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Was ist ein guter Film? Von Kracauer zu Polanskis „Der Pianist“

Über die Frage, was einen guten Film ausmacht, lässt sich bekanntlich streiten. Schnell rutscht die Diskussion in den Austausch rein subjektiver Positionen: Der eine schwärmt seinen Kindheitshelden hinterher, der andere bewertet Filme ausschließlich nach Affinitäten, seien es Genres, besondere Schauspieler oder favorisierte Regisseure: Aber kann man diese subjektive Perspektive auch überwinden und einen rationalen Zugang zur Qualität von Filmen finden?

ein Gastbeitrag von Johannes Kellersmann


Wenn ja: Was ist dann ein guter Film? Diese Fragen stellte sich schon Siegfried Kracauer (1889-1966) in seiner 1964 veröffentlichten „Theorie des Films“. Vielleicht lässt sie sich am besten am Beispiel beantworten. Hierzu soll Roman Polanskis „Der Pianist“ von 2002 herhalten. Kracauers „Theorie des Films“ liefert einen wesentlichen Beitrag zur filmphilosophischen Debatte des 20. Jahrhunderts. Er geht davon aus, dass sich der Ursprung des Mediums Film in der Fotografie findet, dessen Besonderheiten in ihrer aufdeckenden Kraft und wirklichkeitsgetreuen Wiedergabe der Realität liegen. Da sich der Film wesentlich dadurch auszeichnet, bewegte Bilder zu erzeugen, lebt das Wesen der Fotografie in ihm weiter. Durch beide Medien hindurch zieht sich eine Diskussion um die Frage, wie Film oder Fotografie gestaltet sein sollen, um den spezifischen Besonderheiten des Mediums zu entsprechen.

Was macht also einen guten Film aus? Eine realistische Position ist der Auffassung, dass die Wiedergabe ungestellter Realität in all ihren Facetten und Besonderheiten wie z.B. der Akzentuierung des Zufälligen oder einer Vorliebe für die Unbestimmbarkeit der Aufnahmen das Wesen eines filmischen Films darstellen. Die Gegenposition argumentiert, dass eine bestimmte Auswahl und Anordnung von Elementen auf dem Bild eine vorher festgelegte Aussage besonders unterstreicht. In diesem Sinne sind die Fotografien bzw. Filme als künstlerische Kompositionen mit denen der Malerei (z.B. der Vergine delle Rocce von Da Vinci) vergleichbar. Kracauer behauptet nun, dass einzig die Foto- bzw. Filmkamera in der Lage ist, physische Realität auch in ihren feinsten Nuancen wiederzugeben. In Kombination mit der These, dass „die Leistungen innerhalb eines bestimmten Mediums künstlerisch umso befriedigender sind, je mehr sie von den spezifischen Eigenschaften dieses Mediums ausgehen“, lässt sich Kracauer in dieser Debatte also klar auf Seiten der Realisten einordnen.

Am Fallbeispiel: „Der Pianist“

„Der Pianist“ erzählt die Geschichte des begabten polnisch-jüdischen Pianisten Wladyslaw Szpilman (gespielt von Adrien Brody) vom Einmarsch der deutschen Truppen in Warschau im Jahr 1939 bis zur Befreiung der Stadt 1944. Als Vorlage diente die 1946 veröffentlichte Autobiographie „Der Pianist – mein wunderbares Überleben“ der Realperson Wladyslaw Szpilman. „Der Pianist“ rekonstruiert an dessen Beispiel das Schicksal der polnischen Juden in Warschau zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft: Nachdem Szpilman sowohl das Warschauer Ghetto überlebt als auch dem Abtransport ins Vernichtungslager Treblinka entkommen ist, arbeitet er eine Zeit lang als Zwangsarbeiter im Ghetto. Er kann zunächst aus diesem fliehen und sich anschließend mit Hilfe befreundeter Polen in Warschau versteckt halten. Szpilman muss unter großen Gefahren seine Verstecke wechseln und leidet sowohl an Krankheiten als auch an Hunger, kann sich aber bis zur Zeit des Warschauer Aufstands im Jahr 1944 versteckt halten. Im Zuge dessen werden allerdings weite Teile Warschaus und auch Szpilmans derzeitiges Versteck beschossen, sodass er die letzten Wochen bis zur Befreiung der Stadt auf der Suche nach Nahrung durch die Ruinen Warschaus irrt. Bezeichnenderweise wird er gerade durch einen deutschen General gerettet, der Szpilman Nahrung, Kleidung und Informationen zukommen lässt, anstatt ihn auszuliefern. „Der Pianist“ nun liefert einige Beispiele, an denen sich verdeutlichen lässt, was nach Kracauer einen guten Film zu eben diesem macht. Die hinter den Beispiel-Szenen angeführten Minutenangaben beziehen sich im Folgenden auf die handelsübliche, deutschsprachige 142-minütige DVD-Version.

