immaterielle Planetenzerstörer sich ihnen nähert und ihre Existenz somit auszulöschen droht. Sie wollen ihre Körper mit einigen Menschen auf der Erde tauschen (natürlich ohne deren Kenntnis), die metaphysische Fähigkeiten haben, ansatzweise Gedanken lesen können und manchmal auch Zukunftsahnungen haben – eine Gruppe unterschiedlicher Protagonisten mit meist psychischen Problemen, mit denen die US-amerikanische Regierung zu Zeiten des Kalten Krieges experimentiert; die Gruppe befindet sich unter Leitung eines frustrierten Mannes namens Doktor Dan, der von Gewissensbissen getrieben wird, da er seine Frau hat sterben lassen, und gerade dabei ist, sich hoffnungslos zu verlieben.

Die Handlung selbst ist faszinierend, besonders die Schilderungen des Planeten Tyree, deren politisches System, und ihre Interaktion mit den Menschen nach dem Lebensraub. Die Geschichte hat im Grunde alles, was man inhaltlich braucht, um Weltliteratur zu produzieren: die detaillierte Schilderung verschiedenster Kulturen aus der jeweiligen Perspektive der Akteure, eine Mischung aus Liebe, Trauer, Einsamkeit, technologischer und metaphysischer actiongeladenen Szenen, und einer elementaren Bedrohung, sowie tiefe philosophische Reflektionen darüber was politisch und ethisch vertretbar ist – und vor allem was nicht.

Das wird noch garniert durch den einzigartigen Stil von Tiptree und ihrem Spiel mit den Geschlechtern – was sich in Anbetracht ihrer eigenen Künstlerbiographie ja auch geradezu aufdrängt. Ihr Stil ist unprätentiös, knapp, manchmal hart, aber oft einfühlsam und unterstreicht vor allem das Faszinosum um fremde Planeten und Existenzen, was durch die neue Übersetzung umso deutlicher wird.

Jedoch merkt man, dass Tiptree aus dem Genre der Kurzprosa kommt, und es scheint, als ob sie in dieser Gattung sich besser entfalten kann. Beispielsweise verliert sie sich in der ersten Hälfte des Romans gerne in marginale Details. Dadurch verlangsamt sich die Handlung enorm, und wird vor allem von den Gefühlen von der eher grauen Erscheinung des Doktor Dan gehindert. In einer längeren Erzählung hätte sich dies auf ein spannenderes Niveau verdichten lassen. Des Weiteren befindet sich in ihrer Erzählstruktur ein eher unangenehmer Bruch. Während in der ersten Hälfte die drei Handlungsstränge sich regelmäßig abwechseln, verwischen sie in der zweiten Hälfte, und auch die drei Erzählperspektiven verändern sich, vermischen sich oder werden am sehr langatmigen Ende gar auf informatische Weise eins. Aber natürlich bleibt bei diesem Kritikpunkt fraglich, ob sich das überhaupt hätte vermeiden lassen, ohne die Handlung zum Schlechteren zu verändern.

Alles in allem hat James Tiptree Jr. mit „Die Mauern der Welt hoch“ bewiesen, obgleich sie vor allem im Bereich der Kurzprosa brilliert, auch ergreifende und komplexe Romane schreiben kann, und somit mühelos neben Science-Fiction-Giganten wie Philip K. Dick oder den Strugatsky-Brüdern eingeordnet werden kann.

© Septime Verlag

Game of Thrones – Daenerys’ neuer Feminismus

Zu Beginn der ersten Staffel wurden Game of Thrones häufig frauenfeindliche Darstellungen vorgeworfen. Ein paar Staffeln später wurde die Serie bereits für seine Zeichnung komplexer weiblicher Charaktere als feministischer Beitrag gelobt. Liegt der Grund dafür in einem Generationswechsel der Königshäuser von Westeros und Essos, mit dem Emanzipation einiger selbst- und machtbewusster Frauen einhergeht? Betrachten wir den Aufstieg der Daenerys Targaryen mal aus feministischer und filmhistorischer Perspektive.


ein Gastbeitrag von Kerstin Bass

Redaktioneller Hinweis: Es sei ein Spoiler-Alert ausgesprochen, der sich auf Inhalte der ersten vier Staffeln von Game of Thrones bezieht. Zum Verständnis dieses Textes und um auf dem Schulhof mitreden zu können, wird empfohlen, diese vorher anzusehen.

“All men must die. But we are not men.”

Als Frau in Westeros zu leben, kann sicherlich sehr angenehm sein, wenn man sich seiner zugeteilten Rolle fügt. Doch gerade in George R. R. Martins Romanzyklus gibt es viele weibliche Hauptcharaktere, die sich mit ihrer Positionierung in der Gesellschaft nicht zufrieden geben. Sei es nun Brienne, die unbedingt ein Ritter sein möchte und mit den Gepflogenheiten einer Lady nur wenig anfangen kann, Arya, die in ihren jungen Jahren bereits besser Bogenschießen kann als ihre älteren Brüder und dennoch zum Sticken und Nähen verdonnert wird oder Daenerys, die zunächst von ihrem Bruder für eine Armee verkauft wird und durch mehrere extreme Ereignisse selbst in eine Führungsposition gelangt. All diese Frauen haben sich in ihrem festgelegten, gesellschaftlichen System, in welchem ihre Handlungsräume auf die Rollenzuteilung und die hierarchische Einordnung beschränkt sind, neue Handlungsräume eröffnet.

Dass sich durch dieses Schaffen von Handlungsräumen die Charaktere in gewisser Weise selbst verwirklichen können, ist auf den ersten Blick der prägnanteste positive Aspekt. Doch mit dieser Unabhängigkeit und dem Widerstand gegen die Machtstrukturen in Westeros erfolgt auch eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft und das Ausstellen solcher Frauen als monströse Ausnahmeerscheinungen. Eine grundlegende Herausforderung, der sie begegnen müssen, ist die starke religiöse Prägung der Gesellschaft, in der sie leben, die entscheidende Verantwortung für die repressiven Rollenbilder trägt, gegen die sie ankämpfen müssen. Wollen wir die Serie im Wertekontext der Gesellschaft bewerten, die sie produziert hat, so dürfen wir dennoch zunächst nicht den intradiegetischen Wertekontext der Welt aus den Augen verlieren, in der sie spielt.

