Joël László, geboren 1982 in Zürich, studierte Islamwissenschaft und Geschichte. Er lebt als Theaterautor und Übersetzer in Basel. Zuletzt: Neuübersetzung und Bearbeitung von Ferenc Molnárs „Liliom“ für das Theater Marie sowie Einladung zum Retzhofer Dramapreis mit dem Stück „Die Vorzüge der georgischen Unterhose“. Im folgenden Gespräch liegt der Fokus aber ganz klar auf Doris, der ca. 0-dimensionalen Protagonistin seines beim Marburger Kurzdramenfestival 2014 uraufgeführten Absurdöners „Doris, Sekretariat, Straußenei“.
Daniel Ableev
Deine Doris ist ja jemand, der menschliche, tierische und tapetrige Eigenschaften aufweist. Sie ist ein schwer zugängliches Faszinosum, Becketts Watt nicht unähnlich. Und wahrscheinlich eine perfekte Einleitung zum Thema: BÜROWAHNSINN. Wollen wir darüber reden?
Joël László
Gut. Kurze Modalitätenfrage aber noch: Ich müsste mir ausbedingen, auf Fragen mit größeren Retardierungen von bis zu fünf Arbeitstagen antworten zu dürfen. Nicht immer, aber manchmal. Bürowahnsinn und Arbeitswelt und Familienglück im Verbund beschneiden im Guten wie Schlechten meine Zeit- und Denk- und möglichen Antworträume. Du kannst dir mich in der Zwischenzeit aber immer als zufriedenen Menschen mit einer dreimonatigen Tochter im Arm und einem zweijährigen Bengel am Hosenbein (der einen Laptop auf der Nasenspitze balanciert) vorstellen.
DAb
Ich hatte ganz vergessen zu erwähnen: Zeitdruck gibt es überhaupt keinen. Und vor Laptop-Balancieren bitte unbedingt wichtige Daten sichern, etwa unter Zuhilfenahme von Klümpfchen.
JoëL
Was du gesagt hast zum Verschwimmen der (fiktiven) Grenzen zwischen Menschlichem und Tierischem ist sehr wichtig. Eine weitere Geschichte zu Doris, etwas, wobei man sie lange beobachten könnte, ist zum Beispiel das Flehmen. Doris ist eine ganz herausragende Flehmerin. Viel wichtiger noch als das Flehmen ist aber ihr Platysma. Doris verfügt über ein außerordentlich ausgebildetes Platysma. Es erlaubt ihr, Fliegen von ihren Oberarmen zu verscheuchen, ohne dass sie sich dazu bewegen muss. Sie kontrahiert ihren Oberarmhautmuskel, der Boden, auf dem die Fliege steht, wird gerüttelt – und weg ist sie. Dasselbe gilt übrigens für ihre Oberschenkel.
Dass Watt ein Tier ist, hatte ich mir noch gar nie überlegt. Was für ein Tier ist er genau?
DAb
Watt ist am ehesten wohl ein Gemischtwarenköter. Falls überhaupt. Doch zurück zum Doris. Was für ein Phänomen dieses Frau(m) doch ist! Ich will mehr über seine (gerne auch geistigen) Fähigkeiten wissen. Von Tennessee Williams gibt es das Stück „Sprich zu mir wie der Regen, und ich hör zu …“ – hat denn Doris auch Wasserfall-Gene in sich?
JoëL
Ich musste einige Tage darüber nachdenken … Wasserfall-Gene, Gene also, wo die Doppelhelix sich an beiden Enden auflöst und in den freien Fall übergeht? Ganz ehrlich: Ich bin der Erste, der es Doris wünscht. Da uns bei Doris ein Querschnitt jedoch versagt bleibt und sie nur sehr wenige Menschen näher als auf fünf Meter an sich heranlässt, sind wir darauf angewiesen, Außenstrukturen und Oberflächenveränderungen zu erforschen, Gerüche und andere sinnliche Spuren nachzuverfolgen und zu analysieren, um wenigstens ein fragmentarisches Bild ihres Innenlebens zu erhalten. Man geht grundsätzlich davon aus, dass sie über eine gewöhnliche Anzahl Organe gebietet. Es gibt jedoch Meinungen, die ihr ein zusätzliches Organ bescheinigen. Am besten, man wartet weitere Messresultate ab und urteilt in einigen Jahren erneut. An ihr Genom würde ich mich persönlich aber nicht wagen.