Kamera und Lebenswelt

Nicht alle Objekte, die der Kamera prinzipiell zugänglich sind, eignen sich gleichermaßen für eine Wiedergabe durch diese. So üben beispielsweise Bewegungen eine besondere Anziehungskraft auf das Medium aus, da sie ausschließlich von der Kamera eingefangen werden können. Der improvisierte Tanz, der aufgrund seiner Bewegung als ein dem Film besonders gemäßer Gegenstand gelten kann, findet sich z.B. in der Szene, in der die polnischen Juden, die vor einer Bahnschranke auf die Möglichkeit warten, die vor ihnen liegende Straße zu passieren, von den deutschen Soldaten gezwungen werden, zu der gespielten Musik zu tanzen (18:45 min.). Der Tanz entspringt in dieser Szene klar der Lebenswelt der Juden und pointiert ihre schreckliche Lebenswirklichkeit. An der Auswahl der Tanzenden (Alte, körperlich Beeinträchtigte), ihrer Gestik und Mimik kanalisiert sich die Grausamkeit und Willkür, mit der die Deutschen über die Stadt herrschen.

Zu den Objekten, die für das Medium Film besonders geeignet sind, zählen ebenfalls solche, die nur aufgrund der Filmkamera und ihrer Techniken zur Geltung und damit in unser Bewusstsein kommen. Hierzu zählt „das Große“ wie bspw. Menschenmassen oder Landschaftsaufnahmen genauso wie „das Kleine“, das dem Zuschauer in Form von Nahaufnahmen zugänglich gemacht wird. „Der Pianist“ zeigt uns sowohl „das Große“ in Form wiederholter Aufnahmen von Straßenszenen oder der langsam und resigniert dahin schreitenden Masse der jüdische Bevölkerung (z.B. in 13:27 min.) als auch „das Kleine“, indem Nahaufnahmen von Szpilmans Händen oder Gesicht zu sehen sind. Diese Nahaufnahmen weisen über das eigentliche Bild in eine komplexe Welt hinaus. So lässt sich an Szpilmans Gesicht (z.B. in 88:45 min.) die ganze Tragik seines Schicksals mitsamt seinen Ängsten und Hoffnungen ablesen.

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© Tobis

Während die oben genannte Nahaufnahme über sich hinaus auf die Grauen von Szpilmans Alltagsrealität weist, müssen manche Ereignisse durch die Kamera eingefangen werden, um für uns überhaupt erst emotional bewältigbar zu werden. Die Darstellung der „Gräuel des Krieges“, von „Gewalttaten und Terrorakten“ überfordern den Einzelnen aufgrund ihrer Grausamkeit so sehr, dass erst eine Wiedergabe durch die Kamera, wie durch einen Filter, vor der emotionalen Überforderung schützt und das Ereignis dem Zuschauer zugänglich macht. Zusammenfassend ist zunächst also festzuhalten, dass „Der Pianist“ eine hohe Dichte an filmischen Objekten in seinen Aufnahmen behandelt und diese vieldeutig gestaltet, um dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, in eine über die dargestellten Szenen hinausweisende, komplexe Lebenswelt einzutauchen.

