Kurze Geschichte des ESC
Den Eurovision Song Contest (ESC) gibt es seit 60 Jahren. 10 mal hat ABBA gewonnen und 50 mal Ralph Siegel, der dafür in verschiedene Rollen schlüpfte. Stefan Raab und Guildo Horn haben bei ihren jeweiligen Auftritten verloren. Die Erfindung des Telefons in den 1990er Jahren hat die Fernsehlandschaft revolutioniert und ein neues interaktives Fernsehformat etabliert: den ESC-Vorentscheid. Bei dieser Fernsehsendung können die Zuschauer live per ‚Telefon-Voting‘ abstimmen, welchen Musiker oder welche Band sie am wenigsten peinlich finden und ihr Land vertreten soll.
Im Jahr 2015 hat der Gewinner des ESC-Vorentscheids, Andreas Kümmert, den Sieg verweigert und ist daher nicht zum ESC nach Österreich gefahren. Dieses Jahr wollten sich die Verantwortlichen diese Schmach ersparen und so hat man gar keinen Vorentscheid durchgeführt und Xavier Naidoo am 19.11.2015 per Dekret zum Deutschen ESC-Kandidaten ernannt. Das löste allerdings einen ‚Shitstorm‘ aus, der die digitale Kanalisation verstopfte und zwei Tage später wurde Naidoo denominiert.
Xavier, der liebe Junge
Zum ersten Mal trat Naidoo in Erscheinung, als deutschsprachige Musik, vor allem Deutschrap jenseits der Fantastischen Vier, extrem populär wurde. Als jugendlicher Hörer ließ man sich damals – Mitte bis Ende der 1990er Jahre – leicht vom coolen Auftreten, flotten Sprüchen und Wortwitz mancher Musiker beeindrucken. Die Protagonisten waren Fettes Brot, Deichkind, Blumentopf, Absolute Beginner und und und. Die Musik dieser Jungs war kommerziell erfolgreich und dennoch waren die Texte provokant genug, um sich als Heranwachsender nicht dafür schämen zu müssen. Xavier Naidoo war anders. Er war extrem uncool. ich verbinde ihn mit christlicher Didaktik im Soul- oder R&B-Gewand. Die Songs waren so lahm und tranig, dass sie selbst für den Konfirmandenunterricht nichts taugten. Xavier war ein lieber Junge, der auf dem Schulhof noch mit Chupa Caps spielte, während der Rest der Klasse schon in der Raucherecke stand.
Naidoo hat mich nie interessiert und ich hatte ihn in meiner Ignoranz mittlerweile völlig vergessen. Offenbar ist Xavier Naidoo aber nie irrelevant geworden. Als ich Videos von ihm auf YouTube suchte, musste ich mit Erstaunen feststellen, dass einige davon über 25 Millionen Mal angeklickt wurden. Das schaffen sonst nur die allerbesten Katzenvideos!
Für Thomas Schreiber, ARD-Unterhaltungskoordinator und Leiter des Programmbereichs Fiktion und Unterhaltung im NDR, ist Naidoo ein Ausnahmekünstler, der seit zwanzig Jahren seinen Platz im deutschen Musikleben hat. So sollte Naidoo Deutschland dann beim ESC 2016 in Stockholm vertreten. Interessant ist, dass Schreiber die Entscheidung für Naidoo auch damit begründete, dass ein Auftritt beim ESC einen hohen symbolischen Wert habe, da „mit Xavier Naidoo ein dunkelhäutiger Sänger für dieses tolerante Land auf der Bühne gestanden hätte, der von seinem Äußeren her nicht dem Klischee des blonden Deutschen entspricht, der aber von vielen Millionen Deutschen geliebt wird.“ (ndr.de).
Allerdings ist Xavier nun seit einigen Jahren gar nicht mehr so lieb. Er spielt nicht mehr mit Chupa Caps, sondern beleidigt Homosexuelle und hat auf einer Versammlung der sogenannten Reichsbürger öffentlich gesprochen. Denen wird Rechtsextremismus, Antisemitismus und ein Hang zu Verschwörungstheorien nachgesagt. So jemand darf Deutschland nicht beim ESC vertreten. Das sah dann auch Schreiber ein und zog die Nominierung zurück.
Escape!
Aufgrund des Protests wurde dann der ESC-Vorentscheid kurzerhand wieder eingeführt. Am 25.02.2016 übertrug die ARD dieses Fernsehspektakel live aus der ARD-Arena in Köln vor 2.000 Zuschauern (davon 1.000 Komparsen und 500 ARD-Klatsch-Roboter). Bei diesem Event traten zehn Musiker (sogenannte „Künstler“) bzw. Bands auf und konnten zeigen, wie bunt und vielfältig Deutschlands Musikbusiness ist. Vom Pop-Schlager bis zum Schlager-Pop war wirklich alles dabei!
Peter Urban (die unsichtbare ARD-Stimme aus dem Off) sagte, ein erfolgreiches Lied müsse kribbeln und Gänsehaut auslösen und das gewisse Etwas haben. Die Programmverantwortlichen konnten also ganz bequem die Menge der Gänsehäute vor den Fernsehbildschirmen zusammenzählen und dann ausrechnen, welches Lied die besten Chancen beim diesjährigen ESC in Stockholm haben wird.
Für alle, die das Medienereignis verpasst haben und nicht zwei Stunden ihrer Lebenszeit dafür opfern wollen, kommt hier die Zusammenfassung der Veranstaltung.