DAb
Welche Musik hört Doris? Kann sie lesen? Ist DORIS ein Akronym? Ich habe früher sehr viel Tödliche Doris abgekriegt.
JoëL
Vor einiger Zeit ließ ich einen Stapel Skizzen mit Mustern, die ich von Doris’ Oberflächen abgezeichnet habe, offen auf meinem Schreibtisch liegen. Ein Spezialist für Barockmusik, der bei uns zu Besuch war, hat sie unglücklicherweise zu Gesicht bekommen. Er war davon nicht mehr loszukriegen. Es ging so weit, dass er meine Frau tief kränkte. Er sprach am ganzen Abend kein Wort mit ihr und hatte auch für unseren kleinen Jungen keinen Blick übrig. Als wir nach ihm riefen, um gemeinsam zu Abend zu essen, fanden wir ihn unter meinem Schreibtisch versteckt, tief versunken in die Betrachtung der skizzierten Oberflächenvariationen. Als wir ihn eine Stunde später holen wollten, um gemeinsam Karten zu spielen, war er nicht bereit, unter dem Tisch hervorzukriechen. Meine Frau kochte vor Wut. Wenn es ums Jassen geht, versteht sie keinen Spaß. Der Barockspezialist war an diesem Abend nicht mehr zum Jassen zu bewegen. Ab einem gewissen Punkt hörten wir ihn seltsame Pfeifgeräusche von sich geben. Er erklärte mir einige Tage später, das Pfeifen sei eine Gedächtnisstütze gewesen. Er habe mit dem Medium der menschlichen Stimme das Spektrum der Barocklaute imitiert. Meine Frau, ich und die Frau des Barockmusikspezialisten hörten nur die Pfeifgeräusche und dachten keine Sekunde an eine Barocklaute. Schließlich spielten wir eine Partie Canasta. Wie immer beim Canasta gewann ich, was der Grund dafür ist, dass meine Frau Canasta grundsätzlich verabscheut. Die Stimmung war im Eimer. Ich und die Frau des Barockspezialisten begannen, teuren Whiskey zu trinken, den mir meine Frau zu meinem dreißigsten Geburtstag geschenkt hatte. Meine Frau, die momentan nicht trinkt, weil sie wieder guter Hoffnung ist, meinte irgendwann, es sei die reine Verschwendung, so guten und teuren Whiskey dermaßen achtlos in sich reinzuschütten. Was unterdessen unter meinem Schreibtisch hervortönte, war immer wilder und exaltierter. Wir hatten Angst, dass er unseren Buben aufweckt. Vor allem, als der Barockspezialist damit begann, wilde und für das Ohr nicht immer leicht verständliche Rhythmen seinem Pfeifen hinzuzuschlagen. Einige Tage später erklärte er mir, das Klatschen sei eine Gedächtnisstütze gewesen und habe dazu gedient, den Kontrapunkt zu den gepfiffenen Stimmen zu markieren. Wie dieses Klatschen dazu geeignet gewesen sein soll, irgendetwas Kohärentes zu markieren, blieb mir an jenem Abend verborgen. Alles endete damit, dass wir die Frau des Barockspezialisten betrunken in ein Taxi setzen, während ich auf einer Matratze in der Küche schlief. Den Barockspezialisten fand ich am nächsten Morgen über den Skizzen zu Doris’ Oberflächenstrukturen glücklich schlummernd. Einige Tage später erklärte er mir, dass das, was ich da gezeichnet hätte und was er kraft seiner Expertise dechiffriert habe (und was also eingewoben sei in die unergründlichen Oberflächen von Doris), nichts anderes sei als die verlorenen Stimmen und Partituren für die Begleitinstrumente mehrerer Suiten von Silvius Leopold Weiß. Ein Ton, einmal gespielt, könne nie mehr ganz verschwinden, unweigerlich hinterlasse er in den Strukturen der Dinge eine Spur, woraus folge, dass einige der Fäden in Doris am Hof der Kurfürsten von Sachsen zugegen gewesen sein müssen, als Silvius Leopold aufspielte, und eine Erregung und eine Erinnerung schwinge noch heute in diesen Fäden nach und sei vermittels meiner Skizzen auf ihn, den Spezialisten, und sein Gehirn und seine Musikalität übergesprungen. Es ist wohl wahr: Damit haben wir wieder nichts Genaueres über das Innenleben von Doris erfahren. Aber immerhin sind wir mit dem Ohr ganz ganz nah an ihr dran.