Affinität zum Zufälligen

Kracauer postuliert darüber hinaus bestimmte Affinitäten, die dem Medium Film zukommen und ihn somit zu einem guten, weil die spezifischen Charakteristika des Mediums berücksichtigenden Film machen: Zunächst hat der Film, wie bereits erwähnt, eine Affinität zur ungestellten Realität. Der Film ist also dann ästhetisch legitim, wenn er die Illusion der Wirklichkeit hervorruft. Die Aufnahmen in „Der Pianist“ betonen eindeutig die ungestellte Realität und lassen so diese Illusion der Wirklichkeit entstehen. Komplexe Szenerien des überfüllten Warschauer Ghettos (z.B. in 28:58 min.) zeigen das alltägliche Leben und heben nicht den Charakter in den Mittelpunkt, sondern lassen ihn mit seiner Umgebung verschmelzen, sodass nur noch die Kamerabewegung den Fokus auf den Schauspieler (in diesem Fall Szpilman) lenkt. Andernfalls würde er in der Masse untergehen. Weiterhin sind zufällige Elemente ins das Szenenbild eingebaut: So muss Szpilman z.B. über eine Leiche auf dem Gehweg steigen oder wird von einer offensichtlich geistig verwirrten Frau, die nach ihrem Mann sucht, angesprochen. Die Sicht auf den Charakter wird immer wieder dadurch unterbrochen, dass andere Passanten „zufällig“ vor der Kamera entlanggehen. Damit sind gleichzeitig Beispiele für die zweite Affinität des Films genannt: Die Affinität zum Zufälligen.

Quelle: YouTube

Das Zufällige erzählt Nebenstories des alltäglichen Lebens und verleiht dem Kamerabild dadurch erst den Eindruck von komplexer Realität. Es kann aber auch handlungsleitende Funktion übernehmen. So reißt Szpilman in einem Versteck aus Versehen die Regalbretter auf der Suche nach etwas Essbarem herunter, wird daraufhin entdeckt und muss schließlich aus der Wohnung fliehen (83:30 min.). Eine Affinität zur Endlosigkeit, also der Tendenz der abgebildeten Phänomene, ein raumzeitliches Kontinuum zu schaffen und den Zuschauer damit in eine zusammengehörige, verwobene Welt zu entführen, kommt dem Film nach Kracauer ebenfalls zu. Dies kann beispielsweise durch wiederholtes Einblenden von Daten geschehen, die eine zeitliche Einordnung der Szenen ermöglichen. Räumliche Kontinuität wird in „Der Pianist“ z.B. durch die Originalaufnahmen Warschaus in Kombination mit Orts- und Zeitangaben hergestellt. Wenn schließlich eine zerstörte Großstadt ohne Ortsangabe gezeigt wird (115:00 min.), dann ist diese trotzdem eindeutig zuzuordnen. Wiederkehrende Orte wie bspw. das Café Capri, in dem Szpilman zu Beginn des Films als Pianist spielt (20:58 min.) und das nach der Deportation der Juden zerstört wird (51:34 min.) schaffen zusätzlich raumzeitliche Kontinuität.

Zwischen Realität und Narration: Der Film

Schließlich sollen die Szenenbilder in einem guten Film in gewissem Sinne in ihrer Bedeutung offen bleiben. Nur wenn das Rohmaterial der Natur in seiner ihm eigenen Vieldeutigkeit erfasst wird, also seiner natürlichen Affinität zum Unbestimmbaren entspricht, kann es filmisch in Szene gesetzt werden. Hierbei ergibt sich das strukturelle Problem, dass der Regisseur einerseits die Story voranbringen muss und dafür vor allem Aufnahmen braucht, die eine bestimmte Aussage in den Vordergrund stellen, also gerade nicht vieldeutig sind und er andererseits die physische Realität um ihrer selbst willen, also bedeutungsoffen in Form von „freischwebenden Bildern materieller Realität“ wiedergeben sollte. Gerade diese freischwebenden Bilder haben nicht notwendig eine direkte Beziehung zur Story, sondern deuten über sich hinaus auf größere Sinnzusammenhänge und eröffnen somit eine physische Welt, in der die Story lediglich eingebettet ist. Es ist also ein weiteres Kriterium eines guten Films, diesen Balanceakt zu meistern.

Polanski gelingt dies in „Der Pianist“ auf hervorragende Weise: In der 69. Minute beobachtet Szpilman eine Cello spielende polnische Dame durch eine halbgeöffnete Tür. Diese Szene weist über sich hinaus auf die gesamte Problemlage des Films. Das Musizieren als Ausdruck eines lebenswerten Lebens und einer geordneten Gesellschaft steht in starkem Kontrast zu Szpilmans Situation und damit dem jüdischen Schicksal, da die Juden ein unmenschliches Leben am Rande der Vernichtung führen müssen. Die zwei aufeinanderprallenden Welten werden durch die fast geschlossene Tür nochmals kontrastiert. Die Gegenüberstellung wird schließlich mithilfe der unterschiedlichen Farbgebung der Aufnahmen auf die Spitze getrieben. Während Szpilmans blasses und müdes Gesicht in der Tür erscheint, ist der angrenzende Raum mit Sonnenlicht durchflutet. Grüne, gesunde Pflanzen stehen in dem Hintergrund, vor dem die polnische Dame in einem orangenen, sommerlichen Kleid spielt.

