Schlagwort: Clemens J. Setz

Von Be, Breach und Dreamern

Ein Sammelband mit Geschichten über die Zukunft. Die nicht weit entfernte, technisch vielleicht mögliche Zukunft. So beschreiben die Herausgeber selbst ihr im Oktober 2019 bei Suhrkamp erschienenes Buch 2029 – Geschichten von morgen.


Und genau diesen Anspruch verspricht ja auch der Titel. Geschichten, die man sich in zehn Jahren erzählen könnte, mit denen wir uns unmittelbar identifizieren, die etwas über unseren Alltag sagen. Ein Alltag mit viel Technik, mit neuen Technologien und daraus resultierenden veränderten sozialem Gefüge. Dieses Konzept ist verführerisch, denn man erhofft sich, jenseits von Hollywood-Großproduktionen der Science-Fiction mit fliegenden Autos oder perfekten menschengleichen Robotern, die kleinen leisen Veränderungen aufgezeigt zu bekommen.

Die ideellen Herausgeber Christian Granderath, Fernsehproduzent beim NDR, und Manfred Hattendorf, Leiter der Abteilung Film und Planung im SWR, haben sich mit diesem Buch gleich mehrere Träume zumindest in Papierform realisiert. Elf Autor_innen zeigen in elf Kurzgeschichten ihr zukunftsvisionäres Können. Darunter Science-Fiction-Erprobte wie Dietmar Dath, Emma Braslavsky und Leif Randt. Der Sammelband ist vor allem in seiner Komposition gelungen: Man liest Texte mit sehr unterschiedlichen Erzählweisen, Sprachstilen und technischem Hintergrundwissen. Das ist abwechslungsreich und unterstreicht die Einzigartigkeit jeder Geschichte, jedes_r Autors_in.

Was einem jedoch direkt beim Lesen des Eröffnungstextes auffällt: Der zuvor aufgestellte Anspruch „Geschichten von morgen“ zu präsentieren, wird nicht eingelöst. Auch nicht Seiten später, eigentlich bei keiner der Kurzgeschichten. Man liest von Hubots, perfekten menschenähnlichen Robotern, die das menschliche Gefühlschaos nicht verstehen, von einem Haus, das seine Bewohner komplett unter Kontrolle hat und von einem gescheiterten Experiment, das ein sich ausbreitendes schwarzes Loch und Menschen zwischen Sensationslust und Verunsicherung zurücklässt. Alles Motive, die doch eher so 50-100 Jahre in der Zukunft liegen und deren wissenschaftlicher Forschungs- und technischer Realisierungsstand heute noch in den Kinderschuhen stecken.

Die Enttäuschung hält jedoch nur kurz an. Denn wie gesagt ist die Zusammenstellung sehr unterschiedlicher Erzählungen durchaus überzeugend. Alle Autor_innen schaffen es, die Leserin auf wenigen Seiten in ihren Bann zu ziehen. Den Autor_innen gelingt es, die Komplexität und Verwobenheit technologischer Systeme und Werkzeuge mit der sozialen Ebene und dem individuellen Denken und Handeln in den Blick zu nehmen.

Da wäre z. B. Dietmar Daths „Hoffnung ruft Angst“. Wie so oft in Daths fiktiven Geschichten wird man einfach hineingeworfen, ohne viele Erklärungen. Die eigenen Wortkreationen und eigenwilligen Namen der Protagonisten verstärken noch das Gefühl, hier in eine völlig andere Welt einzudringen, in der man nicht alles versteht. Ein Konzern, der unter dem Symbol eines Seepferdchens jederzeit abrufbare Therapeuten verkauft, eine Gesellschaft, in der Interpretation und Bedeutung vorherbestimmt zu sein scheint, eine Bewusstsein verstärkende Droge, eine Informatikerin, die sich aus Überzeugung, das digitale-technische sei nicht genug, radikalisiert und Anschläge verübt, und die zum Schluss nicht durch Technik, sondern durch einen bloßen Faustschlag gestoppt wird.