Religion und Rollenvorbilder im „Faith of the Seven“

Die Religion „the Faith of the Seven“ bietet eine der vielen Möglichkeiten, Handlungsfelder zu strukturieren und die dauerhaften Machtstrukturen der Serienwelt nachzuvollziehen, gegen die diverse weibliche Hauptcharaktere sich auflehnen. Sie ist die vorherrschende Religion in Martins Universum und kann ähnlich dem starken Einfluss der christlichen Religion auf den europäischen Raum im Mittelalter positioniert werden. Martin etabliert im Laufe seiner Erzählung noch zahlreiche weitere Religionen, dennoch ist „the Faith of the Seven“ die prominenteste in weiten Teilen von Westeros. Es ist eine monotheistische Religion, deren einer Gott sieben Gesichter aufweist. Diese sind unterschiedlich charakterisiert und stehen als Rollenvorbilder für das Gute. Will man das Böse daraus ableiten, so findet man es außerhalb dieser Figuration, nicht innerhalb: Boshaft sind demnach nur diejenigen, die nach ihrem freien Willen handeln, außerhalb der Vorgaben dieser Religion. In diesen sieben Gesichtern sind Rollenzuteilungen für alle gläubigen Männer und Frauen streng festgelegt. Martin schreibt in „A Clash of Kings“:

“Catelyn studied the faces. The Father was bearded, as ever. The Mother smiled, loving and protective. The Warrior had his sword sketched in beneath his face, the Smith his hammer. The Maid was beautiful, the Crone wizened and wise. And the seventh face … the Stranger was neither male nor female, yet both, ever the outcast, the wanderer from far places, less and more than a human, unknown and unknowable.”

George R. R. Martin: A Clash of Kings: 495 ff.

Teilen wir die Sieben geschlechterspezifisch auf, haben wir auf der Seite der Männer den Vater, den Krieger und den Schmied und auf der Seite der Frauen die Mutter, das Mädchen und das alte Weib. Betrachtet man die im Zitat hinzugefügten Eigenschaften, so erkennen wir, dass den männlichen Gesichtern (Schmied und Krieger) eindeutige Professionen oder Berufe zugeschrieben werden, während man auf der weiblichen Seite keinerlei solcher Hinweise findet. Eben dieser Vergleich zeigt bereits, wie die Hierarchie und Rollenverteilung in Westeros funktioniert. Männlichkeit wird mit dem Aktiven, Kriegerischen und Handwerklichen verbunden, während der Frau der familiäre, passive und unterstützende Part zugeschrieben wird. Mädchen beispielsweise haben keine andere Eigenschaft, als dass sie schön sind. Weder Mann noch Frau haben eine freie Wahl, in welcher Weise oder ob sie sich überhaupt einordnen wollen. Hierarchisch gesehen stehen laut dieser Ordnung die Frauen als passiver Part immer in Abhängigkeit zum aktiven männlichen Part, was ihre Handlungsräume stark strukturiert und einschränkt.

Dies steht konträr zu den Grundgedanken feministischer Theorien, wird in ihnen die Macht der Frau als Selbstbestimmung außerhalb von geschlechterspezifisch zugeteilten Rollen und kulturellen Codices verstanden. Eine Betrachtung der vorherrschenden Religion soll hier nur beispielhaft für diverse Faktoren angeführt werden, auf welchen andere hierarchische Aspekte basieren, durch die auf die weiblichen Hauptcharaktere in Game of Thrones Macht ausgeübt wird. Das Machtgefüge von Westeros, in dem sich primär alles um das Erlangen des eisernen Throns dreht, ist folglich eines, in welchem Frauen als freie Subjekte in ihren Handlungsräumen eingeschränkt werden und dadurch für sie die Macht, auf dem eiserenen Thron zu sitzen und somit Herrscherin über die „Seven Kingdoms“ zu sein, ebenso unwirklich scheint, wie die Macht, allein über sich selbst und die eigene Positionierung in der Gesellschaft zu entscheiden.

Ebenfalls beispielhaft soll nun im Serienkontext ein besonderes Gewaltmittel zur Unterdrückung von Frauen untersucht werden, das nicht nur im Fortgang der Geschichte der Seven Kingdoms, sondern auch in der Filmhistorie ein zentraler Aspekt in der Darstellung von Frauen ist: sexuelle Gewalt. An ihnen lässt sich die besondere Stellung Daenerys Targaryens bemessen, die diese nicht nur gegenüber den religiösen Rollenbildern ihres eigenen Kosmos, sondern auch gegenüber filmischen Rollenvorbildern einnimmt.

Vergewaltigungen, Transformation und die Machtergreifung der Frau

Im Machtsystem von Westeros wie auch in Essos ist sexuelle Gewalt ein sehr zentraler Aspekt. Der Akt einer Vergewaltigung ist eine Gefahr, die für viele der weiblichen Charaktere omnipräsent ist und die gewalttätige Dominanz des Mannes über die Frau verdeutlicht. Sansa wird während eines Aufstands des Volkes fast vergewaltigt, Brienne wird von Jamie Lannister vor einer Vergewaltigung bewahrt, Arya muss sich nach dem Tod ihres Vaters als Junge verkleiden, um Vergewaltigungen zu vermeiden und Daenerys wird sowohl von ihrem Bruder sexuell belästigt, als auch von ihrem Ehemann, mit welchem sie zwangsverheiratet wurde, vermeintlich vergewaltigt.