Projektion des Unsichtbaren: Der Schauspieler

Abschließend sollen noch die Sprache im Film und die Rolle des Schauspielers betrachtet werden: Kracauer steht der Sprache im Film grundsätzlich skeptisch gegenüber, da er befürchtet, es könne sich durch einen anspruchsvollen und fesselnden Dialog eine inhaltliche Ebene auftun, die parallel zu den dargestellten Bildern verläuft und damit die Aufmerksamkeit des Zuschauers von den Aufnahmen ablenkt. So nähert sich der Film dem Theaterschauspiel an, in welchem häufig Dialoge und nicht bewegte Bilder im Vordergrund stehen, und verliert so die durch seine Spezifika hervorgerufene Faszination auf den Zuschauer. Allerdings kann Filmsprache auch eine intendierte Wirkung unterstreichen, indem sie durch bestimmtes Vokabular oder einen individuellen Akzent einen besonderen Einblick in die Lebenswelt der Protagonisten ermöglicht, der durch die gezeigten Bilder in dieser Tiefe nicht zu erreichen gewesen wäre. Wenn z.B. Szpilmans Vater die neuen Anordnungen für die Juden aus der örtlichen Zeitung vorliest (9:37 min.), dann entsteht ein zufälliger, detaillierter und ungestellter Eindruck in das immer schrecklicher werdende Alltagsleben der Juden. Der Zuschauer wird hier durch die Worte direkt in die Welt der Protagonisten hineingezogen. Die Sprache ergänzt die Bilder zu einem authentischen Ganzen, dem sich der Zuschauer kaum noch entziehen kann.

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© Tobis

Der Filmschauspieler muss seine Rolle nach Kracauer zurückhaltend, beinahe beiläufig spielen, da die Kamera in der Lage ist, jede noch so kleine Veränderung der Mimik oder Gestik festzuhalten. Sein Spiel muss die unsichtbaren psychischen Vorgänge projizieren können, vieldeutig sein und über die sichtbaren Bilder hinausweisen. Im Gegensatz zum Theater dient die Szenerie im Film nicht dazu, den Schauspieler in den Mittelpunkt zu rücken. Vielmehr ist er ein „Objekt und Objekten“ und muss sich in die sich ständig wandelnde physische Realität einfügen. Brody gelingt diese Aufgabe in „Der Pianist“ außergewöhnlich gut: So verweist sein fast unbewegtes Gesicht im Schlafsaal der Zwangsarbeiter im Ghetto (64:56 min.) auf seine Ängste, Hoffnungen und Zweifel. Gleichzeitig spiegelt es die simple Tatsache wider, dass Szpilman trotz der Decke und dem neben ihm brennenden Ofen friert.

Zwischen Wachen und Träumen: Der Zuschauer

Der dem Medium entsprechend inszenierte Film wirkt also auf den Zuschauer emotional anziehend und fesselnd, sodass er sich während der Betrachtung immer mehr mit der Filmhandlung identifiziert. Im Gegensatz zum Theater, das den Besucher aufgrund der komponierten und symbolisch aufgeladenen Bühnenbilder und theatralischen Story vor allem auch intellektuell fordert, sorgt der gute Film dafür, dass sich der Zuschauer zusehends in diesem verliert und in einem Zustand „zwischen wachen und träumen“ befindet. Wenn sich der Film auf die Darstellung physischer Realität konzentriert, enthüllt er dem Zuschauer gleichzeitig einen bestimmten Ausschnitt der sichtbaren Realität mit einer Genauigkeit und einem derartigen Detailreichtum, das dem menschlichen Auge normalerweise meist entgeht. Der Film erschafft die Illusion der Wirklichkeit, in die der Zuschauer unwillkürlich hineingezogen wird, sodass er seine Beziehung zu der Welt, in der er lebt, vertieft und inniger gestaltet. Der gute Film lässt den Menschen „die Welt kennenlernen wie sein eigenes Haus, auch wenn er niemals über die engen Grenzen seines Dorfes hinauskommt“.


Johannes Kellersmann wohnt in Münster, weil man da so gut Filme gucken und Bücher lesen kann.

Titelbild: © Tobis