„Das Haus“ von Dirk Kurbjuweit ist ein anderes bemerkenswertes Beispiel für die Komplexität des Zusammenspiels von Gesellschaft und Individuum, vermittelt durch Technik. Um den politischen und beruflichen Konsequenzen aus Johanns journalistischen Tätigkeiten zu entgehen, fährt das Paar Johann und Lucia in ihr Urlaubshaus auf einer Hallig. Die politischen Verhältnisse in Deutschland haben sich geändert, zum negativen nationalistischen. Johann wurde mit einem Veröffentlichungsverbot bestraft. Das Haus soll den beiden den nötigen Schutz vor weiterer Verfolgung durch staatliche Institutionen und etwas Entspannung bieten. Doch während ihrer Zeit auf der Insel müssen sie erkennen, dass das technisch hochaufgerüstete Haus nicht zu ihrem Schutz agiert. Das überspitzte Szenario lässt die Leserin etwas kritischer über die zeitsparenden und unterhaltenden Möglichkeiten von Smart Home nachdenken.

Fast alle Geschichten in diesem Band sind Dystopien, sie hinterlassen einen bitteren Beigeschmack, der den eigenen Optimismus für die Zukunft dämpft. In seinem Nachwort schreibt der österreichische Zukunftsforscher Reinhold Popp, dass es einen motivationalen roten Faden der Autor_innen zu geben scheint: In den Texten wird „[…] die große Sehnsucht nach einem mitmenschlichen Zusammenleben und nach sozialem Zusammenhalt deutlich erkennbar.“ Nicht zuletzt machen die hier versammelten Geschichten über den wohl spekulativsten Gegenstand der Literatur, die Zukunft, einmal mehr klar, dass neben all der digitalen Technik das physische und subjektive Erleben und Wahrnehmen des Menschen in seinem Facettenreichtum und seiner Komplexität wohl nicht so leicht zu täuschen oder nachzuahmen ist. Denn: „Was kann nur ein Buch?“

Der Sammelband 2029 – Geschichten von morgen wurde von Stefan Brandt, Christian Granderath und Manfred Hattendorf im Suhrkamp Verlag herausgegeben, enthält elf Erzählungen und hat 541 Seiten.

Beitragsbild: © Suhrkamp Verlag

Grazer Gastritis

Clemens J. Setz kehrt im Erzählband „Der Trost runder Dinge“ mit schrägen Metaphern und Figuren zu seinen literarischen Wurzeln zurück.


Die Erkenntnis, dass wir letzten Endes wenig voneinander wissen und ungesehen vor uns hinvegetieren, ist ja nicht neu. Allein, die Coping-Strategien der Protagonist٭innen aus Clemens Setz’ jüngstem Buch kann man – euphemistisch gesprochen – zumindest als unorthodox ansehen. Der alleinerziehende Familienvater Zweigl zum Beispiel versucht ausgerechnet über seine psychische Erkrankung ein Verhältnis zu seinen Kindern aufzubauen. Er leidet seit seiner Jugend unter Panikattacken und entfremdet sich zusehends von seinen beiden Söhnen, denen er die Angstschübe nicht begreiflich machen kann. Als sein ältester Sohn ähnliche Symptome wie er selbst entwickelt, diese sich aber zum Ende der Geschichte hin allerdings als nicht psychosomatisch, sondern als Folge einer Gastritis herausstellen, ist Zweigl nahezu enttäuscht, dass die aufblühende Beziehung wieder in sich zusammenfällt und er allein und auf sich zurückgeworfen bleibt.

Fast alle Figuren aus der Welt der runden Dinge leiden an der Einsamkeit und der Unmöglichkeit, sich dem Mitmenschen verständlich zu machen. Ihnen widerfahren zum Teil schreckliche Dinge in einer Welt, die genauso schräg und verzerrt zu sein scheint, wie die Metaphern und Vergleiche, mit denen der Erzähler sie beschreibt. Das erzeugt erst einmal Mitgefühl, beispielsweise mit dem Ich-Erzähler aus „OTTER OTTER OTTER“, der recht zurückgezogen vor sich hinlebt und sich hingebungsvoll um seine alte und sich dem Lebensende nähernde Katze kümmert.