Gänsehaut-Feeling garantiert!
Moderiert wurde die Sause von Barbara Schöneberger, die sie mit einem Medley eröffnete, in dem sie sich auch über das Hick-Hack um Naidoo lustig machte. Danach folgte die harte Arbeit für sie und die Zuschauer. Hier die chronologische Reihenfolge der Auftritte.
01
Die gute Nachricht zuerst: Helene Fischer hatte keinen Bock, am ESC teilzunehmen, weil sie Flugangst hat und nicht nach Stockholm fliegen möchte. Die schlechte Nachricht: Die ARD hat einen Ersatz gefunden, nämlich Ella Endlich mit „Adrenalin“.
Das Publikum in der ARD-Arena hat zum Glück nicht gemerkt, dass sie nicht die echte Helene Fischer war.
02
Joco mit „Full Moon“:
Zwei singende Schwestern, die mehrmals „Hey!“ sagten. Hinter ihnen war ein großer Vollmond auf der Bühne (sehr clever, denn „full moon“ bedeutet nämlich „Vollmond“). Dadurch konnte man sich den Vollmond richtig gut vorstellen.
03
Gregorian mit „Masters Of Chant“:
Sechs Sänger in Mönchskutten. Die hatten echtes brennendes Feuer auf der Bühne, das vom Publikum auch entsprechend mit Applaus bedacht wurde. Unter einer der Kutten steckte Xavier Naidoo, der hoffte inkognito zum ESC zu kommen.
04
Woods of Birnam mit „Lift Me Up (From The Underground)“:
Da war ich gerade auf Toilette.
05
Als Ersatz für Ella Endlich wurde vorsichtshalber noch Luxuslärm mit „Solange Liebe in mir wohnt“ eingeladen. Sie wurden nicht benötigt, aber durften trotzdem auftreten. Der Gesang war übrigens live, aber das Klatschen war Playback.
06
Keøma mit „Protected“:
Das Indie-Pop-Duo hat im Berliner Naturkundemuseum das Skelett eines Tyrannosaurus Rex besichtigt. Das ist eines der drei am besten erhaltenen Skelette eines Tyrannosaurus Rex weltweit.
07
Avantasia mit „Mystery Of A Blood Red Rose“:
Die sympathischen Power-Metaller haben ihren Song extra so langsam gespielt, dass die ARD-Zuschauer im Takt mitklatschen können, ohne außer Puste zu geraten. Schöneberger hat mehrmals vergeblich versucht, den Titel des Lieds richtig auszusprechen.
08
Das erklärte Ziel von Alex Diehl war „[… ] dass alles so echt wie möglich ist, damit man‘s so gut wie möglich spüren kann, das Gefühl, das in einem Lied steckt“. „Nur ein Lied“ sang er, in dem er (sogar auf Englisch und Französisch) dafür argumentierte, dass Krieg und Terrorismus nicht so gut sind. Der Songtext wurde zwar an die Bühnenwand projiziert, aber Diehl musste ihn dennoch alleine singen.
09
Für die Hentai-Freunde unter den Zuschauern wurde die 17-jährige Jaime-Lee Kriewitz eingeladen. Ihr Lied „Ghost“ klingt wie Rihannas „Umbrella“. (Smudo von den Fantastischen Vier hat übrigens ihren Hut gebastelt.)
10
Laura Pinski mit „Under The Sun We Are One“:
Pinski hat extra den Coca Cola Song „Holidays are coming“ neu vertont und argumentierte genau wie Alex Diehl dafür, dass Menschlichkeit gut ist und Krieg und Terrorismus nicht so gut sind. Sie wurde disqualifiziert, weil sie sich während ihres Auftritts zu wenig bewegt hat.
Finale
Barbara Schöneberger war begeistert von den „10 Songs, die unterschiedlicher nicht sein könnten“. Allerdings wirkten die Songs alle ordnungsgemäß glatt gebügelt, genormt und standardisiert – sowohl formal als auch inhaltlich. Darüber konnten auch die farbigen Lichter, Bühnenbilder und Kostüme nicht hinwegtäuschen.
Der ESC ist ein großer Komposthaufen: Egal, welche Musikstile und Genres die Musiker und Bands ursprünglich vertreten – am Ende wird alles zum ununterscheidbaren Pop-Schlager-Gemisch mit ganz viel Gefühlsdunst und authentischen Emotionen, die vor sich hin gären und den Humus für das kommende Jahr bilden. Die ‚Feelings‘ sind so echt, dass sie nach Belieben abrufbar sind. Die Finalisten mussten zweimal an dem Abend den selben Song mit denselben Emotionen ‚performen‘ und die Siegerin sogar dreimal – von den unzähligen Proben davor ganz zu schweigen.
Im Finale standen dann 07, 08 und 09. Gewonnen hat 09.
Allen, die jetzt enttäuscht sind, sei verraten, dass auch im kommenden Jahr wieder ein ESC stattfinden wird. Thomas Schreiber hatte im Vorfeld der Sendung schon Andeutungen gemacht:
„Ich danke allen sehr herzlich, die Songs für den ESC vorgeschlagen haben. Und bei manchen Künstlern, mit denen wir für den ESC 2016 aus unterschiedlichen Gründen nicht zusammengekommen sind, hoffe ich auf den ESC 2017.“ (daserste.de)
Es gibt also noch Hoffnung, dass wenigstens im kommenden Jahr Xavier Naidoo mit dabei sein wird!