Dabei wird häufig in Bezug auf die HBO-Serie diskutiert, dass die Darstellung vom Missbrauch an Frauen als Unterhaltung gehandelt und somit legitimiert wird. Tatsächlich stellt sich hierbei nicht die Frage nach einer frauenfeindlichen Inszenierung als Unterhaltung. Vielmehr sollte hierbei beachtet werden, dass diese Omnipräsenz einer Gefahr der Vergewaltigung zusätzlich zu den strengen Rollenverteilungen die Handlungsräume der weiblichen Charaktere einschränkt oder bestimmt. Zusätzlich kann sie jedoch auch eine Transformation der Charaktere antreiben, welche wiederum ein wichtiger Bestandteil der Charakterentwicklung ist. Beispielsweise kostümieren sich Arya und Brienne, nehmen andere Identitäten und andere Rollenverteilungen an und Daenerys transformiert sich durch das Feuer zur „Mother of Dragons“. Eine ähnliche Entwicklung kennt man aus Plotstrukturen des Rape-Revenge-Genres. Hierbei erfolgt bei den weiblichen Charakteren nach dem Gewaltakt ebenfalls eine Transformation, die meistens äußerlich festzustellen ist.

Girls with Guns in Game of Thrones?

Julia Reifenberger, die das Genre in ihrem Buch Girls with Guns – Rape & Revenge Movies analysiert, stellt bloß, dass die Entwicklung vom Opfer zum Täter in den Filmen häufig eine bestimmte Monstrosität in Bezug auf den weiblichen Rächer und Bedrohung gegenüber dem vorherrschenden männerdominierten gesellschaftlichen System mit sich zieht. Keinesfalls kann man dieses Inszenierungsmuster vollkommen, einer Schablone ähnlich, über die weiblichen Charaktere aus A Song of Ice and Fire übertragen. Jedoch sind einige signifikante Parallelen zu erkennen. Bei Seriencharakteren, die sich Handlungsräume schaffen, können wir oft die Beschreibung und Inszenierung einer bestimmten Hässlichkeit oder gar Monstrosität erkennen. Ebenso wie sich im Rape-Revenge-Genre das Opfer gegen die männliche Dominanz wehrt und weiter sogar Rache an den Tätern ausübt, so sehen wir auch an Charakteren wie Brienne und Arya nicht nur einen Widerstand gegenüber eines dominierenden männlichen Geschlechts, sondern auch starke Tendenzen zu Rachegelüsten. Lady Brienne etwa schwört Rache, nachdem Renly getötet wurde, und Arya fokussiert sich auf die Rache als ihre zentrale Agenda und wiederholt jede Nacht die Namen aller, an denen sie Rache nehmen will.

Besonders bemerkenswert ist, dass hierbei von einem Verlust der Unschuld durch die Taten anderer gesprochen wird. Es geht folglich ebenso wie im Rape-Revenge-Film um einen Verlust einer Unschuld oder auch Kindlichkeit, welcher dann in einer Transformation des Charakters zu einer tödlichen Rächerin mündet. Während sich Arya im späteren Handlungsverlauf dann nach Bravos begibt, um sich als Assassine ausbilden zu lassen und sich aus den Machtstrukturen herausnimmt, geht Daenerys anders mit dem Verlust ihrer Kindlichkeit und Unschuld um.

Daenerys‘ Zwangsvermählung. Ausgang eines Rape-and-Revenge-Schemas?

In der kompletten ersten Episode sehen wir Daenerys passiv gegenüber Männern – und eine starke Ausstellung ihres Körpers. Auf den ersten Blick sehen wir sie so inszeniert, wie die feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey den männlichen Blick beschreibt: nämlich indem die Inszenierung einer Codierung des Erotischen in die Sprache der dominanten patriarchalen Ordnung folgt, was eine Objektifizierung der Frau als zu betrachtendes Objekt verursacht, in welches männliche Fantasien projiziert werden. Doch bei genauerer Untersuchung wird sichtbar, dass Daenerys die Figur ist, aus deren Blickachse wir die Geschehnisse betrachten. Ein weiterer Aspekt ist, dass extensive Kamerafahrten, die über ihren Körper fahren, sehr selten mit der Blickachse von männlichen Protagonisten verknüpft werden. Als Khal Drogo sie in einer späteren Sequenz begutachtet, sehen wir Daenerys in einem semi-transparenten Kleid zusammen mit Viserys vor dem Eingang eines Gebäudes stehend. Khal Drogo kommt mit ein paar weiteren Männern seines Volkes angeritten um die Brautschau zu vollziehen.

Die komplette Szene verfolgen wir mit Point-of-View-Aufnahmen oder Eye-line Matches, welche mit Daenerys’ Blick verknüpft sind. Des Weiteren sehen wir häufig in Szenen, in denen Daenerys mit männlichen Charakteren interagiert, eine Art der Inszenierung, wo die Kamera auf ihrer Blickebene verweilt und die Männer, die allesamt größer als sie sind, insbesondere in halbnahen Einstellungen aus dem Kader herausragen. Daenerys ist folglich trotz ihres zunächst passiven Verhaltens stets das Zentrum des Kamerablicks, um welches sich alle anderen Positionen konstruieren.

Verschleppung zum Dothrakischen Meer

Auf der Ebene des Blickes des Charakters finden wir folglich in den meisten Fällen einen weiblichen Blick, da dieser eng mit Daenerys verknüpft ist. Betrachten wir die Inszenierung von Drogo und den Dothraki, können wir zudem eine weitere Parallele zum Rape-Revenge-Genre entdecken. Carol J. Clover nennt dies in ihrem Buch Men, Women, and Chain Saws den „double-axis revenge plot“, in welchem eine doppelte Plotachse zwischen dem Opfer und dem Täter und auch der Stadt gegen das Land etabliert wird. Die Stadt/Land-Achse des Plots bezeichnet dabei häufig einen Besuch oder Umzug von einem urbanen oder suburbanen Charakter aufs Land. Der Städterin sind dabei die Menschen auf Land und ihre Lebensstandards nicht nur fremd, sondern sogar bedrohlich. Clover schreibt hierzu:

„People from the city are people like us. People from the country […] are people not like us.“