Man freut sich über sein Date mit der blinden Kundin Anja aus dem Café, in dem er arbeitet, und über die behutsam gezeichnete und fragile Beziehung, die sich anbahnt. Doch wie in den meisten anderen Erzählungen bricht auch in dieser Geschichte mehr und mehr das Unbehagen in den Alltag ein und das Monströse hält Einzug: Als der Erzähler Anja zum ersten Mal in ihrer Wohnung besucht, findet er alle Räume mit obszönen Schmierereien verunstaltet vor. Ähnlich wie der Erzähler in Stefan Zweigs berühmter „unsichtbarer Sammlung“, dem sein blinder Kunde voller Stolz nur leere Blätter statt seiner längst durch die Kinder verhökerten wertvollen Kunstsammlung vorlegt, scheut auch hier der Ich-Erzähler vor der Wahrheit zu zurück und verstrickt sich darüber hinaus auch noch immer weiter in seine eigene zwanghafte Gedankenwelt.

In nahezu allen Geschichten schafft es Setz grandios, Intimität und Entfremdung, Trauriges und Schönes, Tragisches und Tröstliches miteinander zu verweben. Oft sind es hierbei die synästhetisch und nonverbal wahrgenommenen Dinge, die den Figuren der Geschichten Trost spenden, „überhaupt runde Sachen“, bekennt Zweigl, machen das Leid erträglicher und lindern die Angst. Und so sind es vor allem Dinge, die den Erzählungen ihren Kitt geben und sie miteinander verbinden. Achselhöhlen tauchen oft auf und auffallend oft Katzen. Überhaupt sind es kleine Geschöpfe, denen Setz in seinen zum Teil miniaturhaft kurzen Geschichten geradezu zärtlich Zuneigung angedeihen lässt.

Diese Nähe, die Setz zu den Gestalten erzeugt, steht im krassen Kontrast zu den bizarren Ausgangspunkten der meisten Erzählungen. Annamaria Perchthaler zum Beispiel, Mutter eines Teenagers im Wachkoma, will unbedingt Sex mit einem Callboy im Kinderzimmer haben. „Er bekommt ohnehin nichts mit“, antwortet sie auf die entgeisterte Frage des Callboys, warum sie das denn wolle, und es ist spürbar, welche Antwort sie sich wünscht. „Was? Klar bekommt der was mit!“

Setz zeigt seine Figuren in kuriosen, teilweise erbärmlichen Situationen, doch niemals werden sie zynisch oder würdelos dem Spott preisgegeben. Ihre Innenwelten offenbaren zumeist eine verzerrte Wahrnehmung des Alltäglichen. Dies vermittelt Setz mit der ihm eigenen Sprachwelt, in der seine Figuren Katzen als „kompakt wie Brot“ sehen oder Äpfel essen, die nach Fahrradgeschäft schmecken. Die Unfähigkeit, dieser subjektiv empfundenen Welt auch nach außen hin Ausdruck zu verleihen, lässt die Kommunikation zwangsläufig scheitern und führt die Protagonist٭innen in tiefe moralische Abgründe. Bei allem Wahnwitz macht sich Setz nie über seine Geschöpfe lustig, sondern zeichnet sie so einfühlsam, dass man dann am Ende doch mit ihnen ob ihrer scheiternden Kommunikation nicht nur Mitleid empfindet, sondern auch selbst gewahr wird, wie die Realität des jeweils anderen von der eigenen Wahrnehmung der Welt abweichen kann. So verstörend diese Erkenntnis ist, scheint dies jedoch ein allzu menschliches Problem zu sein. Und das wiederum ist doch wahrlich tröstend.

Der Trost runter Dinge von Clemens J. Setz erschien am 11. Februar im Suhrkamp Verlag und hat 320 Seiten.

Beitragsbild: © Suhrkamp Verlag