Im Büroalltag ist Doris vergleichbar mit der kontinuierlichen Einnahme von Schneckengift, diesen blauen Kügelchen, die du zwischen die Salate und die Gemüsesetzlinge streust, und die in zu hoher Dosierung Magenschmerzen, Schwindel, Hautabschuppungen und Nahtoderlebnisse provozieren. Ich unseliger Bruder habe es einmal an meiner kleinen Schwester ausprobiert. Der Anblick, wie sie drei Tage gelitten und unter ständiger Beobachtung mehrerer Doktoren gestanden hat, hat sich meiner kindlichen Seele tief eingeprägt. Jeder Tag, den ich in einer von Doris kontrollierten Bürowelt verbracht habe, hat mich näher an die Schneckengiftvergiftung meiner Schwester herangerückt. Man sollte manchmal von Anfang an ein Salat sein und nicht erst zu einem gemacht werden. Wenn man einmal drinsteckt, bleiben nur noch die Schnecken oder die Schneckenkörner. Es ist schlimm, jeden Tag aufzuwachen und diese blauen Kügelchen um den Kopf herum liegen zu haben.
DAb
Das ist alles reichlich schlimm. Jetzt stell dir doch mal vor, ich bin Doris: Was würdest du mir sagen wollen? Mit welchen Blicken würdest du mich strafen wollen? Mit welchem Humor würdest du mir begegnen wollen, da du ja Doris’ Humorverständnis sicher gut einschätzen kannst?
JoëL
Nie würde ich Doris strafen wollen. Doris ist unbestrafbar. Wenn man sie nur anschauen könnte! Wenn man sie nur einmal, für fünf Minuten, präzis von innen und von außen studieren könnte. Wir lernten mehr, als wir uns vorstellen. Aber das ist es ja: Sie ist unanschaubar, weil wir den Mustern nicht gewachsen sind, weil wir ihre Höhe nicht erreichen, weil wir hoffnungslos im Warenfluss gefangen sind. Sie hat die Welt der Dinge und Waren überwunden, und das macht sie zu einem Monster für alle, die arbeiten und geknechtet sind.
Vielleicht dürfen wir an dieser Stelle kurz über das Zimzum nachdenken, wie es uns Gershom Scholem beschrieben hat. Wenn das Zimzum das Denken der Existenz des Weltalls durch einen Prozess der Einschrumpfung in Gott ist, dann ist Doris quasi das Zimzum der gegenwärtigen Arbeitswelt. Doris hat die komplette real existierende Arbeitswelt rund um sich herum mittels eines Prozesses der Einschrumpfung in sich aufgenommen, so dass wir, die Arbeiter und Dienstleistenden dieser Welt, forthin praktisch nur noch in Doris weiterexistieren und zu einer Art zusätzlichem Organ geworden sind. Daraus folgt: Tangential haben wir Anteil am Paradies, solange wir aber die Arbeitswelt in uns nicht wie Doris hinwegzuschrumpfen wissen, wird dieses Paradies außerhalb unser selbst bleiben.
DAb
Wenn man Doris aus unterschiedlichen Distanzen betrachtet, liegt die (hohe) Wahrscheinlichkeit der Verwechslung pv(D) mit unterschiedlichen Sachen vor. Welche konkreten Verwechslungsgefahren sehen Sie? Bitte ergänzen Sie die folgende Tabelle:
Entfernung zu Doris in m Verwechslung mit
Bis 1000 _______________
Bis 500 _______________
Bis 300 _______________
Bis 100 _______________
Bis 50 _______________
Bis 10 _______________
Bis 2 _______________
Bis 0,00049 _______________
JoëL
Bis 1000 Wetterleuchten, manchmal Windhose
Bis 500 Gitarrensolo
Bis 300 Sven Hedin*
Bis 100 Bohrturm
Bis 50 Gobelin (oft mit Schäferidyll)
Bis 10 Begleitpartitur Barocklaute
Bis 2 Pendenzenliste/Strick
Bis 1 Zollbeamter der k. und k.