Eine ähnliche Struktur finden wir auch bei Daenerys, welche im Grunde genommen von der Stadt Pentos aufs Land in ein Nomadenvolk verheiratet wird. Dass dieses Volk auf sie beängstigend wirkt, sehen wir in der Hochzeitssequenz, in welcher sie mit Khal Drogo verheiratet wird. Wir sehen zahlreiche Aufnahmen von Sitten, Gebräuchen, exotischen Tänzen, welche durchsetzt sind von Aufnahmen von Daenerys’ schockierten und ängstlichen Blicken. Erneut folgen wir hier auf der Charakterebene einem weiblichen Blick und zusätzlich wird dieser durch establishing shots und Kamerafahrten durch die Veranstaltung mit dem Zuschauerblick verknüpft. Anhand dieser Beispiele sehen wir folglich, dass die Inszenierung von Daenerys in großen Teilen auf die Inszenierungsmuster der Rape-Revenge-Films zurückgreift, dabei einen überwiegend weiblichen Blick verfolgt, wodurch wiederrum Daenerys trotz passiver Haltung zu den anwesenden männlichen Charakteren, als „gaze holder“ eine aktive Position einnimmt. Aus dieser passiven Haltung gegenüber Männern und der unfreiwilligen Hochzeitsnacht mit Khal Drogo entwickelt sich der Charakter Daenerys von einer kindlichen Braut hin zur ersten weiblichen Führerin eines eigenen Nomadenvolkes.

Die Machtergreifung der Mother of Dragons

Die erste Staffel über gelingt es ihr schließlich, sich mit der Zwangshochzeit und ihrem Ehemann zu arrangieren, mehr noch Gefallen an dem Leben an seiner Seite zu finden, sich aus den Befehlen von Viserys zu befreien und eine eigene Agenda als Anführerin an der Seite Drogos zu entwickeln. Am Ende Staffel schafft sie es zudem, durch den plötzlichen Tod Drogos und dessen Feuerbestattung, drei Dracheneier, welche ihre Hochzeitsgeschenke waren, zum Leben zu erwecken und schlüpfen zu lassen, sodass sie fortan die einzigen lebenden Drachen in ihrer Obhut hat. Ab diesem Zeitpunkt beginnt sie eine beschwerliche Reise, in welcher sie versucht, sich eine Armee aufzubauen um nach Kings Landing zurück zu kehren und selbst den eisernen Thron zu besteigen. In ihrem Buch Power and Feminism in Westeros stellt Spector auf diese Entwicklung fest:

„As she gathers her army together, Daenerys begins to sacrifice aspects of her personality. She becomes harder and less compassionate, her choices less personal. A sweetness that she had at the beginning of the series is slowly burning away as she becomes more and more powerful.“

Betrachten wir nun diese Punkte und Inszenierungsweise und verknüpfen diese auf dieselbe Weise, wie es zuvor mit den anderen weiblichen Charakteren geschehen ist, können wir erkennen, dass Daenerys’ Einführung und Positionierung der von Sansa sehr ähnlich ist. Beide werden als Mädchen verheiratet und dabei auf ihren Körper reduziert. Im Gegensatz zu Sansa gibt sich Daenerys dem jedoch nicht kampflos hin, sondern versucht, ihren enorm eingeschränkten Handlungsraum zu erweitern. Durch die sehr stark der Inszenierungsweise des Rape-Revenge-Films ähnelnden Darstellung, können wir bereits erkennen, dass aus dem dominanten Verhalten der männlichen Protagonisten gegenüber Daenerys eine Transformation dieser vom Passiven ins Aktive stattfinden wird.

Quelle: YouTube

Daenerys rächt sich zwar nicht direkt in Bezug auf einzelne Personen, jedoch widerstrebt auch sie den Machtbeziehungen Westeros’ und dies in einer so extremen Weise, dass sie durch das Aufbauen einer Gefolgschaft und einer Armee nicht nur ihre eigene Agenda entwickelt, sondern zusätzlich auch ihr eigenes Machtsystem konstruiert, welches nicht mit dem vorgegebenen patriarchalen System Westeros’ übereinstimmt. Daenerys wird vom unterdrückten, handelnden Subjekt zu einer machtausübenden Instanz. Sie wird zu einer Führungsperson, welche versucht, mit bestem Gewissen ein Volk zu führen. Wir sehen folglich, dass Daenerys sich nicht nur in die Lage versetzt, ihren eigenen Handlungsraum zu strukturieren, sondern auch die Führung und damit die Strukturierung der Handlungsräume anderer übernimmt. Dabei setzt sie sich selbst als Frau nicht in den Vergleich zu Männern, indem sie im Gespräch mit einer anderen Frau betont:

„All men must die. But we are not men.“

Mother of a new feminism?

Trotz ihrer stark körperzentrierten und sexualisierten Inszenierung ist Daenerys durchaus in der Lage, eine Führungsperson zu verkörpern, welche sich nicht gezielt gegen die Männerwelt durchsetzt, sondern sich selbst erst gar nicht in einem Vergleich dazu positioniert. Dabei schafft sie es, sich gegen die Machtverhältnisse sowohl der des „Faith of the Seven“ als auch der Dothraki-Gesellschaft durchzusetzen, in denen sie als Frau unterdrückt wird um einen selbstbestimmten Weg zur Macht zu finden. Was beim Rape-Revenge-Genre darin endet, dass die unterdrückte und dominierte Frau selbst zum gewaltsamen Täter wird und somit in ständigem Vergleich zu ihren männlichen Tätern steht, verhält  es sich in Game of Thrones anders, da man bei Daenerys etwa nur schwer von einer direkten Täterschaft der Charaktere sprechen kann. Sie rächt sich nicht direkt, wird jedoch, als sie Sklaventreibern dasselbe antut, was diese ihren Sklaven antaten, mit einer ähnlichen Opfer-Täter-Thematik konfrontiert.

Betrachtet man hierzu noch den Kommentar von Sarah Clarke Stuart, dass in es Fernsehserien zwei Tendenzen für starke weibliche Charaktere gibt, die Burschikose und die Verführerin, können wir feststellen, dass eine solche Einteilung im Falle von Daenerys völlig unzulänglich ist, aber auch generell nicht der Komplexität weiblicher Charaktere in Game of Thrones gerecht wird. Dies eröffnet nicht zuletzt einen wichtigen Diskurs, nämlich, dass starke Frauen, nicht wie im Rape-Revenge-Genre erst zum Täter werden müssen um sich zu emanzipieren, sondern sich nach diesem Modell außerhalb eines Vergleichs zwischen Mann und Frau eigene Handlungsräume erschließen müssen.

