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Überladung Spielwut. Dispatch im Columbia Theater Berlin

Eigentlich mehr Mythos als Band nahmen Dispatch ihr erstes Album nach 17 Jahren zum Anlass, mal wieder auf Europatour zu gehen. Das war so nötig, dass ihre Show im Berliner Columbia Theater in einer einstündigen Zugabe ausartete.


Wobei Show eigentlich das falsche Wort ist. Denn Dispatch machen keine, sie spielen einfach. Außerdem haben sie auf Konzerten eh schon viel zu viel vor, um eine Performance einzustudieren, wenn sie all ihren musikalischen Errungenschaften ihre Karriere auch nur ansatzweise gerecht werden wollen. Da Dispatch die altbekannte Formel verinnerlicht haben, dass Musik, die sich klar auf ein Genre begrenzt, bereits tot ist, schwanken sie tapfer zwischen Akustik, Rock, Reggae, Folk und Funk. Das macht das Ganze extrem abwechslungsreich und kurzweilig – nicht zuletzt einfach, weil sie es können. Sich selbst haben sie damit aber nie einen Gefallen getan. Zwar bleibt der Sound der Band damit einzigartig, doch das Alleinstellungsmerkmal der Band kann aber eben auch als ihre große Schwäche ausgelegt werden. Immerhin führte es dazu, dass die Wege der drei Bandmitglieder sich für einige Jahre trennten und man sich auf Projekte konzentrierte, die für die jeweils eigene Musik prägender war.

Dispatch in Berlin

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Quelle: Instagram

Gerade auf ihrem 2000er Album, dem stilistisch unentschlossenen, Who Are We Living For? sind die drei Richtungen schon recht exakt definiert, in die die drei Musiker sich im nächsten Jahrzehnt entwickeln sollten. Nur taten sie dies eben unabhängig voneinander: Chad Urmston gründete State Radio, machte politisch engagierten, aggressiven Reggae-Rock, und brachte zuletzt zwei Folk-Soloalben als Chadwick Stokes heraus. Brad Corrigan gab einer neuen Band sein Namenskürzel Braddigan und besann sich auf perkussiv aufgeladene Singer-Songwriter-Songs. Pete Francis widmete sich indes solo einem gitarrenlastigen Rock-Pop, dem produktionstechnisch saubersten, aber musikalisch auch angepasstesten Projekt der Reihe. Jeder baute unabhänig voneinander aus, was er zuvor bei Dispatch einbrachte. Und Dispatch wurde nachträglich zur Supergroup der in die Breite gehenden Szene.

2012 lotete man die gemeinsame Zukunft bereits mit einer EP aus. Als die Band ein neues Album ankündigte, war dennoch völlig unklar, in wohin es musikalisch geht. Im weitesten Sinne kam ein Folk-Rock-Album dabei herum, das aus verschiedenen Richtungen als geglücktes Experiment zu bewerten ist: dynamische Vielfalt, viel Platz für breite Riffs, vielseitige Texte und Gesangsspuren und durchdringende musikalische Präsenz, dazu eine viel sorgfältigere Produktion als frühere Alben der Band. Man merkt auf America, Location 12 schnell, dass die Band sich viel Zeit genommen hat, um sich gegenseitig gerecht zu werden. Nicht nur kommt niemand zu kurz, auch wird die Vielseitigkeit wieder zur Stärke ausgearbeitet. Heraus kommt ein perfektes Folk-Album für Leute, die Folk eigentlich hassen, wenn nicht musikalisch, dann für dessen wiederkehrende Begleiterscheinungen wie Kitsch, Konservatismus oder Sexismus. Es greift viele Richtungen des Genres auf, vereinnahmt sie und macht sie zu etwas durch und durch Wuchtigem und Entschlossenem. Zu Dispatch.

Dispatch – Skin the Rabbit

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Diese wiederum stellten sich im Columbia Theater als spielwütige, jamverliebte Band vor und gaben einen ausgiebigen unverstellten Auftritt, der zum einen die Arbeitsweise der Band klarmachte: Sobald ein Part sich abnutzt, wird die rascheste Idee aufgegriffen, in welche ein Song abknicken könnte, so brutal der Tempo-, Dynamik- und Genrewechsel dann auch ausfallen mag. Zum anderen wurde die Rollenverteilung innerhalb der Band klar: Niemand nimmt sich vor den anderen zurück, alle ringen ständig um den Vordergrund. Was in keiner anderen Band funktionieren würde, wird bei Dispatch unterhaltsam ausgereizt. Wem am Schlagzeug langweilig wird, der nimmt eine Gitarre und stellt sich nach vorn, wer den Text kann, singt mit wann er will. Ein vierter, zusätzlicher Musiker schließt die Lücken, falls grad keiner Lust hat zu singen oder Schlagzeug zu spielen. Das bewährt erstaunlich gut.

Und so sind Dispatch live eben auch ein Songwriterkollektiv, das seinem Publikum keine Facetten ihrer zahlreichen Projekte und historischen Ausformungen schuldig bleiben möchte. Auch wenn das präsentierte Set am Ende völlig überladen ist, kann dieses am Ende doch sehr zufrieden heimgehen. Dispatch wiederum scheinen von einer tiefen Unzufriedenheit angetrieben zu werden. Genauso wichtig wie ihre Musik ist der Band auch ihr politisches Engagement. Sie steht hinter mehreren Stiftungen und verbindet Touren immer auch mit Besuchen bei Hilfsprojekten, die sie unterstützen, und nutzen ihre Konzerte für Statements und Aufrufe. In Berlin war ersteres nun das Migration Hub und das Projekt Wefugees, letzteres neben Entsetzen über die amerikanische Regierung ein Aufruf, der hier nur abschließend wiederholt werden kann. Egal, was ihr auch macht: Geht Sonntag wählen.

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