Bis 0,00049 Terpentinlösung
*Es ist ein altes Rätsel, die Marge beträgt kaum 5 Meter, die Erscheinung ist dafür umso präziser. Uralte ehemalige Weggefährten des schwedischen Forschungsreisenden haben bereits die noch junge Doris auf besagte Distanz unmissverständlich als Sven Hedin erkannt, sind auf Doris zugestürmt und erschrocken und verwirrt vor dem großgewachsenen Mädchen mit dem langen Zopf stehen geblieben.
DAb
Könntest du bitte den Punkt „Pendenzenliste/Strick“ genauer ausführen? Auch wäre interessant zu erfahren, ob Doris etwa vom Gitarrensolo direkt und ohne Zwischenstufe zur Terpentinlösung runtersublimiert werden kann.
JoëL
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit langen Pendenzenlisten, die sich längere Zeit im Umfeld von Doris aufhalten (Abstand ungefähr 2 Meter), meinen an bestimmten Nachmittagen mit einem Mal: Dies ist der Durchbruch, dies ist der Dammbruch, noch eine, noch zwei Pendenzen, dann leuchtet Licht am Horizont, dann hat es ein Ende mit dem fürchterlichen Rückstand, dem zermürbenden Zweifel, eine Pendenz, zwei Pendenzen, maximal drei Pendenzen, und es schimmert bereits, es wird heller und heller, ein Gefühl der Erleichterung macht sich breit, plötzlich geht alles rasend schnell: Eine Pendenz nach der anderen verschwindet von der Liste, Empfindungen von Leichtigkeit und Frische durchströmen die Muskeln und Nerven, schäumende Euphorie, die in den Kopf steigt wie kühler Riesling in einer Mittsommernacht, und noch eine!, und weg damit!, und Peng!, wenn aber zu dieser frühabendlichen Stunde noch jemand in dem Gemeinschaftsbüro zugegen wäre, dann sähe er jetzt, wie die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter einen Schemel unter ein Lüftungsrohr schiebt, Gott weiß woher einen Strick hervorzieht, sich diesen um den Hals schlingt und Sekunden später an genau diesem Strick von der Decke baumelt – all dies im frohen lichten Glauben an ein baldiges Leben ohne Pendenz.
Und ganz generell, Daniel: Ja, es ist stufenlos, es geschieht auf die natürlichste Art und Weise, Doris verwandelt sich vor deinen Augen, ohne dass du die Veränderung im Moment wahrnimmst, die Eindrücke lassen sich erst Tage, manchmal Monate später ordnen, es hat mit räumlicher, es hat aber auch viel mit emotionaler Nähe zu tun, du wippst mit dem Fuß noch zum Takt des Gitarrensolos, da fühlst du honigartig das Terpentin in deine Körperöffnungen fließen, während Bohrtürme dich mit harschen Stößen auszubeuten beginnen.
DAb
Wenn Bohris ein Künstler wäre und nicht nur Kunst – welche Kunstwerke würde er schaffen? Was wäre sein Meisterwerk? Was sein Rohrkrepierer? Würde er es gar zur Grande Dame des Strafrechts bringen?
JoëL
Nie, unter keinen Umständen würde ich es wagen, das Wort „Schach“ in ihrer unmittelbaren Umgebung, das heißt, in einem Bannkreis oder Dorisdrudenfuß von 8 bis 10 Kilometern Luftlinie, zu äußern oder uttern, wie der Engländer sagt, und dabei wohl, wie er es immer tut, an (M)uttern denkt.
DAb
Meta-Frage: Ein gutes Interview ist wie ein Schachspiel: Wie sähe ein Schachmatt aus?
Doris, „du“ Un,
alle Hände „zu“ tun.
Verbirgst deine „Zeit“
mit ohne „Geist“.
Doris, du Huhn,
bist voll immun
gegen jedes Jenes
und sogar Ines.
Doris, du SPAST,
voll durchgeKRASST
haust du im L°CH
zwischen JED und °CH.
Titelbild: Joël László