Literatur:

Clarke Stuart, Sarah: Into the Looking Glass – Exploring the Worlds of Fringe, CDN 2011.

Clover, Carol J.: Men, Women, and Chain Saws – Gender in the Modern Horror Film, USA 1992.

Martin, George R.R.: A Clash of Kings, USA 2005.

Mulvey, Laura: visual and other pleasures, USA 2009.

Spector, Caroline: “Power and Feminism in Westeros”, in James Lowder (Hrsg.): Beyond the Wall – Exploring George R. R. Martins A Song of Ice and Fire, USA 2012, 169-188.

Reifenberger Julia: Girls with Guns – Rape & Revenge Movies: Radikalfeministische Ermächtigungsfantasien?, D 2013.


Kerstin Bass postmondänKerstin Bass absolvierte 2012 ihren Bachelor an der Freien Universität Berlin. Dort belegte sie Filmwissenschaft im Kernfach und Publizistik und Kommunikationswissenschaften im Nebenfach. Im März 2013 begann Kerstin ihren Masterstudiengang im Fach Filmwissenschaft. Ihr primäres Forschungsinteresse liegt im digitalen Kino sowie dem Horrorfilm und dem asiatischen Kino. Besonders faszinierend an filmwissenschaftlichen Methoden findet sie die Identifikation von Blickkonstruktionen, Farbwirkung und die Filmrhetorik. In ihrer Freizeit findet man sie öfters vor diversen Spielekonsolen, im Kino, auf Konzerten oder mit einem guten Buch oder Manga in der Hand.

Titelbild: © Le Colmer

Maria Wende: „IDEA.fabric“ – Urbane Symptome im dörflichen Idyll

Maria Wende: "IDEA.fabric"

Ausgefallene Kleidung ist hierzulande nichts Außergewöhnliches, bunt gemusterte Burkas hingegen schon. Maria Wende lässt die selbstentworfenen Stücke zu gewissen Anlässen von freiwilligen Teilnehmern tragen und schlüpft auch selbst hinein. Wer hier das Werk einer innovativen Modemacherin vermutet, liegt falsch. Maria Wende ist Künstlerin. Als fotografische Assistenz durfte ich ihre Performance IDEA.fabric im Rahmen eines Wettbewerbs begleiten.


Zum Anlass seines 40-jährigen Bestehens dachte sich der Kunstverein Oerlinghausen etwas Besonderes aus. Unter dem Motto 7 Künstler, 7 Tage und mithilfe einer bundesweiten Ausschreibung lockte er sieben junge Künstler in das beschauliche Städtchen im Teutoburger Wald. In der letzten Maiwoche sollten die Künstler den Ort erkunden und abschließend ihre Ergebnisse in der ehemaligen Synagoge präsentieren. Das Sahnehäubchen des Ganzen: ein mit 1000 Euro dotierter Preis. Maria Wende war eine der teilnehmenden Künstlerinnen. Mit Burkas und zwei Assistenten im Gepäck besuchte sie Oerlinghausener, die sich über einen Aufruf in der örtlichen Presse gemeldet hatten.

Ja, Burkas. „Afghanisch geschnitten, aber verwestlicht“, wie die Künstlerin sagt. Die Muster der Stoffe reichen von schwarzweißem Leoprint bis zu einem Apfelmuster, das ziemlich nahe an das Logo eines großen US-amerikanischen Konzerns heranreicht. Vor einem Jahr hatten Maria Wendes Burkas Premiere auf der Hamburger altonale17. Mit vier weiteren Burkaträgern, darunter zwei Männer, bewegte sie sich im öffentlichen Raum Hamburgs. Damit erregte sie ohne Zweifel Aufsehen, wobei die Reaktionen sehr unterschiedlich ausfielen. Hamburg 1 befragte die Aktion exklusiv in einem Interview.

Für Oerlinghausen packte Maria Wende die Burkas wieder aus. Gemeinsam mit Künstler und Projekt-Assistent Florian Münchow und mir unternahm sie insgesamt fünf Hausbesuche im Ort. Während die beiden eine Burka trugen und von den Hausherren bzw. –damen eine Hausführung bekamen, dokumentierte ich den Besuch mit der Kamera. Von jedem Besuch wurde ein Foto ausgewählt, das im Anschluss im öffentlichen Raum Oerlinghausens mehrfach plakatiert werden sollte.

Hausbesuch in Oerlinghausen


Burka 2.0

Was aber sollen die bunten Burkas? Maria Wende hat sich vor der Variation des im hiesigen Kulturkreis unüblichen Kleidungsstücks mit dem Originalen intensiv auseinandergesetzt. „Die originalen Burkas sind einfarbig. Schwarz, blau oder auch weiß. Im Gegensatz zu meinen bunten reichen sie nicht bis zum Boden, sondern höchstens bis zu den Knien.“

Burkas sind ein kulturelles Kleidungsstück, kein religiöses. Getragen werden sie vor allem im öffentlichen Raum Afghanistans. In der westlich geprägten Kultur ist die Vollverschleierung unüblich bis rechtswidrig. Nachdem das Burka-Verbot in Frankreich durchgesetzt wurde, fragte sich Maria Wende konkret, ob die Verschleierung der Frau tatsächlich den Gipfel ihrer Diskriminierung darstellt.

„In Deutschland zum Beispiel tragen Polizisten und Polizistinnen dieselbe Uniform. Polizistinnen müssen jedoch immer noch stärker um Anerkennung kämpfen als ihre männlichen Kollegen. Die Mechanismen der Diskriminierung greifen auch dort, wo eine Gleichstellung von Männern und Frauen eigentlich gegeben sein sollte“, sagt sie.

Dörfliche Idylle feat. Urbanismus

Die Kleider hatte die Künstlerin bei einer Schneiderin maßanfertigen lassen. Da nicht alle Altona-Teilnehmer in Oerlinghausen mitwirken konnten, hatte Maria Wende überlegt, Vertreter zu suchen.

„Diese Idee stieß auf wenig Begeisterung“, erinnert sie sich, „Interessanterweise identifizieren sich die Träger mit ihrer Burka.“ Florian Münchow bestätigt: „Bevor jemand anderes meine Burka trägt, habe ich mir lieber eine Woche Urlaub genommen.“

Ihre Absicht ist es nicht, tatsächlich Burka tragende Frauen anzugreifen. Im Rahmen ihrer Performance interessierte die Künstlerin das direkte Miteinander. Maria Wende kehrte den üblichen Burka-Dresscode – das Tragen im öffentlichen Raum – um. Sie und Florian Münchow unterhielten sich vollverschleiert mit den Gastgebern meistens über die kommunikativen Barrieren oder Schwierigkeiten beim Essen (ja, Kaffee und Kuchen wurden achtsam unter der Burka verzehrt). Dabei vertiefte sich häufig der gesellschaftspolitische Diskurs um und über die Verschleierung von Muslima und kulturell geprägte Frauenbilder im Allgemeinen. Manche Gastgeber waren neugierig und schlüpften selbst in eine Burka.

Plakate in Oerlinghausen

Teil Zwei des Projektes fand im öffentlichen Raum Oerlinghausens statt. Momente der Situationen im privaten Raum wurden somit nach außen getragen. Nach der Sichtung des Fotomaterials wurde jeweils ein Motiv für ein Plakat pro Tag ausgewählt. Mit dem Titel IDEA.fabric, der auf jedem Plakat wie eine Seriennummer steht, verweist Maria Wende auf die mustergültigen Wohnraumkonzepte einer allseits bekannten Möbelhauskette.

In Anbetracht der sieben Plakate wirkt das immer wiederkehrende Motiv der bunten Burkas wie ein vereinheitlichendes Möbelstück, das den verschiedenen Innenräumen Fremde gibt und Isolation nimmt.

„Klingt lustig, lass ma‘ machen!“

Welcher Aufwand in einer Woche Kunstprojekt steckt, die allgemeine und spezielle Organisation, Umsetzung, einen Feiertag, einen Brückentag und den Aufbau der Ausstellung beinhaltet, wurde schnell spürbar. Bereits vor Projektantritt wurde Maria Wende klar, dass sie ihre für Oerlinghausen konzipierte Arbeit abändern muss. „Wenn ich eine Idee für ein Projekt habe, denk ich immer: Klingt lustig, lass ma‘ machen! In der Praxis sieht das dann meistens anders aus.“

Missverständnisse mit der Druckerei, an die sie sich bereits im Voraus für die Produktion ihrer A1-Plakate gewandt hatte, führten dazu, dass der zeitliche Plan – pro Tag ein Hausbesuch und die Produktion eines Plakatmotivs – radikal gestaucht und umstrukturiert werden musste. Es fanden letzten Endes fünf statt sechs Hausbesuche statt und es mussten räumliche Alternativen gesucht werden. So waren einige Gastgeber tief enttäuscht, dass das „Team Burka“ kurzfristig absagen musste. Trotz allem wurde wie geplant produziert und plakatiert.

Die anonymen Reaktionen auf die Plakate spiegelten den Umgang urbaner Objekte im Dorf wider: Viele wurden scheinbar ignoriert bzw. toleriert, einige wurden abgerissen und bekritzelt, eines wurde offensichtlich sorgsam abgenommen, bevor der Kleister überhaupt trocknen konnte. Facetten von Spießigkeit und Vandalismus wurden auf diese Weise sichtbar und betonten auch ortsspezifische Klischees.

Den Preis holte sich letzten Endes der (wundersame Zentaur) Daniel Chluba aus Berlin. Insgesamt reichte die einwöchige Erfahrung von bizarr bis scheintot. Mal sehen, wann und wo Maria Wende zunächst ihre Burkas aufschlagen wird.

Titelbild und Beitragsbilder: © Le Colmer/Maria Wende

In your face. ANOHNI und die Hoffnungslosigkeit

Pop und Weltschmerz – wie geht das zusammen? Hopelessness heißt das Solo-Debüt der Künstlerin Anohni (zuvor bekannt als Antony von Antony and the Johnsons), die ihren Unmut in elf Tracks kundtut. Es ist ein an der sich zuspitzenden weltpolitischen Lage und der globalen ökologischen Situation gewachsener Unmut. Anohni setzt dabei bewusst auf Unmissverständlichkeit: Der Eingangstrack heißt Drone Bomb Me und das Herzstück des Albums Obama.


Im letzten Jahr erschien Björks kathartisches Vulnicura (2015), das sich geschlossen den schweren Thematiken Liebe und Trennung widmete, ohne sich dabei als ein affektierter Soundtümpel zu entlarven, in dem sich das emotionale Wesen Björk selbstmitleidig wälzt. Die Kompositionen haben den ausgedrückten, individuellen Schmerz der Künstlerin auf eine objektivere Ebene gehoben, welche die nötige Distanz zwischen Interpretin und Zuhörer geschaffen hat. Hopelessness funktioniert da ähnlich. Bei aller von Anohni ungehemmt geäußerten Betroffenheit schafft sie es zum Großteil, das klebrige Kitschnäpfchen zu umgehen, indem sie zum einen mit warmer Leidenschaft zornige Zeilen singt und zum anderen auf populären Dance-Sound à la Hudson Mohawk und Oneohtrix Point Never setzt.

Dass Björk Anohni ein paar Mal zum Duett eingeladen hat, merkt man irgendwie. Der erste Track Drone Bomb Me erinnert entfernt an Hyper-ballad, wobei Anohnis Akteurin nicht auf dem Berg steht, um Sachen herunterzuwerfen, sondern um von einer Drohne abgeschossen zu werden. Es könnte eine Ode an die unerreichbare Liebe sein, wenn nicht dieses Drone vor dem Bomb wäre. Das Musikvideo dazu ist Promi-technisch sowie emotional stark aufgeladen und findet in einem düsteren Ambiente statt.



In 4 Degrees prallen Pauken und Fanfaren auf Anohnis sanften, doch kräftigen Gesang und erinnern zum Teil an Woodkid; jedoch hat der Song nichts von dem Pathos, den Iron oder Run Boy Run transportieren. Anohni beschwört apokalyptische Szenarien einer an der Erderwärmung zugrunde gehenden Flora und Fauna herauf, die zum Teil bereits eingesetzt haben. Die kritische Sängerin kann noch konkreter: Wie Black Lake das schwarze Herz von Vulnicura ist, so ist Obama das von Hopelessness. Die enttäuschte Liebe ist politisch, aber deshalb nicht weniger schmerzlich zu verdauen.

Nichts scheint sie auszulassen: Lässt man beim Song Crisis die ersten beiden Buchstaben weg, hat man den Adressaten des Stücks gefunden. Die Sängerin gerät zum Schluss des Liedes in eine barmherzige „I’m sorry“-Spirale, was ihm eine leicht sülzige Note verleiht. Spätestens hier merkt man, dass der Spagat zwischen inhaltlichem Anspruch und akustischer Ästhetik gar nicht so einfach ist. Anohni beschreibt auf Deutschlandradio Kultur ihr Solo-Debüt treffend als „trojanisches Pferd“.

Im Fadenkreuz stehen vornehmlich die profitorientierten Machenschaften der USA. Offensichtlich in Execution („It’s an American dream“) oder Marrow („We are all Americans now“), unterschwelliger in der zärtlichen NSA-Hymne Watch Me („Daddy, Daddy (…) I know you love me / ‘Cause you’re always watching me“). Das fragmentarische, feministische Mantra Violent Men reiht sich in die Abrechnung mit sämtlichen Mechanismen und Akteuren der Unterdrückung ein.



Dieses Album ist ein nicht leicht zu schluckender Brocken. Eine bessere Aussicht, geschweige denn ein Happy End bleibt dem Hörer verwehrt. Hopelessness ist ein konsequentes Werk. Die erste Hälfte des gleichnamigen Songs wirkt wie eine wässerige Version von Family Violence aus Arcas Erstling Xen (2014), das wohl zu einem der genialsten Electronic-Alben des Jahrzehnts gezählt werden darf. Überraschend dringt der klagende Gesang Anohnis in Gospelgefilde vor und wiederholt stetig „How did I became a virus?“, als wolle sie eine Antwort herbeibeschwören.

Keine Illusionen, keine Antworten. Das unermüdliche Ausbreiten und Aufgreifen der immer selben Themen Erdzerstörung, Unterdrückung und eben Hoffnungslosigkeit unterstreicht, wie ernst es der Künstlerin damit ist. Auf ihrer Homepage sind die Songtexte sogar in 15 Sprachen zu lesen. Hopelessness verkörpert eine dystopische Realität. An manchen Stellen wirkt die von Anohni animistisch gemalte Natur zu dick aufgetragen und die gewollte Direktheit etwas unbeholfen. Nichtsdestotrotz ist das Album hörenswert, da es auf eigensinnige Weise Kritik an unserem Zeitgeist übt.

Titelbild: © Inez van Lamsweerde & Vinoodh Matadin

Feminismus mit oder ohne Technik

Auf der Berlin Feminist Film Week wurde das Science-Fiction Genre endlich `mal ein wenig umgekrempelt. Frauen schrieben Drehbuch, führten Regie und machten den Großteil des Castings aus. Mit Advantageous ist eine dystopische Schau in die Zukunft entstanden, die uns widerspiegelt, was an dem heutigen Verhältnis von Arbeit/Frauen und Wissenschaft/Technik schief läuft.


Im Rahmen der Berlin Feminist Film Week lief Advantageous. Die Regisseurin Jennifer Phang schrieb zusammen mit der Hauptdarstellerin Jaqueline Kim das Drehbuch. Zunächst als Kurzfilm für Netflix produziert, wurde dieser 2012 beim Sundance Film Festival gezeigt und später als Feature zu einem vollen Spielfilm ausgearbeitet. Angekündigt wurde „feminist sci-fi at its best“. Ich erwartete also einen feministischen Science-Ficiton Film. Vor allem erwartete ich eine Geschichte, in der Frauen sich behaupten und vielleicht auch gerade durch Technik mehr Macht bekommen oder sie sich nehmen. Ich hatte hier an anderer Stelle bereits auf das speziell gesellschaftskritische Potenzial von Science-Fiction aufmerksam gemacht. In Science-Fiction-Filmen speist sich die Not, mit der neue technische Innovationen erforscht und realisiert werden, fast immer aus ganz grundsätzlichen Fragen, die die menschliche Existenz betreffen. In vielen populären Filmen sieht das so aus: Der Lebensraum auf diesem Planeten wird zerstört, also brauchen wir Raumschiffe und Technik, die Überlebensbedingungen im All oder auf einem anderen Planeten für uns schaffen.

Berlin Feminist Film Week 2016

© Florence Wilken

Das beinahe zwanghafte Verhältnis von Wissenschaft und Praxis wird gerade in Science-Fiction zwar nicht immer Thema der Handlung, ist aber dennoch der Grund und Boden, auf dem sich Handlungsstränge abspielen und Konflikte entzünden oder überhaupt erst ermöglicht werden. Und das ist die gar nicht so fiktionale, sondern reale Dimension des Genres. Wissenschaft und Technik wirken ganz direkt auf Machtverhältnisse zwischen Menschen, denn die in der Wissenschaft destillierten „Fakten“ werden normativ aufgeladen in Technik eingewoben und werden jedes Mal im Gebrauch der Nutzerinnen reproduziert (Cynthia Cockburn, Susan Ormrod: “Wie Geschlecht und Technologie in der sozialen Praxis gemacht werden”, in: Irene Dölling und Beate Krais: Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis).

Technik gegen Biologie

Dreh und Angelpunkt für den Konflikt, dem die Protagonistin in Advantageous ausgesetzt ist, ist der Verfall des menschlichen Körpers, das Altern. Gwen Koh, eine alleinerziehende Mutter, ist Sprecherin für den Konzern „Center for Advanced Health and Living“. Wie der Name vermuten lässt, verbirgt sich dahinter das Bestreben, dem Fortschritt nicht im Wege zu stehen. Dort werden technische „Lösungen“ vermarktet, die das menschliche Leben und die Gesundheit erträglicher machen sollen. Welche Lösung wäre nicht umfassender und logischer, als den Verfall des Körpers gänzlich zu stoppen? Gwen ist in den 40ern, immer noch bildschön, aber man sieht ihr den unerbitterlichen biologischen Prozess eben doch an. Sie kann nicht mehr als Sprecherin des Centers auftreten, man sucht eine neue, jüngere, attraktivere Frau. Gwen ist nicht die einzige, die arbeitslos wird. Im Verlauf des Films sieht man immer wieder Bilder von Frauen in prekären Lebensumständen, ohne Wohnraum oder Prostitution. Die dezent animierten und gezeichneten Gebäude und Transportmittel dieser zukünftigen Welt verstärken dabei das Gefühl, dass für „Natürliches“ und biologische Körper eigentlich kein Platz mehr ist. Zugespitzt wird diese Kritik an der zunehmenden Technisierung unserer Lebensräume, indem ab und an einzelne Bauten einzustürzen beginnen und grauer Staub in den Himmel steigt. Auch die von uns erschaffene Konstruktionen sind vergänglich.

Advantageous Jules Gwen Feminist Film Week

© Good Neighborhood Media

Um ihrer talentierten Tochter eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen, sucht Gwen verzweifelt eine neue Arbeit. Ohne Erfolg. Sie weiß um ihre Expertise, jahrelange Erfahrung mit den Produkten. Das will sie noch einmal als Argument ins Feld führen. Als sie sich schließlich an ihren alten Arbeitgeber und auch privat vertrauten Mitarbeiter wendet, ergibt sich eine neue Chance. In Sequenzen, in denen der Mitarbeiter mit seiner Vorgesetzten verschwörerisch Gwen im Wartezimmer beobachtet, wird der Zuschauerin klar, dass von Anfang an auf Gwen gesetzt wurde. Unklar bleibt allerdings, wieso gerade sie eine geeignete Kandidatin für das waghalsige Experiment ist, das Gwens Arbeitgeber an ihr ausprobieren wollen. Obwohl ihr der Mitarbeiter unter vier Augen mitteilt, welche Risiken damit einhergehen, entscheidet Gwen sich dazu, ihren Körper aufzugeben und ihre Identität in einen neuen, jüngeren Frauenkörper transferieren zu lassen. Für sie ist es die letzte und beste Chance.

Wenn Jugend und Schönheit über Arbeit entscheiden

Eine Gesellschaft, in der Frauen es besonders schwer haben, Arbeit zu finden und die aufgrund ihrer verwelkenden Jugend und Schönheit einfach aussortiert werden, dazu muss man nicht ins Jahr 2041 reisen. Wenn sich Gwen dazu entschließt dem Druck nachzugeben und sich der Schönheitsindustrie und dem Diktat „Frau sein heißt attraktiv sein“ unterordnet, schwindet erst einmal die Hoffnung bei mir als Zuschauerin, die Protagonistin könnte sich doch noch selbst behaupten. Aber halt! Vielleicht wird Gwen ja von ihrem Mut belohnt und kann als ganz neues Wesen, eine neue Art von Mensch, Grenzen überwinden und doch noch den Zwang von sich schütteln. Es wird ihr suggeriert, und Gwen glaubt daran, dass Körper und Geist sich trennen lassen, ja sogar unabhängig voneinander existieren können. Dass Identität etwas ist, dass noch mit sich identisch ist – falls es überhaupt so etwas wie einen Kern oder eine Einheit des Selbst gibt –, wenn jeglicher materielle Bezug weggenommen wird. Gwen und ihre Tochter Jules suchen gemeinsam einen neuen Körper aus, in den Gwens geistigen Muster übertragen werden sollen. Irgendwie ahnen beide, dass sie danach anders sein wird. Die Drastik der Handlung spitzt sich gerade in dem Umstand zu, dass Gwen sich nicht verändert hat, sondern dass, auch durch die noch nicht ganz ausgereifte technische Umsetzung, der gespendete Körper und der eingespeiste Geist zusammen eine ganz neue Person bilden. Frau und Mädchen müssen sich erst einmal kennen lernen, damit daraus Mutter und Tochter werden kann.

Quelle: YouTube

“Does progress mean that you can have a conversation with a fellow human being and be human? Or does it mean that you’re just going to be this ultra-human that just exists forever? Or is that natural to who we are?“, fragt die Schauspielerin Jaqueline Kim in einem Interview (Interview auf craveonline.com) . Und das sind auch die Fragen, die bei mir auftauchen, während ich den Film schaue. Der Film versucht aus einer weiblichen Perspektive eine Gesellschaft darzustellen, die es gerade Frauen fast unmöglich macht, ihre eigene Rolle als Frau zu erkennen, geschweige denn autonom zu gestalten. Deprimierend ist, dass hier keine Frauenpower proklamiert wird. Meine Erwartungen wurden also nicht erfüllt. Aber gerade der dystopische Charakter und die totale Aufgabe der Mutter bis hin zur körperlichen Entäußerung erzeugen eine erschütternde Drastik. Und dann ist er wieder da, dieser Moment, der Filme und besonders Science-Fiction so sperrig und wertvoll macht. Der praktische Zwang, der mit der Möglichkeit etwas völlig Neues machen zu können, einhergeht, führt uns vor Augen, was auf dem Spiel steht. Welche Vorstellungen wir von uns haben und welche Teile wir davon vielleicht bewahren sollten und welche wir völlig neu denken müssen. Advantageous ist ein ruhiger, nachdenklicher Science-Fiction Film mit einem überzeugenden Casting und er ist feministisch, gerade weil die Betrachterin gefordert wird, darüber nachzudenken, wie Frau-Sein heute und in Zukunft aussehen soll oder kann.

Titelbild: © Good Neighborhood Media